Holocaust und Copyright

Siebzig Jahre später

2012:Apr // Johannes Wilms

Startseite > Archiv > 04-2012 > Holocaust und Copyright

04-2012
















Ende Oktober 1944
„Mit Dessau, Eislers zu Dinner bei Schönberg. Der erstaunlich temperamentvolle, gandhigleiche Schönberg in seiner blauen kalifornischen Seidenjacke, ein Gemisch von Genie und Verdrehtheit. So beschwert er sich sich über die Kürze der Schutzfrist geistiger Werke. ‚Mein Junge wird, wenn er 45 Jahre alt ist, nicht mehr einen Cent bekommen‘, sagt er, als spreche er über eine Ungeheuerlichkeit.“
(gemäß Paragraph 63 abs. 1 UrhG ist dies ein Zitat von: Bertolt Brecht, Arbeitsjournal, 1942 bis 1955, Frankfurt/M 1973, S. 441; „Copyright Stefan S. Brecht 1973“, ebda., S. 332)
 
1944. Schönberg, Eisler, Dessau und Brecht hatten sich vor dem Vernichtungskrieg der Nazis in die USA retten können; Friedrich Adler, Bruno Schulz, Jakob van Hoddis und Walter Serner – vier Namen, vier Beispiele – nicht. Adler, wie das Art Deco fast vergessen, Auschwitz; Schulz, dessen Arbeiten in der polnischen Literatur drumetenrot leuchten, abgeknallt; van Hoddis, ohne dessen „Weltende“ keine auch noch so kurze Geschichte der deutschsprachigen Literatur ihren Namen wert wäre, Gaswagen; und Walter Serner, der (Co-)Autor des Dada-Manifests, dessen Spur sich im Sommer 1942 in Minsk verliert.

1942 ist das Jahr des geheimen Treffens hoher Funktionäre der SS, die am 20. Januar, einem Freitag, bevor sie ins Wochenende gingen, bei Kaffee, Kuchen und Kognak in einer Villa am Wannsee beschlossen, was sie im Geheimen die „Endlösung der Judenfrage“ nannten, und was Nachgeborene als Zivilisationsbruch begreifen, als Verbrechen an der Menschheit.

Ob Angehörige Serners den Völkermord überlebt haben, ist nicht bekannt, wohl aber gibt es Rechte und Ansprüche an der Nutzung von Walter Serners Texten. 1980 hatte Thomas Milch nach Jahren der Recherche beim kleinen Münchener „Klaus G. Renner Verlag“ Serners „Gesammelte Werke“ herausgegeben; 1984 erschien eine 10-bändige Taschenbuchausgabe bei Goldmann, übrigens einem Unternehmen der Bertelsmann Gruppe.

Gut ein Jahrzehnt später, 1996 – mit dem 27. Januar ist in Deutschland ein „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“ proklamiert – sind Serner-Werke erneut vergriffen und der Informatikstudent Thomas Goldstraß stellt auf einem Server der Humboldt-Universität zu Berlin „Le Docteur Serner“ ins Netz – gleich ums Eck der Dorotheenstraße, in der 1913 Serners Doktorarbeit gedruckt worden war.

„Le Docteur Serner” ist zunächst nur als Programmierübung gedacht – die Frames sind so nicht fürchterlich komisch, ihre Linkarchitektur erschiene uns heute unlogisch – aber was Goldstraß als Hommage angelegt hat, macht der Öffentlichkeit Texte Serners wieder zugänglich, die auch antiquarisch kaum zu beschaffen sind.

Doch ist Serner für das Internet noch nicht lange genug tot. Erst siebzig Jahre nach dem Tod eines Autors oder einer Autorin erlischt das Urheberrecht an deren Werken. Und so macht der Goldmann Verlag sein Recht auf künstliche Verknappung geltend und mahnt Goldstraß ab; der „Docteur“ muss aus dem Netz verschwinden. (mittlerweile unterhält Goldstraß auf Facebook die Seite http://de-de.facebook.com/pages/Walter-Serner/56221663115; tatsächlich „liken“ 34 Personen diesen fast humoristischen Auftritt)

Inzwischen hat sich der Tag der „Wannseekonferenz“, der 20. Januar 1942, zum 70. Mal gejährt. Die Morde an Jakob van Hoddis, Friedrich Adler, Walter Serner und Bruno Schulz – vier Namen, vier Beispiele – werden sich ebenfalls zum 70. Mal jähren. Ihre zu „Werken“ „ontologisierten“ (Walter Benjamin) Artefakte werden gemeinfrei. Und die Feuilletons werden all dessen insofern gedenken, als sie ihre Toten nun einmal nach dem Kalender feiern. Wie bürokratisch dieser bizarre Totenkult ist, und wie bizarr die Bürokratie der toten Dichter im Urheberrecht – davon werden sie schweigen.
 
Friedrich Adler: Bebritschale, um 1935 (© Kay Meiners)
Microtime für Seitenaufbau: 1.27965784073