14 Jahre nach meinem letzten Text über Cyprien Gaillard hier im Magazin kann ich direkt nahtlos anknüpfen, so sehr ist sich der Künstler thematisch treu geblieben.
2011 ging es um Exzess, Verfall und Alkohol, Raubkunst, Krieg und den Pergamonaltar – erstaunlich vorweggenommen, denn das jetzige Gallery Weekend 2025 wartet wieder auf mit einer Show zum Altar, weit weniger subtil als Gaillards Pyramide, ein Anti-Monument aus 42.000 Efes-Bierflaschen, eine soziale Plastik, die damals in den KW die Besucher zur Selbstbedienung einlud und letztendlich abgetragen bzw. leer gesoffen wurde. Es war seine erste Ausstellung in einer deutschen Institution.
Im Altglascontainer beginnt 14 Jahre später folgerichtig Gaillards neuester 120-frames/sec stereoskopischer Film Retinal Rivalry: Eine Deutschlandreise. Die Technik hat sich vom wackligen Handy-Video im Lauf der Zeit und anhand der verfügbaren Mittel dermaßen professionalisiert, dass sie es nun hochaufgelöst schafft, sogar die Grenzen der Leinwand zu sprengen.
Der Betrachter wird hineingezogen oder verfolgt, die Projektion lässt durch den Versatz gleichzeitig widersprüchlicher Informationen im Gehirn eine ephemere Skulptur aus Bewegtbild entstehen. Die Flaschen z. B. treten aus der Leinwand heraus, wir sitzen, Fliegen umschwirrt, im Container und blicken verwirrt verkatert durch die Öffnung in den Himmel. Zum Glück entlässt uns der Künstler bald in den öffentlichen Raum seines Deutschlands: Die Horrorshow geht jedoch weiter. Auf dem Kotzhügel der Theresienwiese landet die Kamera in einer Abwärtsbewegung unter einer Bierleiche in voller Lederhosentracht.
Zwischen 1926 und 1936 reiste der amerikanische Autor Thomas Wolfe für seine Deutschlandreise sechsmal durchs Land, hin und her zwischen München und Berlin, Wiesbaden und Bonn, Oktoberfest und Schwarzwald, Bars und Museen. Dass all die zauberhaften Landschaften von bierseligen Hunnen bewohnt wurden, die wiederum Beethoven und Goethe hervorbrachten, versetzte den Amerikaner in höchstes Erstaunen. Auf dem Oktoberfest geriet er in eine Schlägerei, ein Bierkrug zerschellt an seinem Kopf. Es ist fast, als würde er in diesem Moment all die Wut, die in diesem Land schlummert, nicht nur provozieren, sondern im Rausch auch in sich selbst zum ersten Mal wahrnehmen.
Das passt zu Gaillard, er sitzt im Kopf der Bavaria und schaut aufs Oktoberfest. Angeblich hat er dem Alkohol abgeschworen. Er ist nur noch Betrachter. Sein Blick ist ein gespaltener auf eine seltsame Heimat: Er zeigt einen Burger King in Hitlers altem Trafohäuschen auf dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände. Der Schatten des Reichsadlers am Gebäude ist noch gut erkennbar.
Er lässt eine schreckliche Säufernase aus der Leinwand treten. Die dicke Knolle der Bronzefigur ist ganz blank gerieben, denn ein kräftiger Griff daran soll einem Glück bringen. Es sind die Statuen von Tünnes und Schäl, sie gehören zur Stadt Köln wie Kölsch und Karneval. Oder wie Caspar David Friedrich zu Deutschland. Auch die Kölner Bastei zeigt uns der Künstler, ein romantisch-pantheistisches Landschaftsbild, das Zustände wie Einsamkeit, Ewigkeit und Vergänglichkeit verhandelt.
Rausch und Raum, das sind Gaillards Themen. Schon im Video „Cities of Gold and Mirrors“ von 2009 folgt er der Verbindung von Architektur und Freizeit. Hier zeigt er die Feierkultur US-amerikanischer Spring Breaker. Schauplatz ist der mexikanische Urlaubsort Cancún mit seiner 70er-Jahre-Hotelarchitektur. Wo sich in nächster Nähe die Ruinen einer Hochkultur befinden, trinken Studierende sich exzessiv ins Bewusstlose. Oder 2007 im kurzen Video The Lake Arches. Zwei angetrunkene Freunde springen vom Rand eines künstlichen Sees ins Wasser. Im Hintergrund sieht man Ricardo Bofills postmodernen sozialen Wohnungsbau. Blutend kommen die beiden an Land. „Cyprien was 26 that day, and his only desire was to be brought to witness the grandiose beauty of ‚Les Arcades du Lac‘ from Ricardo Bofill. His wish has been fulfilled and I literally got marked for life by his architecture“, erzählt einer der beiden Freunde.
Man kann sagen, Gaillard ist älter geworden, nicht mehr so draufgängerisch, trotzdem: Retinal Rivalry fühlt sich an wie ein Trip mit Büchners „Lenz“, es ist ein Fundamentalrealismus, den Cyprien Gaillard uns auf die Netzhaut brennt.
Cyprien Gaillard, Retinal Rivalry, Sprüth Magers,
Oranienburger Straße 18, 3.5.–26.7.2025
Juergen Teller, Ausstellungsansicht 7 1/2, Foto: Andreas Koch