Kippenberger in Mitte

2008:Jul // Barbara Buchmaier / Philipp Selzer

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07-2008






Die ortlose Erinnerung, ein Migrant des Geistes, bewegt sich zwischen Menschen, zwischen ihrem persönlichen Erleben einer gekannten Person und gelangt vielleicht genau dort, wo diese wie ein Parasit in einem Wirt weiterlebt, verleumdet oder romantisiert wird, zu ihrer Wirkungsmacht, indem sie zu Geschichte wird. Martin Kippenberger ist eine solche Person. Ein Künstler, der wie ein Prototyp für die postmoderne Künstlergeneration steht, der nicht nur an die Wände, sondern vor allem in die Regale wollte – K wie Kippenberger sollte R wie Roth übertreffen. Kippenberger hat keine Bezugs­größe ignoriert, so vernachlässigbar sie auch sein mochte – das „Über“ war Prinzip der Vollständigkeit, als Selbstbehauptung und Legitimation. Die Aufführung der Persona „Kippenberger“ ist dabei vielen in Erinnerung geblieben.

Die große Performance begann um 1976 in Berlin, an Orten wie dem SO36, dem Exil am Paul-Lincke-Ufer oder in der Paris Bar und verlagerte sich dann nach Köln, Los Angeles und Wien, um 1997 im österreichischen Burgenland zu enden. Berlin aber hat Kippenberger nie zu würdigen verstanden: vor den Jahren von Berlin-Mitte kulminierte eine Ausstellung 1994 im Kunstverein Potsdam in einer Generalabrechnung mit Kippenberger und Köln und schmiedete die Identität der neunziger Jahre, für welche Berlin nun tonangebend wurde.  

Heute möchte man mit mehr Gelassenheit rechnen, und vielleicht nur noch den Erinnerungen, aber nicht mehr dem Diskurs folgen. In Berlins gefühlter Mitte, Münzstraße, Ecke Alte / Neue Schönhauser Straße, trifft man auf emigrierte Kippenberger-Erinnerungen, in Gestalt von Herrn Rensen aus dem Münzsalon, Figuren aus dem Modebiz wie Claudia Skoda, Andreas und Kostas Murkudis, oder in den Läden von American Apparel und Pro qm, die sich, wenn man als historische Vergleichsgröße das Kölner Bermuda­dreieck – das alte Revier zwischen den Galerien Michael Werner und Max Hetzler, der Buchhandlung Walther König und dem Café Broadway, bemühen möchte – in dessen Berlin Version niedergelassen haben.  

Sich selbst überholende Erinnerungen – Köln-Berlin
Ja, diese Themen machen uns immer wieder an: die siebziger, achtziger Jahre, Berlin, Köln, die mutmaßlichen Differenzen und Bewegungen zwischen unseren deutschen Kunstkapitalen. Wir, das fiktive kollektive WIR der Kunstkritiker, sind nachdenklich, neugierig, und manchmal voller Fantasie. „Was, Jonathan Meese ist tot?“. „Nein, war nur ein Scherz, der lebt noch.“ Wir sind in Berlin, im Mai 2008, Galerien wurden zu Kunsthallen, der Westen ist wieder in, gestern war Gallery Weekend und Morgen ist ABC.

Amüsiert irritiert erkennen wir gerade jetzt, in dieser uns bereits als ziemlich atemlos erscheinenden Situation, die Vorzeichen für einen erneuten Kickoff. Die Karten werden neu gemischt, möchte man vermuten, wenn nach längerem Vorspiel nun auch Rest-Köln nach Berlin zieht und sich die Frage nach alten Differenzen neu stellt. In diesem Moment treffen unsere Recherchen um Kippenbergers Weiterleben in Berlins Mitte auf konkrete Ereignisse, die erneut Kunstgeschichte bilden. Gerade waren wir dabei, emigrierte Kippenberger-Erinnerungen zu finden – und gleichzeitig werden diese jetzt von sich selbst überholt.

