Draußen zog von Hochspannungsleitungen, Schienen und Autobahnen durchschnittene Landschaft vorbei. Einzelne Siedlungen. Bewässerungsgebiete. Im Hintergrund, wo sich die Ebene im Dunst aufzulösen begann, die Hochhäuser der Außenbezirke von Tel Aviv. Die Verkehrsdichte war enorm. Er dachte, wie in LA, nur wilder. Aus irgendeinem Grund hatte er das nicht erwartet. Das Taxi schnitt Kurven und Spuren nach Belieben.
An einem Autobahnkreuz bogen sie auf eine sechsspurige Schnellstraße ab, die in Richtung Zentrum führte. Der Verkehr nahm weiter zu; die meisten Fahrzeuge, die ohne erkennbare Regeln zu ihnen aufschlossen, sie überholten oder in ihre Fahrbahn drängten, waren Modelle aus Fernost, Gebrauchsgegenstände, keine Statussymbole. Auf den Verkehrsschildern standen die Ortsnamen in Hebräisch, Arabisch und Englisch; die Bebauung wurde dichter, bunt zusammengewürfelte Flachbauten drängten sich vor modernen Hochhäusern. Dazwischen gähnten Baulücken und Brachflächen, auf denen sich alle Arten von Schrott und Vegetation fanden. Ein Großteil der Fassaden war von Smog und Seeklima angefressen. Sie bogen ein weiteres Mal ab, querten eine Hochstraße und der Taxifahrer schaltete das Navigationssytem ein. Kurz darauf stoppten sie an einer Ampel. Auf dem Platz zu ihrer Linken spielte das feierabendliche Leben auf Bänken und Metallstühlen, die, wie es aussah, tief in den Boden eingelassen waren, und um sie herum; es sah aus, als sollten sie dort für alle Ewigkeit überdauern. Trotz des Verkehrs war die Atmosphäre von Gelassenheit geprägt. Wenige Minuten später checkte er in sein Zimmer ein.
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Zum offenen Fenster drangen Verkehrslärm und das Durcheinander unterschiedlichster Stimmen hoch. Kinder auf dem Nachhauseweg von der Schule, wie er annahm. Frauen, die irgendetwas kommentierten und diskutierten. Und Männer, die Anweisungen gaben oder sich beschwerten. Unter großer Aufregung wurde ein Bus in seine Parkposition dirigiert. Das Drehen eines Dieselmotors im Leerlauf, energisches Klopfen auf Blech und schließlich das Verstummen des Motors. Es war heiß. Das Zimmer war so klein, dass nicht einmal ein Kleiderschrank darin Platz fand. Dafür war das Bad sauber, ein großer Flachbildfernseher hing an der Wand und das Wireless LAN funktionierte. Er hängte seine Hemden auf Bügel an einem Haken an der Tür.
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Er verließ das Hotel nicht in Richtung Allenby, von wo er gekommen war, sondern durch den Ausgang zur Nebenstraße, die direkt zum Meer führte. Die Frau an der Rezeption lächelte ihm aufmunternd zu, als er den Schlüssel abgab. Das verwirrte ihn. Dennoch dachte er daran, für alle Fälle eine der ausliegenden tourist maps einzustecken. Draußen überfiel ihn ein weiteres Mal die Hitze. Durch die Yona HaNavi, eine Wohnstraße mit engen und unebenen Gehwegen, die von mehrheitlich drei- bis vierstöckigen Häusern mit Balkonen und abblätternden Fassaden gesäumt wurde, lief er bergab. Er nahm Palmen und Gummibäume wahr, außerdem Mimosa Trees und Bougainvillea. Apartmentblöcke. Hotels und Baustellen rückten dem Quartier aus allen Richtungen auf den Leib. An einer Stelle musste er über die steile Gehwegkante auf die löchrige Fahrbahn ausweichen und einen Bogen um noch weitgehend unverdauten Mageninhalte machen, die jemand kurz zuvor erbrochen hatte. Er überquerte die Ha Yarkon, eine parallel zum Strand verlaufende mehrspurige Einbahnstraße, in deren Blickachse das Isrotel Tower Hotel lag, ein unproportionierter, sich nach oben verjüngender runder Turm mit angesetzten Balkonen und großen Dachterrassen in den oberen Stockwerken. Etwas weiter stieß er auf die Retsif Herbert Samuel, die den Verkehr in der entgegengesetzten Richtung entlang der Strandpromenade auf Jaffa zuführte. An einem Imbiss bestellte er ein Sandwich mit Pfefferschinken und allerlei Soßen und Salaten, dessen Zubereitung einige Zeit in Anspruch nahm. Ihm wurden, während er wartete, sauer eingelegte Mixed Pickles angeboten, und auf einem Flachbildschirm lief ein Musiksender mit 90er-Jahre-Rock. Als sein Essen fertig war, nahm er ein Bier dazu, das Goldstar hieß, und ging mit beidem an den Strand. Er setzte sich in den feinen Sand und interessierte sich zunächst weder für die Hochhäuser entlang der Promenade noch für den Blick auf die Altstadt von Jaffa. Stattdessen sah er aufs Meer hinaus, das sich hinter großen Wellenbrechern blaugrau an den diesigen Himmel verlor. Kinder spielten in den Resten der Brandung, die den Strand schräg und wenig furchteinflößend erreichte. Die aufstäubende Gischt an den hoch aufgeschichteten Betonklötzen weiter draußen zeigte an, dass die Naturgewalt zwar gebändigt, aber keineswegs bezwungen war.
