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Wer spät kommt, genießt es trotzdem
2024:November //
Kerstin Weßlau
Wer spät kommt, genießt es trotzdem / 2024:November
Lange, schlangengleiche Zungen berühren sich. Häutungen und Metamorphosen der Zufälle und Befreiungen von „So ist es, war es und so macht man das“. Umgewandelte Piefigkeit und entstaubte Regularien über – was Kunst ist – neu erzählt zu – was sie auch sein kann – und – wie wichtig sie ist –, auch in der Gegenwart und Zukunft mit Weite und Überschreitung von Denkmustern und dem Vorführen des
großen Nachkriegsschweigens, überhaupt der Freiheit der Äußerung. Die Suche jenseits von Verkrustungen schafft Potenzial für die Erlösung einiger Mitmenschen, vielleicht der Welt, manchmal mit Pilzen, auch selbst als Palme, dabei locker bleiben und die eigene Kunst-Arbeit ernst nehmen, ihr Bedeutung beimessen.
Natürlich gibt es mehr zu den Werken von Sigmar Polke in der Ausstellung „Der heimische Waldboden. Höhere Wesen befahlen: Polke zeigen!“ im Schinkel Pavillon in Berlin zu sagen, zu erfahren, zur Rezeption nach der Entstehung der Werke, dem langen Titel der Ausstellung, dem Bau, dem Zusammenspiel mit den Tonreliefs des Gebäudes und auch zur Nutzung zu Zeiten des realen Sozialismus. Die Eröffnung war so gut besucht, dass ich mich hätte anstellen müssen, um eingelassen zu werden, nachdem ich den Beginn verpasst hatte. Die Besichtigung habe ich zeitsparend nachgeholt.
Anders gelang es mir beim Besuch der Ausstellung „Andy Warhol – Velvet Rage and Beauty“. Ich konnte mich am „Tag der Einheit“, drei Tage vor Ausstellungschluss, am Ende einer unförmigen Schlange andocken. Es stellte sich heraus, dass sie einem klugen Windungsmuster zum Ausstellungseingang folgte. Wir rutschten gemeinsam Stück für Stück in Kunstliebhaber:innenschaft und der Möglichkeit sozialer Direktinteraktion innerhalb einer Stunde dem Tor der Erfüllung entgegen. Über unseren Köpfen küssten sich in einem fortlaufenden Film wechselnde Paare – von mir gelesen als zwei männliche oder als männlich und weiblich oder als zwei weibliche Köpfe. Leider wurde dem Beispiel auf dem großen Bildschirm in der Menschenschlange während der Wartezeit nicht gefolgt. Das Anstehen hat sich aber dennoch gelohnt. Es gab für alle Bananen.
Den Bezug zum 7. Oktober, unter anderem der Geburtstag des abgelösten Staates DDR mit bekanntem Schwof, aber auch bekanntem Mangel an vielen Dingen, darunter Bananen, hatte ich nicht erwartet. Die Einheit, die Wiedervereinigung von Ost-und Westdeutschland wurde so als eine friedliche, umsetzbare Version vorgeführt. Die Erinnerung an das Anstehen für kubanische, unreife Orangen zur Weihnachtszeit, den ikonischen Bruderkuss zwischen Honecker und Breschnew, das nachbarschafts-kontrollierte Bestücken des Fensterfahnenhalters mit der Drei-Streifen-Flagge und aufgenähtem DDR-Emblem (Hammer, Zirkel im Ehrenkranz), das Rot des Sowjettuches mit dem goldenen Hammer und der Sichel ziehen durch mein Gemüt und wandern zu Andy Warhols Werk, dessen möglicher Mangelerfahrung oder die seiner Eltern, zu der Frage nach dem Grund der Wut der Attentäterin, zu dem Vergleich mit den Abbildungen von gesichtslosen Frauen in der Kunstgeschichte mit den kopflosen Unterleibern von Warhol weiter zur Darstellung weiblichen Verlangens einer Gabriele Stötzer – und der freudvoll-subversiven Kunst anderer, in der DDR-geborener Künstler:innen sowie zur Kunstförderung nach dem Krieg in Westberlin und ihrer Auswirkung. Die Gedanken fließen frei zur Bedeutung vom 3., 7., 31. Oktober und 1., 9. November in Deutschland, zu dem Symbolgehalt der Gurke und zu der von mir bisher kunstgeschichtlich vernachlässigten Banane, abgesehen von Klaus Staecks gedruckten und Thomas Baumgärtels gesprühten Beispielen, sowie dem „Danse Sauvage“ mit dem Bananenröckchen der sonst nackten Josephine Baker und sie enden mit dem Nachdenken über die postkoloniale Bedeutung des Obstes als heutiges Grundnahrungsmittel.
