Tagebuch aus dem Berliner Winter

2012:Apr // Einer von hundert

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04-2012


13. Januar, Galerie Johann König
Michael Sailstorfer. Ziemlich voll für eine Eröffnung im Berliner Winter, wie ich finde. Sehr viel dunkle Anzüge und relativ teure Mäntel und Taschen. Darunter lediglich ein paar eingesprengselte Jüngere. Sehr etabliert alles. Autolenkräder an den Wänden, die imaginäre Strecken fahren. Dazu sandige und steinige Materialskulpturen von Sailstorfer senior. Ein recht gehaltvoller Auftritt.

18. Januar, morgens im Büro
Eben kommt eine Stellenausschreibung rein, vielleicht doch was Festes? Das freie Dasein reibt irgendwie auf. Ein Künstler sucht einen persönlichen Assistenten. „Die Position beinhaltet die Atelierleitung, Recherche und Entwicklung und Produktionsbetreuung von z.T. sehr technisch komplexen Skulpturen und Installationen. Dazu kommen praktische bildhauerische und handwerkliche Arbeiten. Die Stelle fordert neben organisatorischen Talenten, Fähigkeiten in möglichst vielen konkreten künstlerischen Bereichen wie: Fotografie, Graphikdesign, Modellbau, Entwurfszeichnung, Modellieren, Abformtechnik, Schweißen, Zimmern, Airbrush etc.
Ebenso beinhaltet sie die Bereiche der Kommunikation, Archivierung und Buchhaltung. Eine Universalstelle, die Identifikation und Leidenschaft benötigt.
Weitere Voraussetzungen sind: fließendes Englisch und Deutsch, bereits ausreichend vorhandene praktische Erfahrungen in der künstlerischen Assistenz, und/oder aus Tätigkeiten im Galerien und Museumskontext. Es werden die üblichen Computerkenntnisse in Photoshop, Indesign und Excel benötigt. 1200 € netto/Monat, auf Honorarbasis, Vollzeit.“
Heyho, da sucht jemand eine eierlegende Wollmilchsau. Ok, in Excel und Airbrush müsste ich mich noch einarbeiten und abgeformt habe ich zum letzten Mal vor fünfzehn Jahren, aber für 7 Euro 50 die Stunde, netto, das heißt exklusive Mehrwertsteuer?

22. Januar, zu Hause
Ich bin jetzt Anhänger der Positiven Psychologie und werde deswegen nie wieder einen Verriss schreiben. Ich mag alle und finde nur noch die lobendsten Worte über jeden. Ich weiß gar nicht, warum ich erst jetzt auf den Trichter komme.

22. Januar, noch später zu Hause, eigentlich drei Uhr nachts
Dumm ist nur, dass es nicht so viele Alternativen gibt. Vorwärts gehen und einen Gedichtband veröffentlichen wäre eine davon. Oder supernatural durch die Geistesgegenwart und durch alle Wände laufen. Mir wär’s gleich. Hauptsache ich kann danach noch deutlich mit mir umgehen, um mir die 50 nicht zu versauen.

13. Februar, Mathew, Wilmersdorf
… also dann bin ich doch mal hingegangen. Der ganze Rummel, der Hype drum herum hatte mich erst abgeschreckt, genervt. Aber schließlich muss man ja wissen, worüber man spricht. Und die Gegend dort ist ja selbst schon einen Spaziergang wert. Da kann man immer noch neue Eindrücke von Berlin bekommen, z.B. das beeindruckende Gebäude der UDK (Musik) in der Bundesallee. Mathew findet man in einer Ladenzeile aus den Fünfzigern oder Sechzigern, gekennzeichnet durch sehr große Schaufenster, nebenan findet man z.B. einen relativ unauffälligen Friseur mit aber erstaunlich hohen Preisen und dann die Bar, das „Harlekin“, eine etwas abgesumpft, aber kurios wirkende Bierkneipe, wo man sich das Bier holt, wenn bei MATHEW Eröffnung ist, wie ich später erfahre. Ein paar Häuser weiter sitzt Ursula Block mit Ihrer „Gelben Musik“, zu Daniel Buchholz sind es nur ein paar hundert Meter. Schon von weitem sehe ich David Lieske im Schaufenster sitzen und als ich seine Galerie betrete, bin ich doch irgendwie positiv überrascht. Die Dimensionen sind menschlich, überschaubar, alles wirkt weniger prätentiös, als ich es mir ausgemalt habe. Aber es ist eben auch ein ganz normaler Nachmittag – quasi Galeriealltag. Eine Eröffnung habe ich dort noch nicht miterlebt.
Lieske erzählt mir dann jede Menge über das Programm von Mathew und seine ersten Erfahrungen als Betreiber einer Galerie, die er zusammen mit Peter Kersten führt. Beide sind  sie ja die Gründer des Labels Dial Records und verdienen, laut Lieske, ihr Geld bis heute hauptsächlich durchs „Auflegen“. In Galerien gearbeitet haben beide noch nicht.
Die Idee, eine Galerie zu eröffnen, und dort die Arbeiten von Freunden auszustellen, „die in Berlin, worum auch immer, keine Galerie haben“, ließ sich, so Lieske, auch deshalb realisieren, weil die Miete für die Räume sehr günstig ist. Die Räume wurden übrigens von einem der Galerie-Künstler entdeckt, der in der Nähe wohnt, und standen vorher mehrere Jahre leer. Die Wahl für den Standort fiel also mehr zufällig als geplant.
Auf meine Frage, wie es wohl so rasend schnell ging, dass MATHEW im Index gelistet ist, meinte Lieske etwas verwundert nur, er hätte sich da einfach angemeldet und dann war er drin. Sowas gibt es also auch.

