Art Week Berlin

Die Art Week mit Ost-Brille

2023:November // Anna-Lena Wenzel

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11-2023



Es hat sich so ergeben und ist doch kein Zufall: Meine Art Week steht ganz im Stern des Ostens. Ich beginne mit der Eröffnung im KVOST, schaue mir Ausstellungen von Wilhelm Klotzek und Sven Johne an, mache einen Zwischenstopp in den neuen Räumen der nGbK am Alex und interessiere mich in der Ausstellung über die West-Berliner Kunstszene im n.b.k. vornehmlich für die Arbeiten, die einen Bezug zur DDR haben bzw. das Berlin nach dem Mauerfall porträtieren. Am Ende verdichtet sich das Gesehene zu der Frage, wie 33 Jahre nach dem Ende der DDR auf diese geschaut wird und wie sie zum Thema von Ausstellungen und künstlerischen Arbeiten wird. Meine Beobachtung: Der vor einigen Jahren mit Ausstellungen wie … oder kann das weg? Fallstudien zur Nachwende (nGbK, 2021), Aufbrüche. Abbrüche. Umbrüche. Kunst in Ost-Berlin 1985–1995 (Ephraimpalais, 2022), Worin unsere Stärke besteht – Fünfzig Künstlerinnen aus der DDR (Kunstraum Kreuzberg, 2022) begonnene Trend, sich verstärkt der DDR und der Nachwendezeit zuzuwenden und Künstler*innen mit Ost-Sozialisation auszustellen, setzt sich fort; zudem gibt es einen zunehmend wertschätzenden Blick auf Künstler*innen der DDR (exemplarisch zu beobachten bei Ruth Wolf-Rehfeldt).

Der Kunstverein Ost (KVOST) im Erdgeschoss eines Plattenbaus in der Leipziger Straße wurde 2018 gegründet und „widmet sich der Förderung von Künstler*innen, die aus Zentral- und Osteuropa stammen oder deren Lebensweg und Arbeitsweise von der Erfahrung des ehemaligen Ostblocks geprägt wurden“, heißt es auf der Website. In der aktuellen Ausstellung zeigt die Stipendiatin Larisa Sitar – neben einer Serie von Fotos von unfertigen Einfamilienhäusern in Rumänien – Wandinstallationen, bei denen sie sich auf typische Bau- und figurative Wandbildelemente aus dem Osten bezieht. Eine sehenswerte Ausstellung, weil die Arbeiten ostbezogene Assoziationsräume öffnen, aber auch künstlerisch überzeugen.

Die Ausstellung von Sven Johne im Fluentum passt wie die Faust aufs Auge in das ehemalige Hauptquartier der US-Armee in Berlin-Dahlem, wo sich seit 2019 die Privatsammlung von Markus Hannebauer befindet. Im Mittelpunkt steht der eigens für die Ausstellung entstandene Film Das sowjetische Hauptquartier, womit der Sitz des Oberkommandos der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Wünsdorf bei Berlin gemeint ist, das seit Jahren leer steht. Eine Kaufinteressentin und ein Makler treffen sich vor dem imposanten Gebäude und streifen durch Turnsaal, Schwimmbad und lange Flure. Schon bald bröckeln die Fassaden der beiden Protagonisten: Während sie sich zunehmend in (idealisierten?) Erinnerungen an ihre Nachwende-Kindheit verliert, die sie teilweise in diesem Gebäude verbracht hat, bröckelt beim Makler die Fassade des auf Selbstoptimierung getrimmten Business-Typs. Johne durchquert somit stereotype Rollenzuschreibungen und einseitige Erinnerungsnarrationen – und liefert eine mögliche Erklärung für die prorussischen Stimmen, die beim Angriff auf die Ukraine laut wurden.
Im ersten Stock sind weitere Filme Johnes zu sehen, die es ermöglichen, sich einen Eindruck von den Themen und seiner Arbeitsweise zu machen. Wiederholt geht es um die Komplexität der Erinnerung an die DDR, dem Land, in dem Johne geboren wurde, um Männerbilder, Identität und Leistungsdruck.

