Peter K. Koch: Andreas, als ich damals angefangen habe zu studieren, und das ist ja schon sehr lange her, da war ziemlich schnell klar, dass der Raumbegriff eine extrem starke Anziehungskraft auf mich ausübt. Fast könnte ich sagen, dass es für mich der allerwichtigste und prägendste Begriff war, und ich habe jede theoretische Lektüre verschlungen, die sich mit dem Thema auseinandergesetzt hat. Begriffen habe ich nichts, und das ist das Faszinierende am Raumbegriff, da ist für mich die sehr deutliche Ungreifbarkeit und Unschärfe. Raum ist überall, im Kleinsten und im Größten, definiert und undefiniert, real oder imaginiert. Die Lust an der künstlerischen Sichtbarmachung hat mich immer beschäftigt. Einer meiner ersten Ausstellungstitel, damals, in der Maschenmode-Anfangszeit lautete: Co-Raum. Letztlich war da nur ein Dachlattenraumgebilde aufgebaut, das einen Raum andeutete, der eben in dem anderen Raum (Galerie) stand und keine besonders ausgeprägten weiteren Eigenschaften hatte, außer an der Schwelle zwischen Architektur und Skulptur zu operieren, also möglicherweise begehbar war oder möglicherweise nur betrachtet werden sollte. Ich fand das sehr philosophisch und bin eigentlich immer beim Thema geblieben. Was kommt dir denn als Erstes in den Sinn, wenn du das Wort Raum hörst?
Andreas Koch: Ja, da denke ich jetzt auch an meine künstlerische Arbeit und wann das anfing mit räumlichen Arbeiten. Eigentlich gleich nach dem Grundsemester, während dem ich noch malte und zeichnete und plötzlich keinen Sinn mehr darin sah, dies zu tun. In den anschließenden Semesterferien hatte ich noch keine Klasse, ich hatte mich nur bei der Skulpturenklasse von Christiane Möbus beworben, die nahmen aber keine Neuen auf. Also musste ich für eventuelle andere Klassen erst mal neue Arbeiten erstellen. Ich lag in der Badewanne und schaute zur Decke, da kam mir die Idee. Warum keine Bilder aus der Perspektive von unten nach oben machen und die dann wieder quadratisch an die Decke kleben. Also fotografierte ich zum Beispiel den Vorhang um die Badewanne, oder Kleider, die im Flur unter der Decke hingen, oder eine Lampe, und hängte diese dann ca. 50 mal 50 cm groß in dem fünf Meter hohen Foyer an die Decke. Da fing ich an, mich für Perspektivwechsel zu interessieren, nämlich unsere beschränkte Wahrnehmung zu thematisieren, die Blickwinkel, die Maßstäbe zu verschieben und so den Raum in unseren Köpfen zu verändern. Eigentlich mache ich seit dem nichts anderes. Nur oft anders. Warum ist das Thema nur so faszinierend? Vielleicht weil wir uns ständig, jeden Tag, jeden Moment zu Raum verhalten müssen? Ständig entscheiden wir, wie wir unsere Körper durch Raum und Zeit bewegen, oder auch es mal bleiben zu lassen. Und dann schauen wir mittlerweile einige Stunden auf kleine Bildschirme und lassen uns auf fiktive Raumwelten ein. Das war übrigens Thema der zweiten Arbeit, die ich damals zeigte, Bilder aus der neuen Welt. Ich flog mit einem rudimentären Flugsimulator über New York, das nur aus World Trade Center, Brooklyn Brigde und ein paar anderen Wahrzeichen bestand, die einzeln auf flachem, verschiedenfarbigem Boden herumstanden, und machte Screenshots. Dazu schrieb ich eine Abenteuergeschichte über mich im Doppeldecker. Das war 1993. Aber wir machen ja kein Katalogtextgespräch. Das ist ja ein Kunstmagazin und dies vielleicht der Start einer Trilogie „Raum – Zeit – Tod“. Drei wieder wahnsinnig weitgreifende Themenapparate, die wir, wie du schon meintest, nur unscharf umkreisen können. Wir hatten ja mal ein „Immobilien-Spezial“, da ging es hauptsächlich um den gebauten Raum.