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Am nächsten Tag spazierte er am Mittag die Allenby entlang bis zum Magen David Square. Hier bog er nach rechts ein und ließ sich mit der Menge durch den Harcarmel Market treiben. Stände mit Bergen von Jeans, Hemden, Tüchern und Schuhen, getrockneten Früchten und Obst, Fleisch in Kühltheken, Spielwaren, frische Säften und Süßigkeiten begrenzten den Strom der Menschen nach beiden Seiten und gingen nach hinten in kleine Läden in einfachen, größtenteils eingeschossigen Häusern über. Wo die Straße nicht durch die ausgefahrenen Markisen oder Marktschirme der Händler sowieso zur Gänze überdacht war, hatte man zwischen den Häusern zusätzliche Stoffbahnen gespannt. Ab und zu nur ließ sich aus dem Gewimmel ein Blick auf die Hochhäuser und Baustellen des modernen Tel Aviv erhaschen, das die älteren oder weniger schicken Teile der Stadt überall umstellte. Als er genug davon hatte, mit dem Strom mitzuschwimmen und über Gehwegkanten oder Bananenkartons durch die Fülle von Gerüchen und Farben zu stolpern, scherte er aus und fand sich, aus Schatten und Geschäftigkeit tretend, am Rande einer als Parkplatz und Busbahnhof genutzten Brachfläche wieder. Auf der einen Seite wurde sie von den Flachbauten des Marktviertels mit ihren bunt beschrifteten Fassaden, Werbeschildern, provisorischen Warenlagern, Versorgungsleitungen, Mülltonnen und Sonnendächern begrenzt. An den Längsseiten überwog städtisch post- oder neomoderne Appartementbebauung, gegen die sich noch vereinzelt kleinere funktionale Gebäude aus der Mitte des letzten Jahrhunderts hielten. An ihnen waren durch Generationen von Bewohnern Erweiterungen und Ergänzungen vorgenommen worden und individualisierten die ehemals allem Anschein nach eher gesichtslosen Häuser. Es gab vorkrakende Wellblechdächer, die Balkonen Schatten spendeten, weiß getünchte Giebel mit ornamentalen Davidssternen, und an einigen Balkongeländern waren israelische Flaggen angebracht. Auch was die Graffiti an Gebäuden und Mauern anging, waren Davidssterne ein Thema, allerdings nur eins neben anderen. Sie schienen Zeichen stolzen Beharrens zu sein; Beleg dafür, dass die Israelis hier ihren Staat errichtet hatten, an dem sie festhalten würden, wie die Menschheit insgesamt sich aller Feindseligkeit der Umwelt zum Trotz auf der Oberfläche des Planeten hielt. Zwischen den versiegelten Flächen und Fassaden sprossen auch hier Bougainvillea, Palmen, Gummibäume oder Mimosa Trees. Er ärgerte sich, dass er kein Ivrit lesen konnte. Nur ein Bruchteil der Werbe- und Hinweisschilder war für ihn verständlich, und an die Entzifferung von Tags oder Graffiti war gar nicht erst zu denken. Durch einen kargen, leicht hügeligen Park, der gegenüber des Marktes an die Brache anschloss, setzte er seinen Weg fort. Die Hotelkomplexe, auf deren Rückseite er zusteuerte, verrieten ihm, dass er sich in Richtung Strand bewegte.
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Vor der Altstadt von Jaffa badeten in erster Linie arabische Familien, die komplett bekleidet ins Wasser gingen. Er stand auf einer Aussichtsplattform und war verloren in die Betrachtung der reflektierenden Skyline. Hinter dem Strand löste sich die Stadt nach Norden und Osten im Dunst auf. Zwischen der Kante der Hochhäuser und seinem Standort hatte sich ein ganzes Viertel aus Ausflugslokalen angesiedelt. Um ihn herum fotografierten Touristen mit Spiegelreflexkameras oder Smartphones. Alle drückten einmal in Richtung Altstadt Jaffa ihren Auslöser, drehten sich dann um und machten die nächste Aufnahme in Richtung der Strandpromenade von Tel Aviv.
