Alice im Faktenland

Alice Creischer bei KOW

2012:Aug // Volkmar Hilbig

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08-2012

















„Der große Leviathan“, schreibt Thomas Hobbes, „(so nennen wir den Staat) ist ein Kunstwerk oder künstlicher Mensch, ob gleich an Umfang und Kraft weit größer als der natürliche Mensch, welcher dadurch geschützt und glücklich gemacht werden soll.“ Arno Schmidt dagegen meint: „Um das Wesen des besagten Dämons zu beurteilen, müssen wir uns außer uns und in uns umsehen. Wir selbst sind ja ein Teil von ihm …“
An solche Petitessen denkt man, wenn man bei KOW, dieser erst kürzlich wieder von der taz als „linke“ Galerie bezeichneten Einrichtung, für deren strikt anti-klerikale Sonntagsöffnungszeiten man sehr dankbar ist, Alice Creischers „Etablissement der Tatsachen“ betrachtet. Und da spielt es kognitiv auch eine Rolle, dass man am Vortag vielleicht etwas zu lange Bazon Brock zugehört hat; mit seinen Ausführungen zur Freiheit von Kunst und Wissenschaft im allgemeinen und zu den Fällen Balkenhol und Schneider in Kassel im besonderen. Wenn Brock sagt, dass es „ein historischer Moment sei (…), wenn die Freiheit der Kunst von der Kirche verteidigt würde“ und andererseits Alice Creischer darüber philosophiert, „warum und wo genau“ man bei Michel Foucaults Vorlesungen zur „Verteidigung der Gesellschaft“ nicht mehr weiterlesen sollte, so stellt sich die Frage, ob wir gerade einen Paradigmenwechsel beobachten können.

Die Ausstellung von Alice Creischer bei KOW, um die es hier ja gehen soll, beginnt mit, nun ja, Illustrationen zu Robert Boyles berühmten Experimenten zum Nachweis eines luftleeren Raumes in den 1660er-Jahren. Aufbauend auf die Versuche Otto von Guerickes mit den Magdeburger Halbkugeln konnte es sich der schwerreiche Boyle finanziell leisten, eine Apparatur zur Erzeugung des Vakuums mit kugelförmigen Glasgefäßen technisch derart zu vervollkommnen, dass man allerlei Getier darin ersticken lassen konnte. Für den Staatstheoretiker Thomas Hobbes dagegen waren experimentell gewonnene Erkenntnisse nicht nur wertlos, sondern auch Macht zersetzend; für ihn galt nur, was auf Grundlage der reinen, oder besser instrumentellen Vernunft erklärbar war und der höchsten Autorität im Staat, dem Souverän diente. Dementsprechend wetterte er gegen die „Machina Boyleana“ und bestritt, dass man mithilfe einer derartigen Privataudienz bei der Natur die wahrhaft philosophische Methode der Wahrheitsfindung erschüttern könne. Hierbei ging es um viel mehr als einen Privatkleinkrieg; es ging in diesem weltanschaulichen Streit darum, ob sich die wissenschaftliche Erkenntnis der politischen Macht unterwirft – oder ob, wie Hobbes befürchtet, die Anarchie siegt.

Alice Creischer thematisiert nun einerseits diese, je nach Sichtweise, historische Kuriosität oder philosophische Grundfrage. Andererseits zeigt sie die „Macht der Tatsachen“ als ein mittlerweile fest etabliertes Regime, das sich seine eigenen Machtstrukturen gebaut hat.
Zentrum des oberen Raumes bei KOW ist der Nachbau von Boyles Vakuumpumpe mit den angesagten postironischen Mitteln der Installationskunst, deren Materialien die Arte povera in die Billigmarkt-Ära transferieren. Dem Besucher scheint es frei zu stehen, diesen explizit an Gedärm und Blase erinnernden Apparat mit den vorrätigen Trinkröhrchen eigenmündig zu vakuumisieren. Solche absurden Szenerien sind ja irgendwie typisch für Alice Creischer, und wenn man einmal bereit ist, das zu goutieren, dann kann einen die akribisch-lässige Ausführung des Einfalls auch schnell faszinieren. Um diese Installation herum versammelt Creischer im luftigen Saal mancherlei Bilder, Collagen und von der Decke hängende Papierstreifen; man erkennt aufgetürmte Wolken, in einer großen Collage erinnern die filigranen Details an Arbeiten Cy Twomblys, und aus dem Ausstellungsinformationsblatt erfährt man, dass die chiffrierten Informationen Stammbäume, wissenschaftliche Klassifizierungen und genetische Codes von zig Labormausgenerationen enthalten. Vielleicht wird hier das Aussagen-Angebot der Exposition etwas überstrapaziert, indem nun auch noch die ethische Dimension des Wissensgewinns durch Tierversuche eingebracht wird. Aber alles ist wirkungsvoll arrangiert, mal sind die enigmatischen Fotos und Gemälde dicht gehängt, mal bleibt rein räumlich viel Platz, der dann noematisch gefüllt werden kann und soll. Keine Frage, man hat in diesen Räumen schon Ausstellungen gesehen, bei denen die Vorzüge der KOW-Architektur für genau dieses jeweilige Ereignis nur verbal behauptet und nicht praktisch bewiesen wurden; diesmal ist die Installation passgenau. Diese merkwürdige Vakuumapparatur lässt sich, von der Eingangs- und Büroetage aus, in Draufsicht aus größerem Abstand betrachten, man kann aber auch unmittelbar herantreten und sich fast als Teil dieser Installation fühlen: „… außer uns und in uns …“ sowohl der Leviathan- Staat als auch die Para-Autorität Wissensbesitz.

