wo ich war

2024:November // Esther Ernst

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11-2024

RAVEN LUCY 1. April 2024
Ready Mix
Neue Nationalgalerie Berlin

Passend zur benachbarten Baugrube und der Grundsteinlegung des Museums der Moderne (Herzog & de Meuron) hat Biesenbach Lucy Raven in die obere Halle eingeladen. Ihre Filminstallation Ready Mix dokumentiert ein Beton- und Kieswerk in Idaho und zeigt mit nüchterner und aufwändiger Kamera die komplexen Produktionsabläufe vom Kiesabbau bis zum Betonguss. Die rhythmischen Schwarz-Weiss-Bilder sind streckenweise anstrengend, dann aufregend, zwischendurch wirken die tanzenden Kieselsteine auf den Förderbändern wahnsinnig schön, überhaupt diese kraftvolle, industrialisierte Schönheit und Tristesse gleichzeitig… Das Betonproblem allgemein, unsere zubetonierte Welt, der Umgang mit Rohstoffen. Nichts davon wird angesprochen, schwingt aber mit - bei mir zumindest. Die 4-Kanal-Tonspur ist extrem geräuschvoll und wabert zwischen synthetischem Sound und O-Ton.



VOIGT JORINDE 6. April 2024
Constant Vision
Max Liebermann Haus, Brandenburger Tor, Berlin

Die Ausstellung, nein die Kunst, ist wie erwartet stylisches Design. Habe auf Instagram gesehen, dass Jorinde eine Wandzeichnung angefertigt hat und war neugierig. Aber nicht beeindruckt. Mir scheint, im Atelier Voigt ist alles möglich, und umsetzbar, und zwar problemlos. Und das ist irgendwie unangenehm.
Über die aalglatte Ausstellung bin ich an einer Stelle aber doch gestolpert, nämlich bei den sechs nigelnagelneuen Zeichnungen mit dem Titel Constant Vision, weil die so wurstig, unbeholfen, heiter, grob und comichaft wirken. Während sonst alles wahnsinnig schlank und kontrolliert durchdekliniert ist.
Bei der Gegenüberstellung von Beuys’ Lithografie Flug des Adlers ins Tal und zurück und Voigt’s Epikur ist so offensichtlich, was ich immer spürte: das ist nicht echt, was die macht, das schaut einfach gut aus.



?, NICOLAI OLAF 7. April 2024
Die größte Gaslaterne der Welt
Upper West Hochhaus, Kantstraße, Berlin

Ich: glaubst Du, das ist Kunst oder Quatsch?
Du: Kunst.
Ich: so wie Erwin Wurm, nur ohne Beule?
Du: ich geh mal das Hotel fragen…
Du: …der Architekt wollte das so.
Ich: mein ehemaliger Galerist sagt, wenn Künstler*innen nix mehr einfällt, dann vergrössern sie. Aufgeblasen sieht alles gut aus.
Google Maps sagt, die Laterne leuchtet nicht.
Die Berliner Morgenpost schreibt, dass das eine Kunst-am-Bau von Olaf Nicolai ist, der im Auftrag der Strabag Real Estate die 16 Meter hohe und vier Tonnen schwere Gaslaterne aus hochglänzend poliertem Edelstahl mit dem Titel Lesser (Hommage an den impressionistischen Maler Lesser Ury, der das elektrische Licht verehrte) geschaffen hat. Anscheinend schaltet sie sich bei Sonnenuntergang ein.



PISANI PATRICIA 7. April 2022
Denkzeichen zur Erinnerung an die Ermordeten der NS-Militärjustiz am Murellenberg in Berlin

Da staunen wir erst über diese kleine Schlucht mit Bruchbiotop am Rande der Stadt und stehen plötzlich im Wald voller Verkehrsspiegel. So viele, dass sofort klar ist, dass die keinen Mountainbike-Sinn machen. Und lesen: Hier auf dem Gelände der ehemaligen Wehrmachterschießungsstätte Ruhleben wurden zwischen August 1944 und April 1945 mehr als 230 Menschen, überwiegend Wehrmachtsangehörige, zumeist wegen Fahnenflucht oder Wehrkaftzersetzung erschossen.
Oha. Ich habe im Quartier davor schon gerätselt, ob dort oben an der Waldkante Kasernen stehen, jetzt erschliesst sich mir der ganze Ort hinter dem Olympiastadion erst richtig.
Gutes Denkzeichen.
Du sagst, Du hättest den rot-weißen Verkehrsrand um die Spiegel weggelassen und ich geb Dir sofort recht.



