- /11-2024
- /05-2024
- /11-2023
- /02-2023
- Abend im Abendland
- Final Days
- Noisy Leaks! (1)
- Noisy Leaks! (2)
- Die (leere) gescholtene Mitte
- Misk Art
- EUROCITY
- Klasse-Spezial
- „Alle, die nichts anderes haben, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sind Arbeiter“
- Natürlich wollen wir alle flexibel, nachhaltig und inklusiv woke sein – die letzte Generation der neuen (kreativen) Klasse als Kratzer im Screen 1
- Klassenfragen
- Klassenfragen im Kulturkontext
- Vom Auf- und vom Absteigen
- Bitte, danke, bitte, danke, bitte, danke ...
- Die post-dramatische Klasse
- Über Klassen und alle anderen Identitäten
- Marx und meine Widersprüche
- Wo ich war
- Eine Liste von hundert
- Berlin Art Week
- KÜNSTLER/IN, LEBENSLANG
- Eine/r von hundert
- Vanity Fairytales Tours
- Onkomoderne
- /Archiv
- /Impressum
Andy Warhol
Neue Nationalgalerie
2024:November //
Christoph Bannat
Andy Warhol / 2024:November
Sex im Museum
Andy Warhol ist einer meiner Jugendhelden. Einer, der mit kaltem Blick die Konsumgesellschaft auf dem Feld der Kunst, ja was, sezierte, kritisierte oder einfach nur durch Hyperaffirmation karikierte? In der Neuen Nationalgalerie, im Zentrum der Gesellschaft, wird erstmals Warhols Blick auf seine Homosexualität gezeigt. Neben bekannten Porträts von Stars und Sternchen, frühen Zeichnungen, sowie Vorarbeiten zu Plattencovern und Filmplakaten, laufen im Untergeschoss einige seiner Factory-Filme als Endlosschleife. Neu ist, dass erstmals seine pornoaffinen, anus- und phallusfixierten Bilder in einer staatlichen Institution zu sehen sind. Das hätte eigentlich einen Aufreger geben können. Doch selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen bewarb die Ausstellung in seinen Hauptnachrichten, mit Auslassung eben jener Arbeiten. Anders als zu Warhols Zeiten scheint Homosexualität heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Die Ausstellung kann als Beweis dafür gelten. Oder dafür, dass seine Bildwelten bereits vom pornografischen Internet-Bildexpress überholt wurden und schon Allgemeingut sind. Da stellt sich die Frage, welcher Erkenntnisgewinn heute im Ausleuchten gespreizter Arschbacken liegen könnte? So wirkt die Ausstellung auf mich eher historisch. Es hätte wohl eher Sexismus-Vorwürfe gegeben, hätte man hier den männlichen Anus durch eine Vagina ersetzt.
Es gibt wenige Künstler, deren (Er-)Findungen direkten Einfluss auf unser Sozialleben hatten. Einer Legende nach ist Warhol einer von ihnen. Anfang der 90er, mit dreißig, idealisierte ich die schwule Szene. Mich faszinierte die Vorstellung von anonymem Sex in absoluter Dunkelheit. Ich hatte die fixe Vorstellung, im Darkroom genommen zu werden. Ich wollte, dass man mir den Weg zeigt – vom Dunkel ins Licht. Dass man mir zeigt, wo ich hingehöre. Da ich etwas dumm bin und nicht alles im Kopf zu lösen vermag, brauche ich solch starke körperliche Impulse – um dann darüber nachdenken zu können. Ich konnte die Frage meiner sexuellen Bestimmung einfach nicht im Kopf lösen. So setzte ich mich dem Dunkeln aus, ein Freund half mir dabei. Im Darkroom merkte ich schnell, dass es auch hier um viel Fingerspitzengefühl geht – über die Fingerkuppen wurde der weiteren Verlauf des Abends verhandelt. Diese Vielfalt der Möglichkeiten überraschte und überforderte mich augenblicklich. Mein Freund schirmte mich ab. Ich hielt mich an ihm fest. Später wusste ich, dass es das war, was ich eigentlich wollte. Ich brauchte Halt. Und ich stellte mir die Frage, ob ich nicht den falschen Begrifflichkeiten von „Genommenwerden“ aufgesessen war?
Eine Legende sagt, dass der Ursprung des Darkrooms als Ort sexueller Begegnung ehemals für beiderlei Geschlecht in Warhols Factory liegt und dessen Dunkelkammer bezeichnete.
Albrecht Dürer und die Männer
Eigentlich wollte ich nicht über die Warhol-Ausstellung schreiben. Doch fiel mir zur gleichen Zeit Reinhard Brökers Buch, Dürer und die Männer – Eindeutig zweideutig, in die Hände. Mit ihm erfahren wir wie Kunst, Sex, Wissenschaft und Musealisierung über 500 Jahre zusammen wirken können. Bröker weist anhand Albrecht Dürers Lebenslauf und Bildern nach, dass dieser schwul gewesen sein muss, dass er Umgang in einer schwulen Szene pflegte und dies auch in seinen Bildern thematisiert hat. Dabei wirft seine Forschung die Frage auf, wie es möglich sein konnte, dass Dürer, ein Säulenheiliger der deutschen Kunstgeschichte, nie derart, also homoerotisch gelesen wurde. Er zeigt, wie die Schwulenszene des 15. Jahrhunderts über Italien vernetzt war, welche Codes sie benutzte, wie sie selbst christliche Narrative verwendete, um ihre Leidenschaften und Ängste sprechen zu lassen. Weiter zeigt Bröker, folgerichtig und einfach nachvollziehbar, welche klassischen Ikonografien diese Szene noch benutzte, welche Orte sie besuchte und welche ständespezifischen Verbindungen sie einging. Alles anhand von Dürers Arbeiten. Und wenn der Kunsthistoriker Martin Warnke, nach seinem Leitsatz gefragt, antwortet, „… aber doch immer über das Auge. Nicht allein über die Akten und Archive …“*, dann fragt man sich, was denn hier zwischen Auge und Wissen(schaft) über 500 Jahre schief gelaufen ist, dass solch augenfällige Erscheinungen derart ignoriert werden konnten. Aber wir sehen eben nur, was wir wissen (wollen).
Betrachte ich Kunst als eine Sprache und könnte mich entscheiden, ich würde die codierte Sprache Dürers der auf- oder abgeklärten Warhols vorziehen. Aber warten wir’s ab, wie die Kunsthistoriker in 500 Jahren über Warhols Arbeiten urteilen.
Andy Warhol, Velvet Rage and Beauty, Neue Nationalgalerie,
Potsdamer Straße 50, 10785 Berlin, 9.6.2024–6.10.2024
Reinhard Bröker, Albrecht Dürer und die Männer – Eindeutig zweideutig, Michael Imhof Verlag, Petersberg 2023
*Hamburger Kunsthistoriker im Gespräch – Interviews mit Horst Bredekamp, Klaus Herding, Wolfgang Kemp, Monika Wagner und Martin Warnke, herausgegeben von Saskia Pütz und Rainer Nicolaysen, Wallstein Verlag, Göttingen 2015