Jetzt könnte man ja mit dem Raum im Bild anfangen, fällt dir ad hoc eine zweidimensionale Arbeit ein, die dich besonders beeindruckt hat? Malerei, Fotografie, Zeichnung?
Peter K. Koch: Da gibt es einige und es ist sicher keine Überraschung, wenn ich jetzt mit Gordon Matta-Clark um die Ecke komme. Auch wenn es sich bei der Mehrzahl seiner Arbeiten um „realen“ Raum handelt und er die gesellschaftspolitische Dimension von gebauten Raum (Wohnraum) in seinem Werk in den Blick genommen hat, hat mich immer die rein formale Radikalität der dokumentarischen Fotos der Splittings und Cuttings beeindruckt, weil sie sich eben auf der Schwelle zwischen realem und inszeniertem, ja gerdezu collagiertem Raum bewegen. Diese Bilder sind phänomenal irreal in ihrer Hyperrealität. Dem Raum ist seine komplette Funktionalität entnommen worden und was übrig bleibt, ist „Nur“-Raum oder „Raum-an-sich“-Raum. Die Räumlichkeit inszeniert sich selbst. So radikal und extrahiert habe ich das nie wieder gesehen. Gerade die Übersetzung der Dreidimensionalität in die Zweidimensionalität ohne jedes narrative Element ist dabei so faszinierend. Raum, gibt es ja sonst eigentlich in jedem zweidimensionalen Bild, klar, auch in der Malerei, und schon in der Renaissance haben viele Maler mit den Möglichkeiten der Abbildung von Raum experimentiert, aber eben ausschließlich als ein Element eines Bildes und nicht als einziges Element. Zumindest ist mir das nicht bekannt. Aber spielt die Definition des Raumgegriffs heute überhaupt noch eine Rolle oder ist realer Raum abgegrast und wir müssen nur noch den virtuellen Raum definieren?
Andreas Koch: Niemals, solange wir Körper sind, bleibt das meiste analog. Ich habe gerade hier einen Katalog von Mark Manders, dem niederländischen Künstler, Jahrgang 1968, den ich das erste Mal auf der documenta von 2002 sah (da war er erst 34), und er ist tatsächlich ein Frühentwickelter. Die erste Arbeit, die auftaucht, ist von 1986, da war er 18, und heißt Inhabited for a survey (First Floor Plan from Self-Portrait as a buildung). Ich glaube, er betitelte die Arbeit erst später so, man sieht jedenfalls eine Art Grundriss, zusammengelegt aus allem möglichen Schreibmaterial, Stiften, Radiergummis usw. Eigentlich folgte er dann sein ganzes künstlerisches Leben diesem Plan, Räume als Selbstporträts zu begreifen und zu füllen. Meist mit eigentümlichen Modellen von Schornsteinen, Landschaften, Ton- oder Sandfiguren von Menschen oder Tieren, oder mit banalen gesammelten Dingen, die er dann darin ordnet. Der Raum ist ein psychisches Konstrukt und anders als bei Gregor Schneider rätselhafter, verspielter, komplexer. Ich seh ihn ein bisschen als Nachfolger des Benelux-Surrealismus à la Magritte und später vielleicht Broodthaers.
Apropos Surrealismus und virtueller Raum, beide funktionieren ja ähnlich wie unsere Traumwelt, mühelos morphen verschiedenste Raumkonstrukte ineinander und wir bewegen uns „traumwandlerisch“ hindurch. Manche Räume verfolgen mich in meinen Träumen immer wieder und so taucht meine Einraumwohnung aus meinen zwanziger und frühen dreißiger Jahren in allen Varianten immer wieder auf, mal ist das Vorderhaus weg, eingestürzt, mal führen merkwürdige Gänge in die Dachgeschosse, dann fehlen plötzlich die letzten Treppen hoch zur Wohnung, meist sitzen dort schon irgendwelche Leute drin.
