Kleine Räume

(für kreative Träume)

2024:Mai // Andreas Schlaegel

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05-2024

Vor ein paar Tagen bin ich an einem Lastenfahrrad vorbeigekommen, auf dessen Ladefläche mehrere Vitrinen mit zahlreichen Exponaten installiert waren, versehen mit Erklärungen. Unter anderem eine Vitrine, überschrieben mit „Mein Magischer Raum“, ein Ausstellungsplakat für eine Ausstellung im Jahre 2022 sowie eine zweite Vitrine, mit einer Sammlung kleiner Zeichnungen von zum Beispiel einer Katze auf einer Decke, in der Mitte eine Assemblage mit dem Schriftzug „Arrow“ und einem Plüschschaf, das mit einem wolkenförmigen Zettel als „Erna Mutigstes Künstler-Schaf der Welt“ versehen war. An einer Seite des Lastenrads gab es auch eine Anleitung, wie laut Betrachtende zu applaudieren hätten, und einen ausführlicheren Text, der das Rad als „kleinste mobile Kunstgalerie der Welt“ bezeichnete und das Thema der „aktuellen und ersten Ausstellung“ mit „Freude und kreative Träume“ benannte. Im weiteren Text taucht noch eine Urheberin namens Juliana auf, die an Joseph Beuys’ „Unterricht eine Zeitlang teilnehmen durfte“, sowie Mara, deren Bild unshine on Earth das „Thema Klimawandel“ aufgreift, dies jedoch mit „besonderer Strahlkraft“.
Vielleicht klingt bereits in der Beschreibung an, dass ich mich ein wenig darüber amüsieren möchte. Allerdings stehe ich diesem Projekt in all seiner augenscheinlichen trashigen Unbedarftheit auch freundlich gegenüber. Ich habe erst hinterher bemerkt, dass ich viele Elemente dieser Idee eigentlich ganz gut finde, vom kreativen Traum zum magischen Raum. Ich mag kleine Kunstprojekte.
Ob es sich hierbei allerdings um die kleinste mobile Kunstgalerie der Welt handelt, da bin ich mir nicht sicher. Ich weiß allerdings vom russischen Künstler Anatoli Shuravlev, in dessen Werk Miniaturisierung eine große Rolle spielt, dass es in Moskau Anfang der 2000er-Jahre die Galerie Mantel gab. Der Galerist lud Künstler ein, ihm kleine Arbeiten zu überlassen, die er in seinem weiten und langen Mantel unterbringen konnte, mit dem er dann in Moskau bei großen Kunstveranstaltungen auftauchte, wie zum Beispiel der ersten Ausgabe der Moskauer Biennale. Auf Zuruf öffnete er seinen Mantel wie ein Exhibitionist oder ein Schwarzmarkthändler, zeigte die Werke seiner klandestinen Ausstellung und bot sie um Verkauf an. Ein Nachteil allerdings hätte sein können, dass die Galerie zu eng mit dem Galeristen verbunden war – nach einer russischen Feiernacht blieb die Galerie Mantel geschlossen.
In die gleiche Zeit fällt der Beginn eines vergleichbaren Projekts, das der Künstler Ralf Schmitt (mittlerweile eine Hälfte des Teams des Berlin Art Institute bai) für die Dauer von zehn Jahren betrieb, die Förderkoje. Das Motto lautete: „ausgestellt wird nur, was nicht vertreten, nicht vertretbar ist.“ Das Format Förderkoje ist hinlänglich bekannt, meist um einzelne Künstlerpositionen im Kontext einer Messe herauszustellen. Aber Ralf Schmitt richtete sich eine kleine Kammer von kaum anderthalb Quadratmetern Größe in seiner Privatwohnung als eine Art Zwischending zwischen Galerie und Salon ein, die nicht nur der Selbstreflexion diente, sondern auch immer wieder das Spannungsfeld zwischen Fordern und Fördern auslotete. Dies geschah anhand von künstlerischen Interventionen, Performances, Talks, Ausstellungen, oft mit anschließendem lebhaften „Table Talk“ am Küchentisch. Viele Beiträge zeichneten sich dadurch aus, dass sie auf aktuelle Ausstellungen oder Skandale reagierten oder an diese diskursiv andockten, häufig fielen auch prominente Namen – aber manchmal war nicht ganz klar, ob diese tatsächlich ihre Hand unmittelbar im Spiel hatten oder eher im Geiste anwesend waren. Das spielerisch-ambivalente Verhältnis zu den Autoritäten des Kunstbetriebs war Programm.