Am Freitag mache ich einen kurzen Zwischenstopp in der Edition Klosterfelde in die Ausstellung Wartenberg von Wilhelm Klotzek. Klotzek, geboren in Ost-Berlin, kürzlich zum Professor an der Kunsthochschule Weißensee berufen, zeigt mehrere sehr unterschiedliche Arbeiten. Namensgebend ist eine Video-Arbeit, die er am S-Bahnhof Wartenberg gedreht hat und zeigt, wie sich Klotzek dem Bahnhof mit dem Fahrrad nähert, auf dem Gleis herumfährt und dann auf einen vietnamesischen Blumenladen zusteuert, der sich um Untergang befindet. Dessen eigenartige Konstruktion inklusive aufklappbaren Schiebetüren, die mit Graffitis vollgetaggt sind, gilt Klotzeks Interesse. Die Ausstellung wird ergänzt durch rotzige Skulpturen aus Metall und Besen, die bis an die Decke ragen und hübsch gerahmte Text-Bild-Kombinationen zu Themen wie Bottroper Beton, das Pressecafé am Alex oder Eiswägen. Es sind kurze autobiografische Texte, in denen seine Ost-Perspektive immer wieder zum Tragen kommt. Klotzeks Stärke, das Konkrete mit dem Abstrakten zu verknüpfen, Fährten zu legen und sie gleichzeitig zu kreuzen, kommt hier voll zum Tragen.

Später gehe ich in den n.b.k., um mir die Ausstellung If the Berlin Wind Blows My Flag anzuschauen, eine Kooperation mit der daadgalerie und der Galerie im Körnerpark. Kunst und Internationalisierung vor dem Mauerfall lautet der vage wie sperrige Untertitel, es geht um die künstlerischen Szenen in West-Berlin vor dem Mauerfall. Doch trotz dieses West-Berlin- Fokus gibt es gleich mehrere Referenzen auf Ost-Berlin bzw. auf die Verbindungen zwischen Ost und West. Viel Raum bekommen zum Beispiel die Grafikeditionsmappen von Jürgen Schweinebraden, die er mit Künstler*innen aus der DDR, aus osteuropäischen Ländern und Fellows des Berliner Künstler Programms wie Ruth Wolf-Rehfeldt, Petr Štembera und Michaelangelo Pistoletto gemacht hat. Schweinebraden betrieb im Prenzlauer Berg zwischen 1974 und 1980 eine Kunstgalerie und hatte offenbar die Möglichkeit mit Künstler*innen außerhalb der DDR zusammenzuarbeiten.
Die für mich eindrucksvollste und aufschlussreichste Arbeit in dieser materialüberbordenden und ambitionierten Ausstellung ist das Video der Filmemacherin Shelly Silver, Former East / Former West von 1994. Silver hat während ihres daad-Stipendiums 1992/93 Interviews mit Berliner*innen aus Ost und West geführt und sie dazu befragt, was ihnen zu Heimat oder Demokratie einfällt, ob sie dazugehören oder was sich für sie seit der Wende verändert hat. Im einstündigen Film sind die aus heutiger Sicht erstaunlich freimütigen Aussagen schnell hintereinander geschnitten, wobei die Perspektiven ständig wechseln. Der Film besticht durch die Direktheit, mit der die Nach-Wendezeit kommentiert wird, verdeutlicht die Differenzen, von denen angenommen wurde, dass sie bald verschwinden würden, und macht hellhörig, wo es um Nationalität und Heimat geht. Er erinnert mich an die eindringlichen Porträts von Thomas Heise, wie Eisenzeit oder die Halle-Neustadt-Trilogie.

Auf dem Nachhauseweg komme ich am neuen Standort der nGbK an der Karl-Liebknecht-Straße vorbei, mit dem es die Institution, 1969 in West-Berlin gegründet, erstmalig aus Kreuzberg in den Ostteil der Stadt verschlägt. Die neue Nachbarschaft ist vielschichtig – einerseits touristisch und andererseits durch die Kämpfe um die Umgestaltung der Mitte geprägt. Behält diese ihre DDR-Prägung oder wird eine historische Mitte rekonstruiert? Man darf gespannt sein, wie sich die Institution hierzu verhalten wird. Der Umbau der Räume der ehemaligen McDonalds Filiale durch das Büro „Hütten und Paläste“ ist jedenfalls gelungen und setzt nicht nur die Betonwände in Szene, sondern auch ein altes Bild von Mr. McDonalds.