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Er ließ das touristisch herausgeputzte Old-Jaffa links liegen und lief über den Hafen weiter nach Süden bis Ajami. Der traditionell von eher ärmeren arabischen und christlichen Schichten bewohnte Stadtteil war seit einigen Jahren aufgrund der Lage über dem Meer einem anziehenden Immobilienboom ausgesetzt. Zu dieser Thematik hatte er noch im letzten Herbst einen seinerzeit viel besprochenen und hochgelobten Film auf DVD gesehen und daraufhin beschlossen, sich Tel Aviv und Ajami beziehungsweise Jaffa unbedingt anzuschauen, bevor der Charme der Stadt ganz im Würgegriff des israelischen Turbokapitalismus untergegangen wäre; so kam es, dass er nun allein in Ajami auf einer Mauer über einer kleinen Parkanlage mit einem modernen Spielplatz ohne Kinder saß, Falafel aß und aufs Meer schaute.
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Nach dem Abendessen in einem Burger-Lokal war er auf der Nahalat Binyamin erneut nach Süden spaziert, über den Sderot Rothschild hinweg, auf der Suche nach dem Nachtleben; hier war er zunächst auf einen größeren Club gestoßen, der Livemusik versprach. Zu der Location gehörte ein Hof, der allem Anschein nach vor seiner Umnutzung Werkstätten beherbergt hatte und noch Spuren der Arbeit aufwies, die einst zwischen schuppen- und garagenartiger Bebauung verrichtet worden war. Dann aber hatte ihn ein Probelauf der Musik abgeschreckt und er war weiter bis zur Lilienblum gegangen, in die er einbog. Über diese Straße hatte er im Internet herausgefunden, dass sie das Nachtlebenzentrum Tel Avivs darstellte – oder zumindest eins davon. Es war gegen halb elf und Restaurants und Delis waren gut frequentiert bis überfüllt. Da alle Quellen besagten, dass das Nachtleben der Stadt erst spät startete, ging er davon aus, dass die meisten interessanten Adressen zu diesem Zeitpunkt noch verlassen daliegen würden, wenn sie überhaupt schon geöffnet hatten, und hielt Ausschau nach einer Bar, die ihm einladend schien. Auf der Lilienblum gab es Clubs, Bars und Bars mit angeschlossenen Clubs so viel man nur wollte und für jeden Geschmack. Bis auf zwei größere Läden, bei denen er durch die Fensterfront ins noch kaum belebte Innere schauen konnte, waren die Locations aber in der Regel fensterlos und so vor neugierigen Blicken geschützt. Vor den Eingängen saßen Türsteher; das schien hier normal, Sicherheitsroutine einer angefeindeten Gesellschaft.
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Im Taxi durch die abendlichen Straßen. Die auf dem Asphalt quietschenden Reifen beim Abbiegen schreckten eine massige, verschleierte Frau auf, die sich behänd in den Schatten einer dunklen Einfahrt zurückzog. Hinter ihnen erhob sich der Neve Tzedek Tower weiß über dem Gewusel des Florentin, eine Enklave der Reichen über einem Viertel im Umbruch. Vor ihnen ging die Wohnbebauung entlang der Levinski nach einigen kleineren Nebenstraßen in eine Zone mit verrammelten Läden, Garagen, Lagerschuppen und beschmierten Mauern über, in der kein Mensch auf der Straße zu sehen war. Sie passierten die ausgebrannten Wracks zweier Autos und ein riesiges Airbrush-Gemälde, auf dem er aus dem Augenwinkel einen stilisierten Sensenmann auf einer Harley ausmachte. Als sie die nächste größere Kreuzung erreichten, nahm die Fahrzeugdichte wieder geringfügig zu, allerdings erkannte er, dass man hier nicht unbedingt auf das Tel Aviver Abend- und Ausgehpublikum traf, wie er es von seinen bisherigen Spaziergängen kannte. Der Verkehr floss zügig in Richtung Stadtzentrum oder Autobahnzubringer. Sie überquerten die Kreuzung, hinter der sich zu seiner Linken ein weitläufiges und zum Teil umzäuntes Gelände erstreckte, das er als den Levinsky Park ausmachte. Der Fahrer drosselte die Geschwindigkeit und hielt gegenüber des Parkeingangs. Flutlichtmasten spendeten gespenstische Helligkeit. Der Eingangsbereich war von Akazien gesäumt, Richtung Busbahnhof markierten hohe Laubbäume die Grenze zwischen Grünfläche und Straße. Händler hielten im Schatten in Pappkartons ihre Waren bereit oder lauerten ohne erkennbare Angebote auf ihre Klientel: dunkle Gestalten mit Kapuzenpullis oder Basecaps, die einzeln oder in Kleingruppen herumlungerten und deren Territorium sich auch in den Park hinein zu erstrecken schien. Wer hierher kam, dachte er, wusste, was er wollte, und brauchte keine Auslagen. Kundschaft, die sich zufällig in diesen Winkel der Stadt verirrte, war kaum zu erwarten. Ein kleiner Platz mit überdachten Bänken, die ein einladendes Rund bilden sollten, lag genauso verlassen da wie die darum herum verteilten Spielgeräte für Kinder. Nur einige Jugendliche waren unterwegs zu einem der ebenfalls umzäunten und taghell beleuchteten Fußballfelder auf dem Parkgelände.
TBC. Eines (besseren) Tages. Auszüge aus dem Manuskript eines unveröffentlicht vorliegenden Tel Aviv-Romans