Leider gab es dann in der neuen Wohnung des Betreibers keine Kammer mehr, die Förderkoje zog zunächst in den Hamburger Bahnhof um, als Rekonstruktion in Originalgröße. Der anarchische, respektlose Geist des Originals ließ sich jedoch nicht so ohne Weiteres verpflanzen. Stattdessen begann Schmitt mit einer Art Kunstreiseportal – MyVisit war eine Serie von Veranstaltungen, für die sich Gastgeber bewarben und die in einer Reihe von Hausbesuchen mündeten. Zehn Jahre nach der Gründung erlosch der Markenname Förderkoje und das Projekt war damit endgültig Geschichte.
Seitdem gibt es aber eine ganze Reihe winziger Kunst­räume. Nur drei Jahre nachdem die Förderkoje das Zeitige gesegnet hatte, gründete Lotte Møller (damals gemeinsam mit Jesper Dyrehauge) in einem Neubau in der Oderberger Straße die raum, einen nur fünf Quadratmeter großen Schaufensterraum unter einer Treppe, flankiert auf der einen Seite von einem Lokal (damals Schädel und Sattler, heute otto) und einem Hauseingang auf der anderen. Das Fenster ist ein wenig breiter als die Haustür daneben, es bietet den Blick auf den kleinen Raum dahinter, der von hohen Betonwänden dominiert wird. Zur Zeit ist dort noch die 59. Ausstellung zu sehen, mit lässiger Malerei der amerikanischen Künstlerin Elizabeth Ravn unter dem Titel Exposed Aggregate. Figurative, kleinformatige Bilder zeigen u.a. einen weiblichen Akt, der ein wenig überrascht aus der eigenen Privatsphäre im Bild auf den Betrachter auf der Straße blickt, oder eine Baustelle, in der eine Waschbetonwand (exposed concrete = Waschbeton, Sichtbeton) mit rosa Dämmplatten verkleidet wird, die die Assoziation aufkommen lässt, dass das Bild einen früheren oder zukünftigen Aggregats-Zustand des Ausstellungsraumes darstellen könnte. Ich habe einige Ausstellungen dort gesehen, in den letzten Jahren sogar etwas intensiver als sonst wegen nächtlicher Corona-Spaziergänge, und weil man durch das Schaufenster zu jeder Tages- und Nachtzeit einen Blick auf die Kunst werfen kann. Auch wenn die Restaurantgäste nebenan das komisch finden.
Es ist schon erstaunlich, wie hoch das Niveau ist, das Lotte hier vorlegt. Das ergibt sich auch aus einem stringenten Programm, welches einen kleinen Schwerpunkt auf die dänische Kunstszene in und jenseits Berlins richtet, und aus der sehr präzisen Platzierung sorgfältig ausgewählter Arbeiten, bei denen es stets auch darum geht, eine existierende künstlerische Position in diese schwierige räumliche Situation zu bringen. Das Bemühen um künstlerische Integrität ist immer spürbar, zwar gibt es auch Arbeiten, die speziell für den Raum entstanden sind, häufiger werden sie aber an- oder besser eingepasst – und das gelingt erstaunlich gut. Eine meiner Lieblingsarbeiten war die einer Schwedin: Annika Ströms seven Women standing in the way bestand aus nichts weniger als sieben Frauen, die so hartnäckig im Weg standen, dass bei der Ausstellungseröffnung kaum jemanden in den Ausstellungsraum gelangte, oder wenn doch, dann kaum noch heraus.
