Verbale Beruhigungspillen

2013:Dec // Raimar Stange

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12-2013














Verbale Beruhigungspillen
/ „Aussterben“, „Klimawandel“ und „Jahrhundertflut“

Da liegt das Bild „Baji“, 2010, von Marcel Prüfert vor mir. Mit Biosäften hat der Künstler die vordere Hälfte eines Fisches gemalt, unter diesem steht geschrieben: „Chin. Flussdelfin seit 2006 ausgerottet“. Das letzte Wort vor allem macht die entscheidende Differenz: Prüfert spricht von „Ausrotten“ und eben nicht, wie die durch ihre Abhängigkeit von Reichweite und Anzeigenaufkommen meist gleichgeschalteten Medien, von „Aussterben“. Mit seiner engagierten Wortwahl betont Prüfert den aktiven Vorgang, dem der chinesische Flussdelfin zum Opfer gefallen ist, nämlich die Zerstörung seines Lebensraumes durch das ungehemmte Ableiten von giftigen Industrieabfällen in die Flüsse Chinas. Es ist eben kein über Jahrhunderte quasi natürlich verlaufender Prozess, wenn heute Arten „aussterben“ – jede zweite Tierart ist derzeit gefährdet! –, sondern das Resultat von menschlichem Handeln, dem gezielt die Absicht des Verdrängens zu Grunde liegt. Der französische Philosoph Michel Serres hat es so beschrieben: „Die Verschmutzung geht zwar von den berechenbaren Rückständen der Energieverarbeitung und -umwandlung aus, geht aber ursprünglich auf unseren Willen zur Aneignung zurück, auf unseren Wunsch, den Raum unserer Besitztümer zu erobern und zu vergrößern. Wer Seen von vergifteter Zähflüssigkeit … produziert, stellt sicher, dass niemand an seiner statt … sich diese Orte aneignen wird.“ Und genau diese Absicht der anthropozentrischen Alleinherrschaft wird durch die verharmlosende Vokabel „Aussterben“ bewusst ideologisch verschleiert.
Das absurde Wortpaar „saubere Bombe“, das die menschheitsbedrohende Atombombe „beschreiben“ sollte, nahm der Philosoph und Friedensaktivist Günther Anders in den späten 1950er Jahren zum Anlass, über die ideologische Funktion von Begriffen nachzudenken. Günther Anders definiert solch politische Begriffe als „in Pillenform konzentrierte Aussagen“, die als „Lügen“ ein Problem verharmlosen, daher „ideologischen Charakter“ haben und „abgeschafft werden müssen“. Abgeschafft gehört heute sicherlich auch das Wort „Klimawandel“, das die Klimakatastrophe als relativ normalen Vorgang beschreibt, den es schon einige Male in der Menschheitsgeschichte gegeben hat. Dass dieser sogenannte „Klimawandel“ aber erstmals von Menschen verursacht wird und damit in einer unkontrollierbaren, eben Katastrophen generierenden Geschwindigkeit vor sich geht, dies verschweigt diese Beruhigungspille allerdings konsequent.      
Ähnliches gilt für das Wort „Jahrhundertflut“. Bekanntlich ereignete sich die erste „Jahrhunderflut“ im Jahre 2002, die zweite dann in diesem Jahr. Wie kann das sein: in den ersten dreizehn Jahren, in nicht mal einem Sechstel des Jahrhunderts also, bereits zwei „Jahrhundertfluten“? Diesmal soll die verbale Beruhigungspille suggerieren, solch katastrophale Fluten ereignen sich nur einmal im Jahrhundert – was offensichtlich keineswegs stimmt. Nicht zuletzt auf Grund der Klimakatastrophe gehören solche Naturkatastrophen jetzt nahezu zur Tagesordnung, werden in immer kürzeren Abständen nicht nur den Menschen zu schaffen machen – was selbstverständlich in besagten gleichgeschalteten Medien kaum zu hören ist. In diesen werden stattdessen bis heute immer wieder die Auswirkungen der Klimakatastrophe klein geredet. Da hilft auch wenig, dass Jakob Augstein in der Online-Ausgabe des „Spiegel“ angesichts der diesjährigen Flutkatastrophe schrieb: „Welchen Beweis brauchen die Klimawandelleugner bevor ihnen die Augen aufgehen? Was muss geschehen, damit die Wachstumsprediger dazulernen? Keiner von ihnen wird später sagen können, er habe nichts gewusst.“
Baji, 2010 (© Marcel Prüfert)
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