Um mit einer scheinbar bloß formalen Frage zu beginnen: Um was für ein Filmgenre eigentlich handelt es sich bei „Exergue“ von Dimitris Athiridis? Um einen Dokumentarfilm, der die documenta 14 zum Thema hat? Dann verstoßen aber die immer wieder dramatisierend eingesetzte Musik und die zuweilen fast schon privat-intimen Momente des Films gegen die Regeln dieses Genres. Um einen Spielfilm vielleicht? Immerhin ist der Film durchsetzt von überaus kurzweiligen Passagen, die die Protagonisten beim Tanzen zeigen, beim Abendessen, beim Telefonieren. Außerdem entspricht die Länge von 14 Stunden in etwa der Länge vieler Netflix-Serien. Gegen diese Annahme aber spricht, dass hier eine durchgängige Handlung ebenso wenig zu finden ist, wie zum Beispiel ein spannender Plot. Handelt es sich bei „Exergue“ also etwa um einen künstlerischen Autorenfilm? Wohl kaum, dafür ist der Film, trotz seiner collgagenhaften Form, zu schlicht komponiert. Die zahlreichen Städtebilder in „Exergue“ schließlich erinnern ein wenig an handelsübliche Tourismuswerbung. Die Antwort auf die Frage nach dem Genre des Films liegt auf der Hand: „Exergue“ ist ein Hybrid aus all diesen Genres und gleichzeitig viel mehr.
Aber noch einmal von vorn: Der griechische Filmemacher Dimitris Athiridis begleitete zwei Jahre lang den Kurator Adam Szymczyk und sein Team bei den Vorbereitungen zur Documenta 14, bekanntlich der ersten Documenta, die in zwei Städten, in Kassel und Athen nämlich, stattfand. Zu sehen sind dann in den 14 Kapiteln seines Films „Exergue“ Gespräche mit Künstlern und Künstlerinnen, Recherchereisen, etwa nach Beirut, Teamsitzungen in Kassel und Athen und natürlich auch Verhandlungen, mit Sponsoren zum Beispiel. Bei letzteren ging es selbstverständlich um die Finanzen, genauer: um das fehlende Geld, was schließlich zu den skandalumwitterten Schulden der Documenta 14 geführt hat. Zu sehen sind in dem Filmmarathon aber auch Szenen eher geselliger Natur: Mitglieder des Teams beim Dinieren in Restaurants, beim Klönen mit Freunden, beim Kaffeetrinken. Und langsam, aber sicher sieht man wie die Doppelausstellung Gestalt annimmt, wie Projekte verworfen, andere vorangetrieben werden. Dazu finden Ortsbegehungen mit Künstlern statt und mit Vertretern von Athener Institutionen, die als Display genutzt werden sollen, wird vor laufender Kamera verhandelt. Auch Performances, die im Vorfeld der Documenta 14 stattfanden, wurden von Dimitris Athiridis gefilmt. Und über den Katalog der Großausstellung wird ebenfalls immer wieder nachgedacht. Meist im Mittelpunkt steht dabei der künstlerische Leiter Adam Szymczyk, der „Star“ des Films. Das kann als Starkult kritisiert werden, dennoch macht diese prominente Stellung Szymczyks in „Exergue“ durchaus Sinn, schließlich war die Documenta 14 (noch) eine Documenta, die nicht dezidiert im Kollektiv geleitet wurde, sondern von dem einen künstlerischen Leiter.
Die Highlights der 14 Stunden aber sind immer die Passagen, in denen das kuratorische Team das Konzept der Documenta 14, durchaus auch kontrovers und vor allem stets auf hohem Niveau, diskutiert und Schritt für Schritt schärft. Leitmotiv dabei ist, zusammenfassend formuliert, folgende in den Gesprächen immer wieder bedachte theoretische Feststellung: Der Kollaps der westlichen (eurozentristischen) Werte, der, paradoxerweise, mit Hilfe dieser westlichen Werte analysiert wird. Diese kluge Analyse wird dann angewandt auf die Documenta 14: Die Obsoletheit des Kunstbetriebsmodus „Ausstellung“ wird vorgeführt, indem man mit Hilfe des Ausreizens aller denkbaren Formen des Ausstellens das eurozentristische Format an seine Grenzen bringt. Genau dieses hat die Documenta 14 in Kassel, besonders aber in Athen geleistet und so das Format Ausstellung zu einem vorläufigen Endpunkt geführt. Zu einem Endpunkt, an dem die Documenta 15 und ihr Kuratorenkollektiv ruangrupa, das an die Stelle des einen künstlerischen Leiters getreten ist, dann erfolgreich anknüpfen konnte. Dieses vor allem dadurch, dass bei der Documenta 15 eben nicht mehr die eurozentristische Idee des Präsentierens von in erster Linie (warenförmigen) Objekten für ein mehr oder weniger passiv rezipierendes Publikum im Mittelpunkt der Ausstellung stand – eine Idee, die auch das kuratorische Team der Documenta 14 in seinen Diskussionen immer wieder kritisierte –, sondern ein performatives Präsentieren, das auf konstituierende Momente wie Kollektivität, Temporalität, Prozesshaftigkeit, Recycling und Interaktion setzte.
Ein anderer wichtiger Punkt bei den in „Exergue“ gezeigten Diskussionen ist die Betonung der Bedeutung des Globalen Südens – man denke da nur an das von der Documenta 14 herausgegebene „South Magazine“ und seiner Kunst. Hier nun schließt die Ausstellung bewusst an die von Okwui Enwezor kuratierte Documenta 11 an – Enzewor ist dann auch nicht zufällig früh im Film redend zu sehen – und setzt deren Intention konsequent fort. Deutlich also wird in „Exergue“ nicht nur die intensive intellektuelle Arbeit, die dem Kuratieren der Documenta 14 eigen war, sondern auch die Genealogie, in der diese Ausstellung quasi als Vor- und Nachläufer stand. Die Documenta 14 war eben keine „leere Hülse“, die „mit beliebigen Inhalten befüllt“ war, wie der Kunsthistoriker Harald Kumpel kürzlich in der „Frankfurter Rundschau“ mit altbildungsbürgerlicher Ignoranz behauptete, um dann wieder einmal ein Ende der Documenta zu fordern. Die von Kimpel verleugnete „evolutionär entwickelte Idee der Documenta“ ist ihr vielmehr deutlich eingeschrieben. Und „Exergue“ zeigt eindrucksvoll, wie diese Idee bei der Documenta 14 monatelang entwickelt worden ist.
Kostas Tsioukas performing “Collective exhibition for a Single Body” by Pierre Bal Blanc
Still aus Exergue von Dimitris Athiridis
Hendrik Folkerts, Adam Szymczyk, Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, Katerina Tselou
Still aus Exergue von Dimitris Athiridis