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Im Spannungsfeld von Kairos und Chronos
2024:November //
Agata Szymanowska-Liebeck
Im Spannungsfeld von Kairos und Chronos / 2024:November
Für eine Minute lang leuchten diese Ziffern auf meinem Handy jeden Tag auf: 22:22. Manchmal treffen wir uns: die objektive zeitliche Signatur des mächtigen Chronos und mein Augenlicht, das aus einer anderen Dimension, aus meinem Kairos, durchdringt und einige Sekunden auf dem Display verweilt, das einen flüchtigen Moment meiner analogsubjektiven Existenz digital anzeigt. Dann mache ich einen Screenshot. Seit vier Jahren, immer wenn es der Zufall will.
Nicht zufällig ist die Auswahl der Uhrzeit. In ihrer symmetrischen Struktur, in der Wiederholung, ja in der Zahl Zwei selbst, verdichten sich die Zirkularität der Zeit und die universelle Dualität des Lebens, der Welt und der Zeitwahrnehmung. 22:22 Uhr ist eine Schnittstelle zwischen der messbaren (wirklich?), kontinuierlich und unabhängig von jedem Dasein und jedem Werden im Hintergrund laufenden Zeit und dem Moment, in dem sie ihre messbare Dimension verliert und subjektiv, an menschliche Erfahrungen geknöpft, dicht wird.
Die für mich greifbare, persönlich erlebbare Ebene der Zeit sind die vierzig Screenshots, die wie ein digitales Tagebuch punktuelle Einblicke in einen linear verlaufenden Ausschnitt von drei Jahren freigeben. Ein vier Meter langer Ausschnitt. Jedes Jahr ist, analog einer mittelalterlichen Kerzenuhr, mit absteigenden Einschnitten an der linken Seite der Screenshots markiert.
Gleiche Ziffern – ungleiche Zeitpunkte. In diesen Momenten sehe ich förmlich mein ephemeres Dasein, das sich wie ein winziges Fädchen auf eine unendliche Leinwand legt, um sich irgendwann in ihr aufzulösen. Hätte ich seit dem ersten Tag meiner Existenz bis heute einen Screenshot um 22:22 Uhr gemacht, so wäre – bemüht man hier den Raum, um Zeit zu visualisieren – meine Arbeit knapp 1872 Meter lang. Vielleicht gerade eine Zeptosekunde auf der Weltzeituhr?
Die Frage nach der Zeit führt zu keinem sinnvollen Ergebnis. Die Sprache selbst ist hier unzureichend, geradezu irreführend. Das Abstraktum ‚die Zeit‘ verführt zum Denken, dass man dieses ‚Ding‘ messen oder bestimmen kann. Dabei läuft sie, vergeht, zieht sich, bleibt gefühlt stehen, rast, verfliegt, ja endet sogar. Sie ist permanent im Werden. Was für ein paradoxer Satz!
Ich schaue auf die Sekunden. Jede leuchtet wie ein Punkt auf. Und was ist zwischen den Punkten? Nach Aristoteles’ Auffassung liegt dazwischen das Jetzt. Ein Punkt, der die Vergangenheit von der Zukunft trennt. Für Aristoteles ist die Zeit ein Kontinuum. Bemüht man die neuere Physik, um die Teile immer kleiner zu machen, landet man am Ende der Punktlogik bei der Planck-Zeit (10–44 Sekunden), dem Atom der Zeit. Leider ist zwischen Zeitspannen dieser Größenordnung rein gar nichts, hier gelten physikalische Gesetze nicht mehr. So ist die Zeit kein Kontinuum, weil ihr kleinster Teil, keine Zeit mehr ist. Habe ich also oben das Wort ‚kontinuierlich‘ korrekt gebraucht? Hat es einen Sinn, bis dahin zu denken, wenn unsere Sinneswahrnehmung so weit nicht reicht? Das überlasse ich besser der Quantenmechanik. Spannender erscheint für mich die laienhafte Frage, ob die Zeit unabhängig von mir existiert. Ähnlich wie bei einem Geräusch, das ein im Wald umfallender Baum erzeugt: Bedarf es für sein Vorhandensein, von Atmosphäre abgesehen, meiner Ohren? Die Zyklen der Natur und das kosmische Geschehen finden wunderbar OHNE mich statt.
Barbara Schmidt Heins’ Wortpaare (z. B. Zeit und Raum; wachen und schlafen; Bewegung und Stillstand) thematisieren in ihrem Werk Gezeiten die Zeitlichkeit auf positive Weise, versuchen, den für uns sichtbaren Rhythmus, die ewige sinnlich wahrnehmbare Veränderung und den unaufhörlichen Fluss der Zeit zu benennen. Für mich aber ist der Chronos wie eine mehrdimensionale, unendliche Leinwand, die ohne meine Worte, ohne menschliche Zeitmessung und ohne unsere Sinne existiert und die ich erst dann intelligibel erfassen kann, wenn ich mich von der Sprache löse: ohne Alpha/ohne Omega; ohne vorher/ohne nachher; ohne Geburt/ohne Tod. Paradoxerweise bin ich auf Bild und Wort angewiesen, um mich auszudrücken.
Die Kombination aus digitaler Momentaufnahme und achtsamer Reflexion schafft einen Raum, in dem beide Zeitkonzepte aufeinandertreffen und miteinander in Dialog treten. Vielleicht kann man sich dem „Konstrukt unseres Bewusstseins“, wie Henri Bergson es 1889 formulierte, nur intuitiv nähern. Vielleicht lebe ich im Kairos auf der Leinwand des Chronos, und um 22:22 Uhr führen wir ein kurzes Tête-à-Tête, wenn es der Zufall will.