Ein weiteres Schaufenster, das es ungefähr genauso lange gibt, ist das Berlin Weekly-Schaufenster in der Linienstraße, fast so etwas wie das Gegenstück zu die raum, nicht nur weil das Schaufenster und der Raum dahinter größer sind, sondern die dort gezeigten künstlerischen Positionen legen ihren Fokus auf ihre Inszenierung. Immer entstehen sie exklusiv für diese ehemalige Tordurchfahrt, die verschlossen und mit einer zentralen Präsentationswand versehen wurde. So klein ist der Präsentationsraum nicht – immerhin doppelt so groß wie die raum. Die nächtliche Beleuchtung gibt den Projekten meist etwas sehr Theatralisches. Häufiger ergab sich mir als Passanten der Eindruck, als würde ich nach einer Vorstellung kommen – das Bühnenbild steht noch, aber das Stück habe ich verpasst. Zu den Eröffnungen ist einiges los und manchmal steht eine Performance, Lesung oder eine andere Form von Event im Zentrum. Stefanie Seidl betreibt dieses Schaufenster seit 2010 und hat zum Zeitpunkt, da ich diesen Text schreibe, bereits beeindruckende 166 Projekte realisiert. Das Besondere ist der Public Call, jeder kann sich darauf bewerben, hier ein Projekt zu realisieren, ein kleines Honorar wird auch gezahlt. Auch wenn sich hin und wieder bekannte Namen an dieser Stelle betätigen, fungiert Berlin Weekly eher wie ein Inkubator, weil die besondere räumliche Konstellation, in Nachbarschaft einiger der bekanntesten Galerien der Stadt, hier gerade junge Künstler*innen herausfordert, ihre Position zu klären, indem sie diese auf die vorgegebene Situation anwenden. Dementsprechend sind die Resultate sehr heterogen und meist zumindest unterhaltsam.
Aber ich möchte an dieser Stelle gar nicht zu sehr einzelne Projekte bewerten. Der Punkt ist eher der: Die Art und Weise, wie wir Kunst betrachten, unterliegt vielen Verzerrungen. In der Hauptstadt werden wir mit Kunst geradezu überflutet, in anderen Metropolen gibt es immer noch einiges zu sehen, und in ländlichen Regionen ist Kunst Mangelware. Zusätzlich existiert eine mediale Verfügbarkeit und Verknüpfung aller Ausstellungen, die weltweit stattfinden, sei es jetzt in Venedig, Sao Paolo, New York oder Seoul. In Berlin gibt es ganz viele Räume, die klein sind, keine üppige Ökonomie bedienen müssen und, weil relativ unabhängig, machen können was sie wollen.
Deshalb möchte ich in Zukunft mehr Zeit dafür verwenden, kleine Räume zu erforschen, die ich noch nicht kenne, weil ich der unmittelbaren Umgebung mehr Aufmerksamkeit schenken möchte. Vielleicht auch hier, für diese Seiten. Ich muss mich immer wieder selbst daran erinnern, was es zu entdecken gibt neben den spektakulären Ausstellungen, die von allen besprochen werden, die man anscheinend gesehen haben muss.
Es gibt eine große Zahl an kleinen Räumen, deren besondere Qualität eben die ist, nicht so zu sein wie die großen Räume, die oft zu große Kunst zeigen. Qualität hat nicht immer etwas mit der räumlichen Dimension zu tun, sondern damit, zu bilden, und das bedeutet auch: anzuregen zu neuen Ideen, Fantasien, Gedankenräumen.
Ich denke, es wird Zeit für eine Insta-Gruppe für kleine unabhängige Kunsträume. Das wäre doch ein Ansatz für tatsächlich kreative Träume.
Kleinste mobile Galerie der Welt, Foto: Andreas Schlaegel
Die Raum, Ausstellung von Elizabeth Ravn: Exposed Aggregate