Ist Kasimir Malewitschs schwarzes Quadrat der erste Pixel?

2014:Mar // Susanne Gerber

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03-2014














Ist Kasimir Malewitschs schwarzes Quadrat der erste Pixel?

Die Strukturform des Computers, die Welt der Informationstechnologie hat sich wie jede revolutionäre Neuerung mit großen Freiheitsversprechungen etabliert. Dass Informationstechnologie aber nicht nur mehr Zeit, mehr Möglichkeiten, mehr Kommunikation, mehr individuelle Entwicklung und Entfaltung bringt, sondern genau so mehr Möglichkeiten des invasiven Eindringens in Privaträume, mehr Kontrolle, mehr Abhängigkeit, mehr Überwachung ermöglicht, lässt sich mittlerweile klar erkennen. Um den gesellschaftlich-technologischen Raum der digitalen Technologie zu durchdringen und kulturell zu gestalten, brauchen wir Geschichten als historische Deutungszusammenhänge, als Linien und Strukturen, die aus der Vergangenheit in eine verantwortlich gestaltete Zukunft zu führen in der Lage sind. Und deshalb beginne ich auch gleich hier eine Geschichte zu erzählen:
In Gedanken gehe ich einen Weg, der 1913 mit einer ganz unscheinbaren Bleistiftzeichnung in St. Petersburg beginnt und der uns in den letzten hundert Jahren zu einem Zustand geführt hat, den ich als eine weltumspannende Sphäre sich in Bewegung befindlicher, digitaler Bilder, beschreiben möchte. Bilder, die zusammengesetzt sind wie kunstvolle Mosaiken aus kleinen Einheiten, definiert durch Seitenlänge und Farbwert: Pixel. Picture Elements. Elementarteilchen digitaler Bilder.
„Als ich im Jahre 1913 in meinem verzweifelten Bestreben, die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete und ein Bild, das nichts als ein schwarzes Quadrat auf einem weißen Felde darstellte, ausstellte, seufzte die Kritik und mit ihr die Gesellschaft: ‚Alles was wir geliebt haben, ist verloren gegangen: Wir sind in einer Wüste ... Vor uns steht ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund!‘“ schreibt der russische Maler Kasimir Malewitsch 1927 in seinem Buch „Die gegenstandslose Welt“. 1913 war Malewitsch 34 Jahre alt , hatte an der Kunstakademie in Moskau studiert und sich in verschiedenen Kunststilen erprobt und bewiesen. Arbeiten von ihm wurden nicht nur in Russland, sondern auch in der „Armory Show“ 1913 in New York, 1914 im „Salon des Independants“ in Paris gezeigt. Sein Durchbruch zur gegenstandslosen, abstrakten Kunst, das bahnbrechende Ereignis der Kunstgeschichte des Jahrhunderts, ging dann mehr oder weniger unter in Krieg und Revolution.
Werner Haftmann schreibt in seiner Malerei des 20. Jahrhunderts: „Er brachte die Malerei auf den Nullpunkt ... übrig blieb das einfachste geometrische Element ... Es war kein Bild, was Malewitsch gemalt hatte, es war, wie er selber sagte, ‚eher die Erfahrung der reinen Gegenstandslosigkeit‘.“ Aber die Gegenstandslosigkeit hat bei Malewitsch eine Form. Eine geometrische Form. Und es ist explizit nicht irgendein Rechteck. Die Gegenstandslosigkeit hat die Form eine Quadrats. Zunächst 1913 zeichnet er ein schwarzes Quadrat auf weißes Papier, 1915 entstehen das schwarze Quadrat als Ölgemälde und ebenfalls mehrere rote Quadrate. 1918 präsentiert er ein weißes Quadrat auf weißem Grund. Auf die Regelmäßigkeit der Ausführung der gezeichneten und gemalten Quadrate legt Malewitsch wenig Wert, ihm geht es um das Quadrat an sich, die Idee des Quadrates. Das Quadrat ist geometrisch eine sehr einfache, regelmäßige Form, aber vom Standpunkt der Klassifizierung ist es besonders vieldeutig. Es ist der Sonderfall eines Rechteckes und auch der einer Raute. Es kann sowohl als Trapez als auch als Parallelogramm aufgefasst werden und es kann ein spezieller geometrischer Körper, ein Poligon sein und auch ein zweidimensionaler Würfel. Für die Konstruktion eines Quadrats genügt eine Angabe, z. B. die der Länge der Seite oder der Diagonale. Es ist also eine Figur, die bei minimaler Information ein hohes Maß an Deutungsmöglichkeiten, an semantischer Plastizität bietet. Malewitsch entwickelt im Rahmen dessen, was er suprematistische Malerei nennt, einen Kanon von gegenstandslosen Grundformen. Die Ikone jedoch bleibt das Quadrat. Am 19. Dezember 1915 eröffnet Malewitsch in St. Petersburg im Dobychina Kunstbüro am Marsovopol die von ihm konzipierte Ausstellung mit dem Titel „0.10“. Das Schwarze Quadrat hängt in einer Ecke des Raumes, höher als alle anderen Bilder der Ausstellung. Es nimmt damit die Position ein, die in einem traditionellen russischen Haus der religiösen Ikone vorbehalten ist. Nach gängigem Interpretationsansatz wollte der Maler mit dem gegenstandslosen Bild in einem Akt der Profanisierung die Ikone ersetzen. Eine entgegengesetzte Lesart halte ich für angemessen. Malewitsch sieht nämlich im gegenstandslosen Bild die eigentliche Ikone, den rituellen Kultgegenstand per se. „Die