10. März, Kuckei + Kuckei
Nikola Röthemeyer. Mit die feinsten Linien, die ich jemals gesehen habe. Fineliner ist da als Bezeichnung ein geradezu obszön grober Begriff.

18. März, im Netz
Nur gehört habe ich davon, aus verschiedenen Ecken, aber inzwischen habe ich auch im Netz mal recherchiert: die C-A-N-V-A-S-, Uhutrust-, Jerry-Magoo- und die guardian.co.uk-Paintings von Michael Krebber. Da hat der seit geraumer Zeit wohl gerade betreffs seiner Idiosynkrasien viel-zitierte Skeptik-Künstler und Städel-Prof. also für eine Galerieausstellung bei Carol Greene in New York unter anderem tatsächlich von ehemaligen Studenten „abgeschrieben“, in dem er Text- und Bildausschnitte von deren anonymen Blogs C-A-N-V-A-S und Jerry Magoo mit dem Pinsel auf weißgrundige Leinwände übertragen hat. Der Meister dreht also den Spieß um, zitiert wortwörtlich die Meinungsmache seiner einstigen „Schüler“ und bringt sich unter anderem auf diesem Weg wieder selbst ins Gespräch und vor allem ins Geschäft (angeblich kosten die Gemälde je USD 70.000). Soweit ich verstanden habe, waren die Blogger (und wohl teils auch die „Besprochenen“) mit dieser „Taktik“ gar nicht so einverstanden und haben anschließend ihre Websites geschlossen. Aber vielleicht habe ich das ja auch falsch verstanden. Bin nicht sicher, auf welcher Seite ich stehe, wüsste aber gerne mehr darüber. Bin ich auch ein Vampir?

28. März, immer noch im Netz

„Ich bin für Herz-Herz-Herz und nicht für Klick-Klick-Klick“, sagte der erfolgreiche Aufsteiger Carsten Maschmeyer (der aus dem Hannoveraner Sumpf) kürzlich in einem FAZ-Interview. Nach den Wortschöpfungen „guttenbergern“ und „wulffen“ sollte man auch ihm endlich ein Denkmal in der deutschen Sprache setzen: „maschmeyern“ wäre also ein neues Synonym für „netzwerken“. Allerdings sollte das nur derjenige anwenden, dem dabei nicht kotzübel wird.

30. März, 17 Uhr, Manteuffelstraße, neben Leydecke

Zwingergalerie, glückliche Ohnmacht der Malerei, passend zum Titel der Ausstellung verlief auch der Talk: Entspannt, brachte aber auch nichts. Hatte eigentlich auch niemand erwartet, oder? Warum ging nur die Graw so früh?
Verspäteter Einwurf: Schließt die Malerei doch bitte in ihrem Ghetto ein. Eigentlich gibt es doch eine solche Unmenge von malereispezifischen Fragen, die mit dem Rest der Kunst wenig zu tun haben. Mich interessieren zum Beispiel Farbe und Leinwand und Rand und Duktus und Pinsel und Strich und Fläche und das ganze Zeug nur am Rande, vielleicht so wie Kochen oder Fußball. Alle Nichtmaler beschäftigen sich doch mit anderen Problemen.
Michael Krebber „Jerry Magoo Painting 3“, 2011, Courtesy Greene Naftali Gallery, New York (© )
Zeichnung: Andreas Koch (© )
Mathew Galerie, Foto: Barbara Buchmaier (© )
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