Ist da was dran? Kann ein Raum so was wie eine seelische Entsprechung sein, ein Bild meiner selbst. Mir geht das nur mit dieser einen Wohnung so, alle anderen Räume, die ich davor oder danach bewohnte, tauchen in meinen Träumen nie oder kaum auf. Aber jetzt bin ich wieder weg vom realen Raum und stecke im vorvirtuellen Raum, dem Traumraum fest. Es ist jedenfalls bemerkenswert bei Künstlern wie Manders, aber auch Schneider, wie sie mit dieser tiefenpsychologischen Aufladung umgehen und wieder einen echten Raum bauen. Kannst du mit so was was anfangen? Oder sind dir diese Arbeiten zu narrativ und man sollte die Kunst für subtilere, abstraktere Bildraumuntersuchungen nutzen? Richard Serra zum Beispiel, Raum als Masse, Gott hab ihn selig …
Peter K. Koch: Das Schöne an der Raumthematik ist ja, dass man sich von ganz unterschiedlichen Seiten künstlerisch annähern kann. Man kann es Richard Serra-artig oder Fred Sandback-artig machen, also einen physisch erlebbaren Raum erzeugen mit viel/schwerem (Serra) oder wenig/leichtem (Sandback) Material, oder man wendet sich dem inneren, erlebten, dann narrativen Raum zu wie in den Beispielen, die du angesprochen hast. Als ich dir eben zugehört habe, dachte ich an den Traum als Raum, also als eigene räumliche Entität. Erstmal ist das die vielleicht surrealste Form von Raum, die man sich vorstellen kann, denn dieser Raum ist sehr persönlich, sehr flüchtig, sehr solitär und zeigt sich nur in einem Moment, in dem man eigentlich eher raumlos ist, schlafend, ohne andere Orientierung als der inneren, der eigenen, von Erlebnissen, Ängsten, Wünschen und was-weiß-ich-noch gesteuerten Unterwelt. Aber diese Räume sind ja in uns, die Erlebnisräume, die Angsträume, die Wunschräume. Im T(ranszendental)raum trauen sie sich ganz ungeniert an die Oberfläche, für einen kurzen Moment. Es gibt ja Künstlerinnen und Künstler, die ganz deutlich mit dieser Art von inneren Räumen arbeiten, und da sind die Surrealisten natürlich zu nennen, aber ich sehe das Gleiche, wenn ich Bilder von Scheibitz anschaue, dann sehe ich auch den inneren Raum, eine Raumwelt, die immer wieder neu dekliniert und gebaut werden will. Auch da durchaus mit der Lust an der Surrealität. Denn das ist etwas wirklich komplett anderes als die physische Block- und Sperrraumbildung von Serra und Kollegen. Da kommen mir die Arbeiten von Maria Eichhorn (2022) und eben dann auch die von Anne Imhof (2017) im Deutschen Pavillon auf der Venedig Biennale in den Sinn, die beide, auf sehr unterschiedliche Weise, aber eben doch ganz deutlich das direkte und physische Raumerlebnis als wichtigen Aspekt ihrer jeweiligen Interventionen herausarbeiten. Geht es bei Eichhorn eher um den Raum-an-sich-Aspekt so war man bei Imhof direkt in das Geschehen involviert und somit Teil eines in alle möglichen Richtungen offenen Aktionsraumes. Arbeiten ohne direkten Raumbezug sind im Kontext Deutscher Pavillon grundsätzlich auch kaum denkbar, bei so viel Raumgeschichte und Raumschichtung. Aber das ist ja doch der gewaltige Unterschied zwischen Bildbetrachtung (Mensch steht vor Bild) und immersiver Begehung einer Installation (Mensch bewegt sich im Kunstwerk und bei Imhof: Mensch wird zum Teil des Kunstwerks). Klar ist aber auch: Raumlose Kunst gibt es nicht, wie es auch nichts anderes Raumloses gibt.