Zu sehen waren in der spannenden Ausstellung neben der gelben Frucht und ihrem halbentblößtem Inhalt viele muskulöse, männliche, wahrscheinlich junge Unterleiber, Andy Warhols menschlich berührende Polaroid-Fotografien als „Dralla“, seine Videos, u.a. Erkundungen des Körpers des Anderen als Sehnsuchtsort und Erfahrungsraum, sowie Fotografien diverser männlich-homoerotischer Sexpraktiken wie z.B. Fisting. Das hat in Zeiten des Internets keinen Aufklärungscharakter, sondern wirkt im derzeitigen politischen Klima der Bedrohung von „being on the wild (diverse) side“ schon wieder revolutionär und zeigt Andy Warhol als verletzbaren, sensiblen, sehnsüchtigen, lebenshungrigen und auch humorvollen Menschen. Sex oder besser das Verlangen danach und die Mittel der Machtausübung sind auch das Thema der Abbildung amerikanischer Idole am Ausgang. Und so schließt sich der Kreis des amerikanischen Inputs auf die deutsche Nachkriegskunst und das Leben im Überfluss.
siehe auch Seite 18
Still, Einheit
Grau-Weiß-Küsse im Quadrat/
Torsi verdrehen bewegte Wellen/
zeitlos das Begehren im Aufbegehren/
der Zenit umfängt Sonnensüchtige/
beflaggt zu Polarlichter/
golden//
Einfach machen/ sagst du/
rastlose Reste auf Brüstungen rüsten ein/
das Paradies in den Köpfen schlängelt sich seitwärts/
zu Betonkörpern/ erfrorene Apfelblüten sinnen/
verraten zu Hause/ anderswo/
verbrannt//
Glocken rufen penetrant zur Einsicht/
die getürmte Aussicht weich/
aktiv dystopisch gezeichnet/ Verwesung/ Verdauung/
geruchlos/
Abschlüsse/Anfänge/ Ab-Aufgänge/
rot//
Die Wahl meines Blickes
Die Wahl meines Blickes
verengt sich mit dem Abdriften in elektronische Felder.
Haken, Herze, Kreuze – alles zu viel.
Vermisse Dich, war nicht dort, bin interessiert.
# Was hätte ich Dir sagen können?
# Was hätte ich noch sagen können über das Zittern
der Welt vor Angst, vor Freude, vor Lust, vor Spannung?
Verträume mögliches Spiel, Kämpfe, Schätzungen, Fehlsichten,
Lärm, Tanz, das kleine Große, nichts dagegen, dafür gelenkt durch
Vorsicht, Erfahrung mit Allerleihrauh-Welt der Tarnkappen,
Masken, Camouflagen, kopfloser Verkleidungen,
wieder mit Schulterstücken.
Die Wahl meines Blickes
verengt sich mit dem Sehnen nach Dir,
nach Händen, Armen, wärmenden Wörtern,
nach gemeinsamer Erleuchtung.
Luftgefüllte Blase neben luftgefüllter Blase einer eigenen Sprache.
# Was ist mit den Wörtern,
die wie Bestimmungen auf Gen A–Z einfallen?
Erdenke Orakel, sie verfallen Algorithmen
diffuser Wahrscheinlichkeitsanalysen mit Einteilung
in Follower-, Käufer-, Spender-, Wähler:innen.
Ohne Zweifel keine guten Voraussetzungen für vorurteilsfreie Dialoge.
Die Wahl meines Blickes
verengt sich beim Erinnern
an Gedenktage, überlagert vom Leid mit zukünftigen Folgen,
eingescharrt in auslesbare Erdschichten, gegliedert in die Rundungen
der Kopffüßler, die Münder der Schlangen, formierter Panzer.
# Woher, wohin? # Was ist mit dem Da-für, Da-wider?
Das Gefieder der Urvögel, eingepresst von Eis im Flug, hebt sich ratlos.
Gesänge, Termine, Kojen, Schriften, Bilder
– das Treffen der Entscheidungen dazwischen.
Mein Blick auf Dich wird nicht vernichten, nicht versteinern.
Dreh Dich um. Schau!
Reden, Verwandeln, Schöpfen.
Aufjauchzen, Flattern in die Höhe
ohne Titel aber mit Namen.
Christian Schwarzwald