Isa Genzken

Neue Nationalgalerie

2024:November // Benedikt Terwiel

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11-2024

Im Schatten der Rose –
ein Nachschlag

Everything has to do with everything including
with what you don’t see.
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Wie der in Deutschland weitgehend unbekannte Psychiater Leo Alexander NS-Menschenversuche dem Vergessen entriss, las ich zufällig am 12. November 2023 in einer Buchrezension des Berliner Tagesspiegels.2 Durch die akribische Zusammenstellung von erschütterndem Beweismaterial hatte Alexander maßgeblich zur Anklage und Verurteilung namhafter NS-Ärzte während der Nürnberger Prozesse beigetragen – darunter der des Chefs des Sanitätsamtes der Waffen-SS Karl Genzken. Der Marineoffizier mit Kolonialerfahrung war aufsichtsführender Mediziner mehrerer Konzentrationslager und verantwortlich für massenhaft medizinische Versuche an Häftlingen.
Karl Genzken? Der ist doch bestimmt nicht verwandt mit Isa Genzken (* 1948), dachte ich, deren großartige Retrospektive 75/75 ich in den Wochen zuvor mehrmals besucht hatte. Das wäre doch in der Ausstellungsbiografie oder den zahlreichen Besprechungen und Rezensionen, die die Ausstellung begleiteten, irgendwo erwähnt worden. Zumal wenn zeitgleich im Souterrain, neben dem bekannten Birkenau Zyklus ihres ehemaligen Lebensgefährten Gerhard Richter auch das verwischte Bild seiner Tante Marianne ausgestellt war, einem Opfer der Euthanasiemorde der NS-Medizin. Wie könnte so eine Verbindung da nicht hergestellt werden? Was für eine Beziehung!
Allerdings fand ich zunächst weder im Internet noch sonst irgendwo mehr als Oberflächlichkeiten über die Familienzusammenhänge. Lediglich, dass der Vater Arzt, Wagner-Liebhaber und verhinderter Opernsänger war und die Mutter, in der Pharmaindustrie tätig, ursprünglich Schauspielerin werden wollte. Betont wird, dass es sich um ein kunstliebendes Elternhaus gehandelt habe, über das die Künstlerin jedoch nicht gerne zu sprechen scheint.
Es dauerte bis spät in den Abend, bis ich schließlich auf den Artikel „Sonnenschirme der Sehnsucht“3 stoße, publiziert 2013 im Spiegel, zwei Jahre nachdem Isa Genzken auf der Venedig Biennale den Deutschen Pavillon bespielte. Die Autorin Ulrike Knöfel klärt darin nicht nur über die Familienverbindung zu Karl Genzken auf – Isas Großvater –, sondern versucht auch darzulegen, inwiefern diese Information für das Verständnis der künstlerischen Arbeit relevant sein könnte. Sogar die Verbindung zu Gerhard Richters Tante Marianne ist erwähnt. Warum die Nationalgalerie diese größeren zeitgeschichtlichen Zusammenhänge für nicht erwähnenswert hält, ist mir unverständlich.
Beiträge wie die des Museumsdirektors Klaus Biesenbach im rbb, der die Ausstellung als eine Art Gratwanderung beschreibt, wirken vor diesem Hintergrund befremdlich. Er ermutigt „die Chronologie beim Betrachten hinter sich zu lassen – und auch einfach mal den Mund zu halten.“4 „Wenn Sie eine Gebirgswanderung machen und auf einem ganz schmalen Grat gehen, da müssen Sie aufpassen. Da unterhält man sich nicht, da passt man auf, dass man nicht irgendwo herunterfällt.“5 Den Grund für die Untiefen dieser merkwürdig heideggerianisch wirkenden Analogie enthält uns die Ausstellung in seinem Hause jedoch vor.
Bereits zu der für Isa Genzken im MoMA ausgerichteten Retrospektive 2013, so erfahre ich, griff das Tablet Magazin den Artikel aus dem Spiegel auf und warf dem Museum vor, die Beziehung zum Großvater zu verschweigen.6 Die Kuratorin Laura Hoptman, selbst Tochter einer Holocaust-Überlebenden, nahm daraufhin wie folgt für das Museum Stellung: „our research has convinced us that the crimes committed by a relative two generations removed who Genzken may or may not have met once in childhood was not pertinent to a discussion of her work.“7
