Berlin Bebop

Eine kleine Phänomenologie des Sensitivity Readings

2023:November // Shannee Marks

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11-2023

„Die Grenzen meines Bebops sind die Grenzen meiner Welt“ (frei nach Ludwig Wittgenstein)
Neue Kolumne von Shannee Marks

Als ich den Ausdruck ‚Sensitivity Reading‘ zum ersten Mal zufällig wahrnahm, klang es für mich wie eine Form von Geisterbeschwörung. Das ist es auch, aber für Texte. Sie werden auf traumatisierende Reizwörter und Inhalte von ‚Betroffenen‘ geprüft und gereinigt. Ich empörte mich dagegen, weil ich es als eine krude ‚Zensur von unten‘ empfand. Sensitivity Reading ist aber mehr. Der öffentliche Auftritt von Sensitivity Readern ist zu autoritär, zu mafiaesque, was nicht so leicht mit traumatisiertem Migrantendasein zusammengeht. SR ist ein schlüpfriges, schwer zu deutendes Phänomen, ein ‚floating signifier‘, was an Hegels Herr-Knecht Dialektik erinnert. Wer ist hier der Herr und wer ist der Knecht?
Sensitivity Reading ist eine Metamorphose des ‚Sensitivity Trainings‘ – eine bekannte Methode der Corporate Culture, um Angestellten-Verhalten konform zu gestalten, das Office-Klima zu harmonisieren (gleichzuschalten) und hautnah zu überwachen. Sensitivity Training wie Sensitivity Reading machen auf Diversity und Difference aufmerksam. Im Extremfall können solche ‚Trainer‘ als ‚spymasters‘ agieren, ein Klima von kapitalistischem Neo-Stasi­tum und Mobbing unter der Belegschaft pflegen. Ein solches Officeleben bildet die Kulisse von Michel Houellebecqs anomischem Debütroman Extension du domaine de la lutte. In einer Episode der amerikanischen Fernsehserie Office wird Sensitivity Training karikiert: Der diabolische Büroleiter Michael zwingt seine Belegschaft, ihre wunden Punkte – die intimen Merkmale, die sie auf keinen Fall von den Anderen erwähnt haben möchten –, vor allen Anwesenden auf die Tafel zu schreiben. Eine rothaarige blasse, schlampig angezogene Frau schreibt resigniert – „sex with terrorists“. Sensitivity Reading überträgt eine ex­tremere Form des Sensitivity Trainings auf die mediale Kultur als solche. Eine Ära des ‚thought crimes‘ scheint näher zu rücken.
Die Provenienz von Sensitivity Readern sind nicht Protestbewegungen. Sie sind kapitalistische Marktteilnehmer, die ihre traumatischen Minderheits-Erfahrungen intersektional quantifizieren, multiplizieren und monetisieren. Ihre ‚Expertise‘ fungiert als Assets, Brand und Human Capital in einem.
So bieten sich Sensitivity Reader z. B. als queerer Mann, Muslim, mit Migrationshintergrund, eine Frau als neuro­divergent, fat-geschämt, mit unsichtbarer Behinderung, eine nichtbinäre Person, mit Angststörung, Panikattacken und Essstörungen vertraut, auf ihren jeweiligen Websites an. Die Vielfalt der Empfindsamkeiten umfasst die gesamte ‚conditio humana‘. Allein die Lektüre der Symptome wirkt beklemmend – wie self-harming.
Die Anpassung von Autoren und ihrer Werke an die oft widersprüchlichen Weltanschauungen werden von Verlagen quasi postkolonial an diese diversen Individuen outgesourct. Als könnte dadurch jede störende oder toxische Realität wegretuschiert werden.
Literatur ist größer als das einzelne Wort, als ihre akkumulierten Sätze. Sie findet in der Entfernung von Zeit und Ort, in der Abwesenheit vom Satz statt. Als „Pharmakon“, wie Derrida sagt, ist sie gleichzeitig Heilmittel und Gift. Als „Simulakrum“ ist die Literatur aus dem Stammbaum Onans. Sensitivity Reading ist metaphysisch der „Ökonomie des Gleichen“ (Luce Irigaray) verhaftet. Es sieht den Text als eine abgeschlossene Präsenz an. So verfällt Sensitivity Reading der antiquierten, binären entweder/oder, widerspruchsfreien Identitäts-Logik der westlichen Metaphysik: die Annahme, dass ein ‚böses‘ Wort durch ein ‚gutes‘ ersetzt werden kann und dadurch der Text qua Präsenz ethisch theologisch erlöst wird. Dabei sind ihre Eingriffe viel phantomhafter als die Literatur. Wie Georges Perec in seinem Aufsatz „Commitment or the Crisis of Language“ (ca. 1960) schrieb: „But this crisis is obviously not inherent in language. There is no damnation weighing on the vocabulary. Whatever evil stalks the words is not in the words. ‚The Terror‘ only exists for the one who writes. The crisis of language is a refusal of the real.“ Wie Perec ist die Literatur ein ‚escape artist‘ und zugleich immer schon woanders.