Wüste ist erfüllt vom Geiste der gegenstandslosen Empfindung, der alles durchdringt“, schreibt Malewitsch dazu, auch im Buch „Die gegenstandslose Welt“. In der gegenstandslosen Malerei, im Idealfall verkörpert durch das Quadrat, erkennt Malewitsch eine neue Dimension menschlichen Abstraktionsvermögens, eine transzendente Wahrheit. Malewitsch entdeckt – oder man muss eigentlich sagen wiederendeckt – eine Qualität der Kunst, die wohl verloren gegangen war und immer wieder Gefahr läuft, verloren zu gehen. Dass nämlich Bedeutung, Wert und Schönheit eines Kunstwerkes sich nicht ableiten vom Inhalt und von der Qualität der Abbildung, nicht davon, ob es populär ist und gefällt, und nicht aus dem, was Walter Benjamin etwas später als den „Ausstellungswert“ eines Kunstwerkes bezeichnen wird. Sondern, und hier möchte ich gerne Benjamin aus seinem Essay „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ wörtlich zitieren: „Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienste des Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen ... Mit anderen Worten: Der einzigartige Wert des ‚echten‘ Kunstwerkes hat seine Fundierung im Ritual, in dem es seinen originären und ersten Gebrauchswert hatte.“ Malewitsch hat im Quadrat, als der zentralen Chiffre des gegenstandslosen Bildes, einen Schlüssel, einen Code gefunden, der, religiös verwurzelt, weit in die Zukunft weist. In der einfachen, geometrischen Form erkennt er ein adäquates Bild für die Welt. Das heißt, im Jahr 1913 mündet in einer grandiosen Engführung die konsequenteste Form künstlerischer Abstraktion in die Geometrie und die ihr innewohnende Transzendenz.
Natürlich werden nach 1913 weiter Bilder gemalt, die Malerei ist nicht zu Ende, aber sie bedeutet, kunstgeschichtlich gesehen, nicht mehr dasselbe. Das gemalte Bild als Träger einer wie auch immer gearteten Abbildung ist überholt. Die Malerei war zu sich selbst gekommen. Nachdem das Bild nicht mehr zwangsläufig ein Medium der Darstellung von Gegenständen, Landschaften und Personen sein musste, war es frei geworden, etwas Neues zu sein. Es ist natürlich auch kein Zufall, dass mit der Fotografie ein neues, präzises, technisches Medium bereits auf den Plan getreten war, das tradierte Aufgaben der Malerei gut und immer besser übernehmen konnte und ein ganz neues Kapitel der Bildgeschichte beginnen lässt. Es ist, um noch einmal auf Benjamin zu kommen, das Zeitalter der technisch reproduzierbaren Bilder, in anderen Worten, das Zeitalter der Massenmedien, Fotografie und industriellen Druckverfahren. Film und Fernsehen erzeugen und verbreiten eine nie gekannte Bilderflut. Aber noch einmal zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Russland. Malewitschs Ausstellung in St. Petersburg 1915 hatte den Titel „0.10“. Die wahre Bedeutung dieser Bezeichnung bleibt in der Kunstgeschichte immer noch unklar. Null stand wohl für Neubeginn und zehn Künstler wollten ursprünglich an der Ausstellung teilnehmen. Aber auch als bereits klar war, dass 14 Künstler sich beteiligen würden, blieb der Titel „0.10“ unverändert. 010 … lässt sich für uns, Menschen des Computerzeitalters, natürlich leicht ganz anders lesen. Binärcode. Ein Zahlensystem, das nur zwei Ziffern oder zwei Qualitäten benötigt. Eins und Null, Ja und Nein, Schwarz und Weiß. Das Zahlensystem mit dem Computer errechnen und Daten speichern. Die Tatsache, dass Computer heute soviel können, ist der Entwicklung des Binärcodes zu verdanken. Um einen Binärcode zu lesen, braucht man letztendlich eine Maschine, da das menschliche Gehirn nicht in der Lage ist, codierte Zahlen, Texte oder Bilder als solche zu erfassen. Die Übersetzung und Verschlüsselung aller menschlichen Symbole und Symbolsprachen in Binärcode ist das Projekt, an dem wir alle ununterbrochen mitwirken. Es ist ein unaufhaltsamer Prozess der Abstraktion, der Vereinheitlichung, der Komprimierung, der Beschleunigung und der Entfremdung. Die binäre Welt ist eine Welt außerhalb des menschlichen Körpers und seiner Sinne, eine, wenn man so will, gegenstandslose Welt. Doch via Bildschirm, Screen oder Display, der Fläche, die die Form aller Bilder annehmen kann, gibt uns der Computer das errechnete Bild der Welt zurück. Zweidimensional. Rekonstruiert aus Myriaden von kleinsten Einheiten, Pixeln, die wir unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel bei Flüssigkristallbildschirmen, als Quadrate betrachten können. Wer will da nicht hundert Jahre zurück und an Kasimir Malewitsch denken?

Der Text wurde in seiner ersten Formulierung 2013 auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Geometrie und Grafik im Fachbereich Architektur der TU Kaiserslautern von der Künstlerin selbst als Artist Lecture gehalten und in den Tagungsunterlagen veröffentlicht.


„White Triangel 1“, 2004 (© Susanne Gerber)
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