So resolut weist das Statement jegliche Beziehung von der Künstlerin so weit als möglich weg, dass man förmlich den Schlussstrich spürt, den viele nach 1945 unter ihre deutsche Vergangenheit ziehen wollten. Dabei darf man schon über die generationsübergreifenden beruflichen Kontinuitäten der Familie staunen, in die Isa Genzken hineingeboren wurde. Ihr Vater Ernst Uwe tritt 1943, nach einjährigem Militärdienst bei einer Infanteriedivision, zur Kriegsmarine über, um wie sein Vater die Laufbahn als Marinesanitätsoffizier anzutreten.8 Die ärztliche Vorprüfung hierfür absolvierte er an der Universität Tübingen (1943–1945), an der bereits Karl Genzken studiert hatte und wird nach dem Krieg – wie sein Vater – Arzt. Sein Bruder, Isa Genzkens Onkel, war seit 1942 Mitglied der Waffen-SS.9 Margarete Genzken, Isa Genzkens Großmutter, war wie ihr Mann seit 1926 Mitglied in der NSDAP10 und leitete 1934 die Ortsgruppe der NS-Frauenschaft in Preetz.11 Ihre Familie stammte aus Bad Oldesloe, wo Isa Genzken schließlich geboren wurde. Isa Genzkens Mutter fand, wie bereits erwähnt, nach dem Krieg eine Anstellung in der Pharmaindustrie, und Karl Genzken senior zog, 1955 vorzeitig aus der Haft entlassen, in eine kleine Gemeinde im Schwarzwald, wo seine Schwester eine Apotheke betrieb.12 So betrachtet rücken die entfernten Generationen jedenfalls, anders als in der Rechtfertigung des MoMA, sehr nahe zusammen. In jedem Fall bekommt man das Gefühl, dass durch die einseitigen, gebetsmühlenartig in den Rezensionen wiederholten Darstellungen des ‚kunstliebenden Elternhauses‘ über einiges hinweggesehen wird.
Wie Isa Genzken mit ihrer Familiengeschichte umgeht, ist natürlich ihre Privatangelegenheit, aber eine exponierte gesellschaftliche Stellung – 2023 wurde sie zur einflussreichsten deutschen Künstlerin gewählt13 – macht den Sachverhalt schon etwas komplizierter. Man muss ihr vielleicht glauben, wenn sie sagt, dass sie ihren Eltern nichts vorzuwerfen habe, außer dass sie keine Geschwister hat – wie sie es in einem ihrer Interviews behauptete,14 und hoffen, dass dem eine kritische Auseinandersetzung vorangegangen ist. Die Nationalgalerie hat jedoch – meiner Meinung nach – die Pflicht, insbesondere bei einer so umfangreichen biografischen Rückschau, die relevanten zeitgeschichtlichen Zusammenhänge für die Öffentlichkeit her- und darzustellen. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass diese besondere Vorgeschichte nicht ihre dunklen Schatten auf das Leben und die Arbeit der Künstlerin geworfen hätte.
Selbst die Frage, inwiefern die Familie eine gewisse privilegierte Stellung über den Krieg retten oder wie schnell sie wieder in der Bundesrepublik Tritt fassen konnte, finde ich relevant. Frühe Reisen nach New York, ein Kunststudium in Düsseldorf oder die Villa in Berlin-Grunewald, die die Familie in den 1960ern bezog – es ist naheliegend, dass die Künstlerin davon indirekt profitiert hat. Auch solche Voraussetzungen können biografisch relevant sein und dafür sollten sowohl das MoMA wie auch die Nationalgalerie heute ein Gespür haben.
Keine dieser Informationen sollen Isa Genzkens künstlerisches Lebenswerk am Ende ihrer langen und großen Karriere diskreditieren. Im Gegenteil finde ich, dass die geschichtliche Information die Vielschichtigkeit dieser bereits komplexen künstlerischen Arbeit immens erhöht und auf eine Weise fundamentaler werden lässt. Isa Genzkens Arbeit ist voll von Bezügen, die ich kaum mehr außerhalb dieses Kontextes verstehen kann. Lange Zeit habe ich~ sie vor allem für die unglaubliche künstlerische Freiheit bewundert, nun sehe ich darüber hinaus ihr Gefängnis.
Ihre Geschichte verschiebt den Fokus von einer Künstlerin, die – über ihre künstlerische Arbeit hinaus – unter anderem auch dafür sehr geachtet wird, dass sie sich als Frau in einer Männerdomäne behauptet hat, zu einer Person, die sich mit einem bestialischen Erbe in den Kontinuitäten des post-nationalsozialistischen Nachkriegsdeutschlands behauptet hat. Ihr Schweigen wirft ein Schlaglicht auf genau diese Gesellschaft. Ihre Geschichte ist ein unentbehrliches Element und Beispiel für das Verständnis eines Deutschlands, in dem die Künstlerin heranwuchs und in dem ihre Arbeit entstand. Es ist mir unerklärlich, wie eine Retro­spektive – ausgerechnet hier in Berlin – so einen Kontext unterschlagen kann.

