Ein Nachruf von hundert

Mikyeng Oh

2024:November // Marcel Prüfert

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11-2024

Meine Fußstapfen im Schneestapfen im Schnee
[3 Monate und 10 Tage im Sommer 2024]


Die Zeit, aus der Sicht des kranken Körpers

Der Tod ist schwer zu begreifen, in der Ansicht. Der Körper ist da. Ruht. Schläft sie nur?
Begreifen kommt durch Anfassen.
Die lustigen drei kleinen Leberflecken an ihren Fußsohlen.
Ihre dünne, zarte, jetzt knochige Hand ist leicht angewinkelt. Die Finger halb in die Windel geschoben.
Lässig entspannt abgelegt.
Der Körper entblößt durch die sommerliche Hitze.
Wie eine kleine Heilige mit Lendenschurz, aus einem mittelalterlichen Buch.

Sie schläft, als ich komme. Lebt sie wirklich noch? Ich starre auf ihr Gesicht und warte auf den nächsten Atemzug, der nur noch stoßweise kommt.
Der Körper einer geliebten Person ist nie hässlich. Auch wenn die Zeit ihn verändert. Abstoßend ist die Krankheit, die hier offensichtlich die Kontrolle übernommen hat. Und es ist das Schlimmste, was ich bisher in meinem Leben gesehen habe.

Jetzt, wirklich im Sarg aufgebahrt, dehnt sich die Zeit des Körpers ins Unendliche. Kommt daher das Genre der Geistergeschichten? Tote Körper, die aussehen, als würden sie schlafen, könnten jederzeit erwachen und Unruhe stiften.
Ich glaube daran, dass das Wesen des Menschen, die Seele, nach dem Tod noch einige Tage in der Nähe des Körpers bleibt. Daher die Tradition der Totenwache und die Zeit zum Abschiednehmen.
Von der heutigen Gesellschaft noch tabuisiert, ist es nicht leicht, eine Leiche zu betrachten, denn wenn es diese Leiche gibt, gibt es auch unseren Tod.
Der Anblick führt uns die eigene fragile Zerbrechlichkeit vor Augen. Wir reflektieren dabei die eigene Begrenztheit der Lebenszeit, konfrontieren uns mit dem eigenen Sterben.

Die Bestatterin hat den Kopf auf natürliche Art so schön gestaltet, als würde sie mit dem körperlichen Verfall, der Fäulnis, um die Wette würfeln. Die Haare, hauptsächlich aus Keratin, könnten sich jetzt Jahrhunderte halten, würden wir nicht eingreifen.
Nur die Fliege trotzt der Maskierung, lässt sich nicht täuschen und erkundet den leicht geöffneten Mund.

„Mein Bruder ist in seines Vaters Fußstapfen getreten und Arzt geworden. Meine Fußstapfen im Schnee.“ (sichtbar)

Meine liebe Freundin Mikyeng Oh ist nach kurzer schwerer Krankheit verstorben.
Die Beerdigung ist am 06.12.2024 um 11 Uhr auf dem Alten St. Matthäus Kirchhof, Großgörschenstraße 12–14, 10829 Berlin

Zeichnungen: Mikyeng Oh