Role-model Kippenberger

Die konstante, unerklärte und ikonenhafte Präsenz von Martin Kippenberger mitten in Berlin, im Schaufenster von American Apparel, der amerikanischen Textilkette in der Münzstraße, die mit einer sweatshopfreien, vertikal-integrativen und gleichzeitig hochgradig sexualisierten Firmenphilosophie wirbt und zusammen mit den Boutiquenachbarn maßgeblich dafür sorgte, die vorher mausgraue Gegend in einen verbindlichen Parcours für den metrosexuellen Mitte-Stil zu verwandeln, erscheint aus aktueller Perspektive wie ein Vorzeichen für eine ganze Kette von Events. Zack, zack, zack, sie kamen und sie kommen jetzt: ab Juni 350 m2 Buchhandlung und zukünftige Zentrale von Walther König, Kippenbergers Verleger, in der Burgstraße 27 hinterm Hackeschen Markt; Gisela Capitain mit Kippenberger-Estate ab Oktober in der Karl-Marx-Allee 45; Texte zur Kunst schon nebenan am Strausberger Platz. Vielleicht sollte man der Vollständigkeit halber auch noch Hetzler, Nagel, Werner, Buchholz und Sprüth nennen. Auch sie kommen, kamen: als erster, 1995, Max Hetzler, Kippenbergers Galerist, der sich just zum Umzug von Kippenberger und mit ihm von Köln verabschiedete.

Kippenberger: „Jung sein, dabei sein“ –  über Kreuzberg nach Mitte
Doch zurück. Was war los, als Kippenberger 1976 in Westberlin eintraf, auf Einladung von Modemacherin Claudia Skoda? Und als er von 1978–1980 gleichzeitig das SO36 managte und zusammen mit Gisela Capitain – damals noch Grundschullehrerin – das Büro Kippenberger am Segitzdamm betrieb?

Als idyllisches, subventioniertes Biotop, ohne Sperrstunde und Wehrdienst, ist Westberlin vielen in Erinnerung, gleichermaßen als Stadt der Sackgassen, voller Brücken ins Nichts. „Es gab noch kein Aids, es gab kein Morgen. Nur die Nacht, die man sich in Kreuzberg für acht Mark um die Ohren hauen konnte“ beschreibt Bruno Brunnet – damals Kellner, heute Galerist. Die Szene boomte in Kreuzberg und Charlottenburg, im Exil, im Einstein und Axbax, der Paris Bar und der Disko Dschungel. „In Kreuzberg schlug der Pulsschlag der Nation“, berichtetet Herr Rensen, heute „Gastgeber“ im Münzsalon in Mitte. Von 1984–1989 war er Kellner im Exil, der vom Wiener Aktionisten Oswald Wiener und Kippenberger-Vertrautem Michel Würthle etablierten Kreuzberger Lokalität am Paul-Lincke-Ufer 44a, die laut Herrn Rensen, weiße Tischdecken in Kreuzberg einführte und mit Dieter Roth-Tapete sowie einem Deckengemälde von Günter Brus ausgestaltet war. Gegründet 1972, galt das Exil als Wohnzimmer der Berliner Künstler und als Anlaufpunkt für den kreativ-intellektuellen Jet-Set aus aller Welt – ein holzgetäfeltes Lokal mit bourgeois-verqualmten Ambiente, exquisiten Biersorten, echtem Espresso und dazu Stammgästen wie Otto Sander, Otto Schily, Wim Wenders oder Familie Bastian. Genau dort hat Rensen, heute Mitte vierzig und charmanter denn je, auch 1986 Martin Kippenberger kennen gelernt. „Die Zeit war anders, nicht so oberflächlich. Man hat mehr ins Herz reingekuckt, ist liebenswerter miteinander umgegangen“, resümiert Rensen heute.