Isa Genzken, 75/75, Neue Nationalgalerie, Potsdamer Straße 50,
10785 Berlin, 13.7.–27.11.2023

1 Widerspruch des Autors zu Lawrence Weiners Statement „It doesn’t have to do anything with anything except with what you see.“ in: THIS IS ISA GENZKEN | MoMA, Film zur Ausstellung, 2013, 0:36 min.
2 Birgit Kofler-Bettschart: „Dokumentar des Schreckens“, Tagesspiegel, 12.11.2023.
3 Ulrike Knöfel: „Sonnenschirme der Sehnsucht“, Der Spiegel, 43/2013.
4 Marie Kaiser: „Isa-Genzken-Ausstellung in Berlin: Das eigene Gehirn auf Empfang stellen“, rbb24 Inforadio, 12.07.2023.
5 Klaus Biesenbach in: Marie Kaiser: „Isa-Genzken-Ausstellung in Berlin: Das eigene Gehirn auf Empfang stellen“, rbb24 Inforadio, 12.07.2023.
6 Batya Ungar-Sargon: „MoMa Catalog Omits Artist’s Nazi Grandfather“, in: Tablet, 21.11.2013.
7 Laura Hoptman in: Batya Ungar-Sargon: „MoMa Catalog Omits Artist’s Nazi Grandfather“, Tablet, 21.11.2013.
8 Siehe Bundesarchiv PERS 17 /V/SPO-G/14/Genzken, Ernst.
9 Siehe Bundesarchiv R 9361-III 52693_Genzken, Karl.
10 Siehe Bundesarchiv NSDAP-Gaukartei | BArch R 9361-IX KARTEI / 10661096.
11 Vgl. Ralf Mertens: „‘... eine neue Machtposition für die Bewegung zu schaffen’“, AKENS Informationen, Sept. 1998.
12 Vgl. Judith Hahn: Grawitz, Genzken, Gebhardt: Drei Karrieren im Sanitätsdienst der SS, Klemm & Oelschläger, Münster 2008.
13 CICERO-REDAKTION: „Isa Genzken ist einflussreichste Künstlerin 2023“, 21.11.2023.
14 Vgl. Isa Genzken in: Susanne Beyer und Ulrike Knöfel: „‚Ich bin gerne frech‘“, Der Spiegel, 23/2007.
Isa Genzken, Pink Rose, 2015, Foto: Benedikt Terwiel