Andreas Koch: Das war ja der versuchte Kontrast bei dem Sehgal/Scheibitz-Pavillon von 2005. Einmal dieser komponierte, dreidimensionale Bildraum von Scheibitz in der Mitte – ein Haufen skulpturaler Elemente, die wie dreidimensional aus seinen Bildern herausgesprungen aussahen, und dann dieser immaterielle Tino Sehgal, wo dann tanzendene und singende Wärter rumliefen und immer wieder „this is so contemporary, so contemporary“ sangen. Die machten den Scheibitz ein bisschen kaputt, andererseits fand ich es ganz erfrischend, vielleicht war das Wording etwas zu platt. Aber der Raum wurde dann noch mal durch Klang und Bewegung erweitert. Mensch bewegt sich um Kunst und Kunst bewegt sich um Mensch.
Oh je, da haben wir uns ja mal wieder ein allumfassendes Thema ausgesucht, Kunst ist Raum und Raum ist alles. Oder ist Raum das Vokabular mit dem wir dann doch wieder ganz andere Dinge thematisieren? Emotionen, Politik, Leben oder auch die Kunst selbst in ihrer bisherigen Geschichte. Und das Allumfassende funktioniert vielleicht auch mit vielen unserer anderen Themensetzungen. Alles ist Geld, alles ist Ding, alles ist Zeit. Würde nicht ein Jurist sagen, alles ist eine juristische Handlung, die in einem gesetzlich geregelten Rahmen stattfindet? Oder der Neurobiologe, alles eine Frage des Gehirns, der Hormone und Synapsen?
Fast jeder Künstler, jede Künstlerin spricht von Wahrnehmung, die sie bewusst machen, schärfen oder verändern will, Kunst will aufmerksam machen und verschiebt dann die gewöhnliche Betrachtung der Umwelt in einen anderen Bereich, den Kunstbereich, selbst wenn eine monochrome farbige Fläche an der Wand auftaucht, ist das dann eine räumliche Erfahrung.
Was passiert jetzt aber mit uns, wenn ein Großteil unserer Wahrnehmung ins Virtuelle ausgelagert wird? Ist das dann nur eine andere Form von Erleben? Geht dann mehr und mehr analoge Raumerfahrung verloren? Geht uns dann buchstäblich die Verortung verloren? Man könnte die meisten Erfindungen der Menschheit dahin gehend beschreiben, dass sie den realen Raum verkleinern, überbrücken oder negieren. Oder ihn wenigstens bequemer gestalten, also von der Elektrizität, über die Fortbewegungsmittel, Telefone, Fernseher, Computer, jetzt hin zum Smartphone. Wir haben den Raum in der Tasche.
Peter K. Koch: Der Raum hat uns in der Tasche, weil er ja real immer die gleiche Ausdehnung hat und wir nur einen immer kleineren Teil real davon wahrnehmen. Allerdings haben erst mal die meisten Erfindungen dazu geführt, dass man viel mehr Raum erfahren konnte. Fahrrad, Auto, Flugzeug. Telefon, Fernsehen, Internet. Man muss sich Raum ja nicht zwingend selber erwandern, um ihn wahrzunehmen. Das Gehirn kann ja doch einiges mit der Vorstellungskraft regeln. Einen Raum mit der eigenen Vorstellung wahrzunehmen oder ihn real wahrzunehmen ist selbstverständlich etwas komplett Unterschiedliches und das wird es auch immer bleiben. Die Kunst kann aber auch in der drohenden digitalen Raumverengung und Raumverdummung, sprich der allgemeinen damit verbundenen Orientierungslosigkeit, neue Räume öffnen. Darauf bin ich gespannt.