Bring mich in den Kopf von Heiner Franzen

Heiner Franzen bei heldart

2012:Apr // Kolja Reichert

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04-2012
















Eins der vielen Missverständnisse in der Kafka-Forschung ist ja, Kafka habe „Das Urteil“ in einem Nachtzug geschrieben, während der entsprechende Tagebucheintrag nur besagt, er habe die Erzählung nachts in einem Zug geschrieben, also ohne Pause zu machen. Dass ich meinen Versuch einer Annäherung an die Arbeit Heiner Franzens in einem Zug sitzend beginne, hat vor allem damit zu tun, dass ich selten einen Text in einem Zug runterschreibe und dass mir weiterführende Gedanken weniger dann kommen, wenn ich mich auf sie konzentriere, sondern eher, wenn ich gerade ganz woanders bin, und dafür ist der Zug ideal, weil er ständig woanders ist. Zum Schreiben ziehe ich mich deshalb gerne nach Möglichkeit in einen Zug zurück, so wie Franzen, dessen Zeichnungen oft in einem Zug entstehen, sich seit einiger Zeit zum Zeichnen mit Vorliebe in das Haus zurück zieht, das er in sein Atelier gebaut hat. In dessen weiße Wände und Giebel zeichnet er wie ein Höhlenmaler Geflechte aus Formen und Figuren, die mal Knochen, mal Gesichtern ähneln und sich ausweiten wie Scribbles für Trickfilme oder provisorische Landkarten. Dazwischen kleben verpixelte Details aus Pasolini- oder Kubrickfilmen.

Seit über zwanzig Jahren macht Heiner Franzen Kunst, aber mit der neuen Werkphase, in die er sich seit drei Jahren vortastet, hat er sich noch einmal die Freiheit eines Anfängers zurückerobert. Den ersten Außenauftritt mit Haus hatte er 2010 in John Bocks Installation „FischGrätenMelkStand“ in der Temporären Kunsthalle. Das Haus schwebte, in das Gerüst eingehängt, eineinhalb Meter über dem Boden, man tauchte von unten hinein wie unter eine Taucherglocke und fand dort ein filigranes Zeichengespann, das einen der Besucher wohl derart anregte oder vielleicht mit einem „Das- kann-ich-auch“-Gefühl versah, dass er oder sie es mit dem eigenen Stift fortsetzte. Das war kurz bevor die Installation fotografiert wurde, und so ist die Arbeit jetzt nur zusammen mit dem fremden Eingriff dokumentiert, was aber eigentlich ganz schön ist, weil es zu Franzens prozessualem Werkverständnis passt.
Wollte man Heiner Franzens Zeichenstil erklären, könnte man auf Guston zurückgreifen, mit dessen positivistischer Bildbehandlung Franzen allerdings wenig zu tun hat. Denn seine Arbeit kann man eigentlich nie ganz sehen, sie entzieht sich bereits im Entstehen, und deshalb ist es für mich auch so verdammt schwierig, Heiner Franzen zu verstehen. „In der Kunst immer alles so logisch“, sagt er in einem unserer vielen Gespräche. „Ein Bild ist gleich erklärt und man fragt sich, wie kann das sein.“ Stimmt. Franzens Arbeit ist für mich ein Beispiel für die Schwierigkeit, Kunst mit Text beizukommen. Und weil ein Versuch, seine Arbeit zu fixieren, immer unabgeschlossen bleiben muss, erzähle ich hier die Geschichte einer Sammlung von Fragmenten: Bring mich in den Kopf von Heiner Franzen.