Die Ost-Woche findet ihren Abschluss im Minsk in Potsdam, in der Ausstellung I’ve Seen the Wall über Louis Armstrong und seine Tour durch die DDR im Jahr 1965. Im Einführungstext werden große Worte bemüht, wenn die politische Bedeutung dieser Reise, Armstrongs Kampf für Freiheit und seine Erfahrungen mit Rassismus hervorgehoben werden. Doch in der Ausstellung bleiben diese Themen seltsam oberflächlich. Zwar finden sich überall Bezüge zu Armstrong (Pina Bausch verwendet ein Lied von Armstrong in ihrer Inszenierung Frühling, Sommer, Herbst, Winter, Peter Brötzmann bezieht sich in einem Interview auf ihn, aber schon Rosemarie Trockels zugegebenermaßen toller Plattenspieler gibt Rätsel auf im Zusammenhang mit Armstrongs DDR-Tour). So wirkt die Ausstellung insgesamt wie eine Assoziationskette, die das kulturpolitische und historische Thema, das sie selber in den Mittelpunkt stellt, verfehlt. Wie gerne hätte ich mir Musik von Armstrong angehört, einen Konzertmitschnitt oder ein Interview angeschaut, um mir selber einen Eindruck zu verschaffen, stattdessen gibt es zwei Filmarbeiten von Jason Moran und Wadada Leo Smith, die extra für die Ausstellung entstanden sind, aber unnahbar bleiben. Meiner Meinung nach wäre das Geld für das Ausstellungsdesign besser in eine wissenschaftliche Assistenz investiert worden, um dem Ganzen den nötigen Unterbau zu verschaffen und das Ost-West-Thema differenzierter zu behandeln. Problematisch ist zudem eine Künstler*innenliste, die sich (abgesehen von Willi Sitte und Ruth Wolf-Rehfeldt) nur aus westdeutschen bzw. US-amerikanischen Künstler*innen zusammensetzt, was wahrscheinlich an der Kooperation mit dem Louis Armstrong Center in New York liegt. Dessen aktuelle Ausstellung wurde von Jason Moran zusammengestellt, der auch Co-Kurator im Minsk ist. Wollte das Minsk nicht ein Ort für Kunst aus der DDR sein?, frage ich mich, als ich das aalglatt restaurierte ehemalige Terrassenrestaurant, ein Klassiker der DDR-Moderne, das 2022 wieder eröffnet wurde, wieder verlasse.

Abends stoße ich in einer Mediathek zufällig auf den Film Der Blaue mit Manfred Krug und Ulrich Mühe von 1994. Der Film widmet sich ebenfalls der aufgeladenen und bewegten Post-Wende-Zeit, die Shelly Silver in ihrem Film einfängt, nur das hier der Fokus auf die Nachwehen der Stasi-Machenschaften gelegt wird. Der Film stellt viele Fragen – nach Schuld und Freundschaft, nach der Kontinuität der Stasi nach dem Ende der DDR, nach Gewinnern und Verlieren. Weil er so gut ist, zitiere ich aus dem Ankündigungstext der Plattform filmfriend:
„Gemeinsam mit seiner Frau betreibt Dr. Otto Skrodt einen gut laufenden Reiterhof bei Berlin. Zudem sitzt er als Abgeordneter im Bundestag und blickt einem Posten als Staatssekretär in Bonn entgegen. Aber hinter Skrodts Erfolg verheißender Fassade verbirgt sich ein dunkles Geheimnis, das niemand außer seiner Tochter Isabelle und seinem ehemaligen Führungsoffizier kennt: Er war hochkarätiger Spitzel für den Staatssicherheitsdienst der DDR und hat viele Freunde eiskalt ans Messer geliefert. […] Der Film verarbeitet mit künstlerischen Mitteln die Zeitgeschichte der untergegangenen DDR und die Folgen des Kalten Krieges. Mit Ulrich Mühe (Das Leben der Anderen) und Manfred Krug (Spur der Steine, Liebling Kreuzberg) wurde dieser Film mit Darstellern besetzt, die den konkreten historischen Kontext der Themen des Films aus ureigenster Erfahrung kannten. Manfred Krug verließ die DDR aus politischen Gründen; die letzten Lebensjahre von Ulrich Mühe waren unter anderem geprägt durch eine erbitterte Auseinandersetzung über eine mögliche MfS-VerstrickungVertrickung einer ehemaligen Lebenspartnerin.“1
Was der Text so klar formuliert, bleibt für mich im Film offen, wie die Frage nach dem tatsächlichen Ausmaß des Involviertseins und der Schuld Skrodts. Dadurch verunsichert er eingeschriebene Narrationen, statt in die Kerbe der moralischen Verurteilung zu schlagen.