UTOPIA. Keep on Moving 18. Mai 2024
Akademie der Künste, Berlin

Ist meine Überforderung von der komplex verhakten Problemwelt Grund dafür, dass ich kaum Lust verspüre, mich auf Utopien einzulassen? Ich wüsste auch nicht, ob ich die Arbeiten (hauptsächlich Videos), die ich da geschaut hab, unter diesem Thema zusammengefasst hätte… Christin Bergs Filminstallation mit dem trockenen Eichenwald Olevanos und der schlichten Bar der Akademie am Hansaplatz, an der sich Frauen und Kinder begegnen oder eben nicht, hat etwas Zartes, Offenes. Dann erinnere ich mich an den peruanischen Film mit dem Salzsee, über den ein mit farbigen Drachen maskierter Mann einen Pflug aus Anzügen hinter sich her zog. Und ein spanisches Video, in dem zwei Kinder Karl Marx vorlesen und eine Großmutter erklärt, was Kommunismus, Proletariat oder eine Revolution bedeutet. Und Kathrin Rögglas Soundinstallation im Lift, in der sie mittels KI das Ein- und Aussteigen, das Befinden, die Orientierung thematisiert. Und Kowalskis Rabenbären…



PRINZ GOHLAM 20. Juni 2024
Im Schlangenhain. 150 Jahre Serpentara
Akademie der Künste, Hanseatenweg, Berlin

Zum Festakt der Villa Serpentara in Olevano Romano hat die Villa Massimo gemeinsam mit der Akademie der Künste eingeladen. Es gibt Reden, Lesungen (Rike und Inger-Marie Mahlke lesen aus den historischen Herrenbriefen über die Rettung des oft vermalten und hochromantischen Eichenwaldes der Serpentara…), Musik und eine Performance von Prinz Gholam, auf die ich mich gefreut hab. Weil ich ihre gezeichneten Papiermasken super finde. Und mich ihre minimalen und präzisen Körperhaltungen mit den Masken beschäftigen. Ihre aus der Kunstgeschichte nachgestellten Posen, die sie mit laufenden Maskenwechseln, neu einnehmen. Aufeinander reagieren, Verhältnisse ausloten.
Läuft dazu Morton Feldman? Warum überhaupt Musik?



DRECHSEL KERSTIN 27. April 2024
Penatenhimmel
Galerie Zwinger, Berlin

Toller Raum, alles stimmt, ist fein installiert, miteinander verwoben, brüchig, mutig und wohl bedacht. Die kleinformatigen Malereien auf Sperrholz liegen dezent auf eleganten Silberrahmen. Die in Kreuzstichschrift übersetzten Notizen sind keine roten Stickereien auf weißem Leinen, sondern Siebdruck auf Holzplatten. Und klappen wie riesige Bibelseiten den Raum auf. Flennen war an der Tagesordnung steht da. Oder wer mit wem geküsst, obwohl verheiratet, wer wen übergangen, überfordert oder geopfert hat. Wer wie eifersüchtig und sich wann warum verhält. Sind es Jugendtexte? Kirche spielt eine Rolle, daher vielleicht auch die Penaten, römische Schutzgötter für Speisevorräte - in Geschlecht und Wesen offen.
In der Kapelle knien und hexen.
Aus Friedensgruss wird Zungenkuss




SPORE INITIATIVE 27. Juni 2024

Ich: öh, was ist das?
Susanne: ich weiss es auch nicht. Ein Ort, der herkömmliche Kategorien auflöst und neue Schnittstellen fördert. Ein Ort, an dem Mensch denken, fühlen und sich vernetzen können. Mir fehlen die passenden Worte.
Krasse Architektur (AFF). Schaut aus wie in der Schweiz. Teuer und gut gemacht, an nichts gespart. Spore ist für alle offen. Wenn sich hier palästinensische Aktivist*innen treffen, darf die Polente nicht rein. Im ersten Stock stellen in zwei grosszügigen Ausstellungsräumen nicht nur Künstler*innen aus, sondern Mitwirkende, und dass sind eben auch Bäuer*innen, Förster*innen, Wissenschaftler*innen, Bewohner*innen usw. Im armenischen Kaffee erzählt uns der Barmann, dass der Stifter und Unternehmer Hans Schöpflin (Lörrach) kollektive Prozesse des globalen Südens mit dem globalen Norden verknüpfen will und biokulturelle Anliegen fördert. Kann’s gar nicht recht fassen, dieses Gebäude in Berlin, neben den Prinzessinengärten…



NICOLAI OLAF 5. Juli 2024
Gadget
BER Flughafen Brandenburg

Schau, das dort hinten ist doch Kunst. Lass uns gucken gehen.
Eine überdimensionale Lichterkette um die Fluggastbrücke vom Gate zum Flugzeug.
Blinkt.
Olaf Nicolai (schon wieder ein Objekt im Massstab vergrössert).
Blinkt nur bei Nutzung, respektive visualisiert pulsierend die verschiedenen Zustände von Abfertigung bis Take off.
Vom Rollfeld schaut das Gadget heiter aus.
So, jetzt ab nach Jerevan.
Alle Fotos: Esther Ernst