Unterredungen mit Heiner sind Aneinanderreihungen Wittgensteinscher Aspektwechsel und, nun ja, seine Zeichnungen sind es auch: Abstraktionen von Erinnerungsfetzen, archäologische Spuren, Funksignale von früher, die Heiner in ‚peinture automatique‘ auf Papier oder Wand übersetzt. Seine Motive verfolgen ihr Eigenleben wie eine Sammlung von ‚characters‘, sie wiederholen sich über Monate, gehen unter, tauchen Jahre später verändert wieder auf. Franzens Figuren sind zu sehr Zeichen, um auf etwas zu verweisen und zu sehr in Bewegung, um Zeichen zu sein. Wer eine Franzen-Zeichnung kauft, kauft eine vorläufige Nachricht, ein Bruchstück eines großen Kommunikationssystems, das sich nie komplett vermitteln wird, so wenig wie man in den eigenen Kopf blicken kann.
Letzten Herbst hat Heiner Franzen ein Haus in die Galerieräume von Matthias Held gebaut. Zwei stuckierte Altbauräume sind dort durch eine Flügeltür verbunden. In sie hat Franzen sein Haus gleichsam geschoben, so dass der Türrahmen zum Dachbalken wurde. Franzen hat also den Raum umgestülpt, duldsam und unbehaust liegen draußen die leeren Zimmer, während sich im Inneren des Hauses, im Kunstlicht der Neonröhren über Wände und Giebel Franzens Bestiarium austobt, in Graphit und Filzstift und mit Kreppband angehefteten Zetteln. Seit zwanzig Jahren verwendet er ein sachliches, schiefertafelhaftes Grün – „eine Unfarbe“, wie er sagt, die ihm den Weg aus der Zeichnung erlaube, ohne in Malerei zu enden.
Heiner Franzen hat seine Realität in die Realität des Raums getrieben, eine Abstraktion seines Kopfes, und darin stehen wir und Heiner redet, sein Kopf benutzt meinen Kopf, er lädt etwas hoch, ein Backup, das der Objektivierung dient und der Sortierung der eigenen Datenmasse. Deren Inspirationsquellen liegen wenig in der Kunst, häufiger im Film. Eine Ausnahme ist Robert Breer mit seinen hastig sich wandelnden Formen, an deren Rhythmus auch der kurze Zeichentrickfilm erinnert, den Franzen in einer Projektion im Flur zeigt: morphende tintenkleckshafte Formen wie verdrängte Erinnerungen, die kurz vor dem inneren Auge aufflackern.

Die Ausstellung entstand während Franzens Auseinandersetzung mit Heinrich von Kleist, die vom Hörspielautor Paul Plamper angeregt war. Plamper hatte Franzen gebeten, für sein zu erlaufendes Hörspiel an Kleists Todesort am Wannsee eine Karte zu gestalten. Aus der Fläche wuchs die Zeichnung in den Raum. Zur Ausstellungseröffnung las die Schauspielerin Cristin König, wodurch der umgestülpte Raum noch mal von einem akustischen Raum umgestülpt wurde.
So wie das Haus in zwei Hälften geteilt war, teilte Franzen seine Ausstellung auch zeitlich in zwei Hälften. Man versteht seine Arbeit vielleicht besser, wenn man nicht darauf blickt, wie ein Zeichner eine Fläche füllt, sondern wenn man die Schnitte ansieht, die er dabei unternimmt. Und wenn man nicht auf das einzelne Bild blickt, sondern auf den Prozess, der sich über Jahre entfaltet. Eigentlich, so werden wir uns während einer Lesung Lydia Lunchs in den KW einig, sind Heiner Franzens Zeichnungen und Installationen Filme, begehbare Filme. „Und wenn man hinten rausgeht“, sagt Heiner, „ist man schon wieder am Umschneiden.“
Im September nimmt Heiner Franzen an einer Gruppenausstellung in Schloss Moyland teil. Dort steht ihm ein langer Flur zu, ein unmöglicher Raum eigentlich, aus dem Heiner sich auf Franzen-Weise befreit: Er macht ihn noch unmöglicher, indem er von Tür zu Tür einen Tunnel mit Giebeldach baut. „Es ist im Prinzip, als würdest du in deinem Kopf spazieren gehen“, erklärt er. „Du willst wissen, was dahinter liegt, baust aber erstmal etwas, damit du nicht weißt, was dahinter ist.“

Ich glaube, man muss sich Heiner Franzens Kopf denken wie die sich drehende Spiegelmuschel im Inneren eines Leuchtturms, fortwährend um die Ausleuchtung der eigenen Rückseite bemüht, was natürlich nicht klappt, dafür schießen lauter brauchbare Signale nach draußen, die sich allerdings wegen der Umdrehung fortwährend selbst das Wort abschneiden, und wenn sie wieder auftauchen, haben sie ihre Gestalt verändert, auch weil sie ja von anderen sich drehenden Spiegelmuscheln zurückgeworfen werden. Ja, eigentlich ist Heiner Franzens Kopf vielleicht eher so eine Art Twister, der gegenläufige Drehungen um verschiedene Achsen unternimmt, die wiederum laufend ihre Winkel verändern. Man denke sich jetzt noch die festen Aufhängepunkte weg und die Scharniere und behalte nur die Bewegung im Kopf, ein irrlichterndes Kreisen im Weltall, und dann sieht es vielleicht im eigenen Kopf zumindest für die Dauer einer Viertelumdrehung so aus wie im Kopf von Heiner Franzen.


Heiner Franzen „Schichter/Findling“, heldart, 
Erkelenzdamm 61, 10999 Berlin, 26.10.–24.12.2011

Heiner Franzen „Schichter/Findling“, 2011, Installationsansicht, Courtesy heldart Berlin (© Jan Windszus)
Heiner Franzen „Schichter/Findling“, 2011, Installationsansicht (Detail), Courtesy heldart Berlin (© Jan Windszus)
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