Damit ähnelt er Gabriele Stötzers Publikation Der lange Arm der Stasi (Spector Books, 2022), die eine umfangreiche Recherche über die Kunstszene der 1960er-, 1970er- und 1980er-Jahre in Erfurt vorgelegt hat und darstellt, wie diese von der Stasi beobachtet, unterwandert und malträtiert wurde. Stötzer ist selber Teil der Kunstszene in Erfurt gewesen und erzählt mithin ihre eigene Geschichte, wobei der Fokus auf dem Beziehungsgeflecht von Stasi und Kunstszene liegt. Stötzer hat dafür umfangreiche Akten und Material gesichtet. Die Recherche ist sowohl kunsthistorisch wichtig, als auch eine beeindruckende Biografie. Dieser Spagat zieht sich durch die Publikation, die in Form von großformatigen S/W-Fotografien und kurzen Beschreibungen Personen vorstellt und Orte der Erfurter Szene dokumentiert. Sie endet mit der Schilderung einer persönlichen Begegnung mit einem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter. Stötzer ist auf vielfältige Weise Opfer der Stasi geworden, aber sie inszeniert sich in dem Buch nicht als Opfer, sondern legt die Strukturen und die Mechanismen offen, mit denen die Stasi die Szene beobachtete und bearbeitete. Die gewählten Maßnahmen waren drastisch – sie reichen über Gefängnisaufenthalte, Liquidierungen und Zersetzungen. Oft reichen ein, zwei Sätze, um zusammenzufassen, was dies mit den Menschen gemacht hat: sie sind weggezogen, nach West-Deutschland geflohen, sind dem Alkohol verfallen oder haben sich komplett zurückgezogen.

Das Buch ist aus mehreren Gründen lesenswert. Einer ist, dass Stötzer wie Lienhard Wawrzyn, der Regisseur von Der Blaue, bis auf einige Ausnahmen eindeutige Opfer- und Täterzuschreibungen und Verurteilungen vermeidet. Die Biografien und Geschichten, die sie rekonstruiert, sind komplex. Sie erzählen von mehreren Identitäten, von Erpressung und von Selbstzerstörung und sensibilisieren dafür, wie unterschiedlich die IMs zu diesen wurden, wie sie diese Aufgabe ausführten und zum Teil auch wieder ablegten. Nur bei einigen wie Sascha Anderson (bei ihm kommt noch dessen Macho-Attitüde hinzu) schimmert die Wut und Enttäuschung durch, die Stötzer gegen ihre ehemaligen Weggefährten hat, die sie verrieten, hintergingen und diskreditieren.

Eine Woche später mache ich einen Ausflug nach Eisenhüttenstadt, um mir das dortige Museum Alltag und Utopie anzuschauen. Das Ganze erweist sich als Kontrastprogramm zur nervösen und überfüllten Art Week. Denn Eisenhüttenstadt, als Planstadt in den 1950er-Jahren errichtet, einstiger Arbeitsplatzmagnet, ist heute das Gegenteil einer verdichteten Stadt und von der Grundstimmung trist. Kein Wunder bei dem Wegfall an Arbeitsplätzen, Bewohner*innen, der Vielzahl von abgerissenen oder verfallenen Gebäuden (u.a. das Bahnhofsgebäude und das repräsentative Hotel am Platz), die von westdeutschen Investor*innen mit dem Hauptziel, einen hohen Abschreibungsgewinn zu erzielen, gekauft und wieder verkauft wurden. Der Bruch, der mit der Wende kam, wird hier in all seiner Drastik erfahrbar. Gleichzeitig werden DDR-Mosaike und Wandbilder restauriert, der denkmalgeschütze Innenstadtbereich ist als Wohnort begehrt, und das Hotel wurde jüngst von der kommunalen Wohnungsgesellschaft zurückgekauft. Auf der Rückfahrt bin ich überfüllt mit Eindrücken. Die melancholischen, wütenden und hadernden Perspektiven auf die DDR und die Post-Wendezeit überlagern sich und werden gleichzeitig zu einem immer selbstverständlicheren Teil der Kunstgeschichte.

1
https://voebb.filmfriend.de/de/movies/der-blaue



Larisa Sitar, Hope swapping, fixed, KVOST, Leipziger Straße 47 / Eingang Jerusalemer Straße, 10117 Berlin, 14.09.–19.11.2023

Sven Johne, Das sowjetische Hauptquartier,
Fluentum, Clayallee 174, 14195 Berlin, 13.9.–16.12.2023

Wilhelm Klotzek, Wartenberg, Klosterfelde Edition, Potsdamer Straße 97, 10785 Berlin, 15.9.–21.10.2023

If the Berlin Wind Blows My Flag. Kunst und Internationalisierung vor dem Mauerfall, n.b.k., Chausseestraße 128/129, 10115 Berlin,
14.9. 2023–14.1.2024

I’ve Seen the Wall, Louis Armstrong auf Tour in der DDR 1965, Das Minsk, Max-Planck-Straße 17, 14473 Potsdam, 16.9.2023 – 4.2.2024
Ausstellungsansicht Larisa Sitar, KVOST
Copyright and Courtesy: Wilhelm Klotzek & Klosterfelde Edition, Foto: Marjorie Brunet Plaza
Shelly Silver, Stills aus Former East/Former West, 1994
Gabriele Stötzer, Der lange Arm der Stasi – Die Kunstszene der 1960er, 1970er und 1980er in Erfurt, spector books, 2023