Im Kellergeschoss geht es dann unmissverständlich um Wissensaneignung. An die Wand tapezierte Textfragmente, die verschlüsselte Gedichte wiedergeben, und ein hübsch anzusehender Paravent, der die gefühlt zweimillionste Variante der „Heiligen Drei Affen“ zeigt, führen zu einem Arbeitstisch. Auf diesem Herzstück der Ausstellung findet man drei Hefte mit dem Manuskript eines von Creischer verfassten absurden Theaterstücks zu Boyles Experiment, und ein viertes Heft mit dem bereits erwähnten unvollständigen Text von Michel Foucaults Vorlesung vom 21. Januar 1976. Diese wie die gesamte Ausstellung mit „Das Etablissement der Tatsachen“ benannten Hefte – der Titel funktioniert als gewollte Verzerrung des Mottos der frühen empirischen Wissenschaften, des „Establishment of Matters of Fact“ – bestechen durch grandios ausgewählte Titelbilder. Es beginnt mit einer Reproduktion von Joseph Wright of Derbys berühmtem Ölgemälde „Das Experiment mit dem Vogel in der Luftpumpe“ von 1767, welches sich auf Boyles Experiment bezieht; über Raffaels „Schule von Athen“ und eine, mittelalterlich wirkende, aber aus der Zeit der Aufklärung stammende Höllendarstellung werden wir zu einer etruskischen Vasenmalerei mit Herakles’ Kampf mit der Hydra geführt. Genau dieses Motiv ist das Cover des Heftes mit dem subjektiv abgeschnittenen Text von Foucault. Der eigentlich wichtige Fußnotenapparat voller wissenschaftlicher Zitate kann in diesen Heften wiederum nur mit Hilfe der bereitliegenden Spiegel gelesen werden und so erfährt man dann beispielsweise, dass die nachwachsenden Köpfe der Hydra schon seit dem 17. Jahrhundert als Symbol für die „Kommenden Aufstände“ gelten.

Wissensaneignung ist also kein Selbstläufer, die unüberschaubare Quantität an Wissen ist nicht problemlos abrufbar, und Mühe macht das Sammeln wichtiger und richtiger Informationen ohnehin; das ist die Aussage dieser Installation. Die uns zur Verfügung stehende Nachrichtenfülle würde uns überfordern, wenn sie uns ungewichtet gegenüber stünde; aber 
die uns erreichende, gefilterte, geranglistete, beschnittene und häufig auch manipulierte Form der Wahrheit macht uns zum Spielball eines leviathanischen Monstrums mit der Allmacht der Wissensverbreitungskontrolle. Ein labyrinthisch verästeltes Regime an Deutungshoheitsbesitzern hat längst eine willfährige Mehrheit im Takt der Schlagzeilenweisheiten indoktriniert und der Einzelne muss schon eine Menge Kraft investieren, um sich seine Wahrheit zu suchen. Die altmodisch-nostalgische Rückbesinnung auf den großen Arbeitstisch mit den echten Papierheften, die man richtig in die Hand nehmen, die man richtig bearbeiten muss, um zu Erkenntnissen zu gelangen, ist eine schöne Metapher auf die Eigenverantwortung jedes Menschen bei der Auswahl seiner Informationsquellen. Diese Ausstellung ist politische Kunst as its best.      

Alice Creischer „Das Etablissement der Tatsachen / The Establishment of Matters of Fact“, kow, Brunnenstraße 9, 10119 Berlin,
27.04.–22.07.2012

Alice Creischer „Das Etablissement der Tatsachen / The Establishment of Matters of Fact“, Ausstellungsansichten, 
Courtesy kow (© Foto: Volkmar Hilbig)
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