Kippenberger: Never under-dressed
Auch die damals zur Avantgarde zählende Modemacherin Claudia Skoda, die Kippenberger 1975 beim Sonnenbaden auf Ibiza traf, führt heute, nachdem sie in den Neunzigern eine Boutique in New York hatte, ihr Geschäft in Mitte, Alte Schönhauser Straße 35. Unter anderem auf ihre Einladung in die Kreuzberger Kunst-Community Fabrikneu in der Zossener Straße 56–58 – ein Ort, den man mit Warhols Factory verglich – zog es Kippenberger in die Berliner Subkultur. Skoda, bekannt für ihre Kooperationen mit Künstlern, hat Kippenberger als „den Mann mit der Zigarette und dem Bacardi-Cola in der Hand“ in Erinnerung. 1976 bot sie dem damals noch Unbekannten eine Bühne, die er prompt betrat. Heute berichtet ein Ausstellungskatalog über diese Zeit: Kippenberger, später gern auch Spiderman genannt, filmte in Skodas Betrieb die Produktion ihrer großmaschigen Strickkollektionen und die Modeschauen, auf denen sich das Who’s Who der Szene traf. Aus 1 300 im „Intimleben der Fam. Skoda und Bekanntenkreis“ geknipsten Fotos, installierte er schließlich mit einer etwa 4 x 12 m messenden Bodencollage den neuen Laufsteg für Skodas „Schick in Strick“.

Weniger visuell sind die Verbindungen zum in subtileren Segmenten der Textilbranche agierenden Einzelhändler Andreas Murkudis (Münzstraße 21–23) und zu dessen Bruder Kostas. Nach dem Kunstgeschichtsstudium arbeitete Andreas Murkudis als Geschäftsführer des Berliner „Museum der Dinge“, und Bruder Kostas lernte von 1985–92 bei Helmut Lang in Wien. Ja, hier muss man erst hinter ein paar Kleiderständer blicken, um Kippenbergers Spur zu finden und das Kettenglied heißt Helmut Lang: „Mitte der neunziger Jahre prägte mich der Maler Martin Kippenberger mit seinen Provokationen, ein exzentrischer, aber liebenswerter Alkoholiker“, so Lang in einem Interview, „Die Zeit“ 2007). Die österreichische Fotografin Elfie Semotan, die Kippenberger 1996 heiratete, war interessanterweise bereits seit 1986 für die Werbekampagnen von Helmut Lang zuständig und Lang schneiderte auch die Garderobe für das Hochzeitspaar. Doch „leider“, wie beide Murkudis von sich aus sagen, hätten sie Kippenberger nie persönlich kennengelernt.  

Bei Pro qm gleich um die Ecke, gehört Kippenberger heute zum Standardangebot. Zwölf seiner ursprünglich über 150 Titel hat die Buchhandlung im Regal. Auf die Frage, wer denn zu den typischen Kippenberger-Kunden zählen würde, nennt Katja Reichard, Mitbegründerin von Pro qm, vor allem die männliche Possie um Texte zur Kunst. Als das Gespräch dann auf die bevorstehende Eröffnung der Walther König-Zentrale in der benachbarten Burgstraße kommt und der Begriff des Kölner Bermudadreicks fällt, winkt Reichard ab. Berlin sei zu offen und zu international. Zustände wie damals in Köln gäbe es hier nicht und seien nicht zu erwarten, meint sie. Wie sich jedoch die verstärkte Präsenz von Walther König auf den eigenen Laden auswirken wird, das ließe sich – verständlicherweise – momentan noch nicht sagen.  

In ist, wer drin ist

Aus aktueller Sicht lassen sich ganz unterschiedliche Szenarien entwerfen für ein neues Berlin-Köln-Generationenhaus, das mehr werden kann, als eine bloße Akkumulation der Achtziger und Neunziger Jahre, die ihre Matadoren entweder von den Lehrstühlen oder bereits aus den unteren Klassen in die Arena des Kunstbetriebs schicktes. Es scheint, als würden sich zwei Bonmots von Kippenberger nach wie vor behaupten: „Nicht alt sei es, nicht neu sei es, gut sei es“ gibt die ungefähre Richtung vor, der wir mit der Geschwindigkeit von „Heute denken, morgen fertig“ nur zu gerne folgen. Wie war das noch gleich? Die Vergangenheit gleich unsere Gegenwart?
Berlin (© Foto: Barbara Buchmaier)
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