Anna M. Kempe, geboren 1988 in Crivitz, ist Künstlerin und lebt in Leipzig. Wir treffen uns in ihrem Atelier. An einer Wand hängen Zeichnungen, an einer anderen unfertige Aquarelle. Häufig stehen Menschen (Einzelpersonen, Paare und Gruppen) im Fokus. Es gibt zugewandte, begehrliche und spannungsgeladene Konstellationen. Eine vierteilige Serie ist mit Freundschaft I–IV betitelt. Anna beginnt, großformatigere Aquarelle aus dem Nebenraum zu holen und auf dem Boden auszubreiten.
Anna-Lena Wenzel: Könntest du in einem Satz sagen, worum es in deinen Bildern geht?
Anna M. Kempe: Es geht um die Beziehung der Menschen zueinander, zu sich selbst und zum Raum. Wenn ich sage, ich arbeite zu Beziehungen, dann meine ich nicht Liebesbeziehungen, sondern alle Arten von zwischenmenschlichen Beziehungen. Es geht weniger um eine Arbeitswelt, als um persönliche Beziehungen und eine Art Intimraum.
Wenzel: Sind es Porträts?
Kempe: Nein, ich male die Leute aus der Erinnerung, wobei ich oft von meinem Körper ausgehe – ich mache Skizzen von Haltungen oder arbeite mit dem Spiegel. Gleichzeitig wird es beim Malen irrelevant, welcher mein Körper ist. Es ist für mich ein Mittel, um ein Gefühl für jeden dieser Körper zu bekommen.
Wenzel: Ich finde auffällig, dass die Gesichter relativ neutral sind und es gleichzeitig eine Spannung gibt, durch die Art, wie sich die Personen zueinander verhalten. Da kommen verschiedene Emotionen mit ins Spiel – manche haben etwas Gleichmütiges oder wirken vertraut, während bei anderen ein distanzierter Eindruck dominiert. Es gibt liebevolle, beschützende und begehrliche Gesten.
Kempe: Ich will tatsächlich einen Raum aufmachen, der nicht zu viel vorgibt, sondern in dem man sich etwas vorstellen und den man füllen kann. Es ist mir wichtig, dass es eine Offenheit gibt und eine Distanz zu meiner Person, es soll eine Uneindeutigkeit geben. Damit hat diese Gleichmütigkeit, die die Aquarelle haben, auch zu tun. Ich hatte Lust, Bilder für die Unaufgeregtheit von Nähe zu finden. Die letzten Bilder sind etwas fröhlicher, aber ich würde sagen, dass es auch in ihnen eine Grundmelancholie gibt. Es geht um das Aushandeln von Nähe, in dem viel Unsicherheit drinsteckt.
Wenzel: Die Personen gucken sich selten an. Statt mit Blick-Beziehungen arbeitest du eher mit Berührungen und einer Zugewandtheit.
Kempe: Voll. Ich würde gerne manchmal drüber hinausgehen, stärker auf die Verbindung fokussieren, aber es gibt eigentlich immer etwas Ambivalentes – auch in diesen fürsorglichen Gesten.
Wenzel: Was ist das für eine Unsicherheit?
Kempe: Es ist ein permanentes Rantasten an diese Form von Verbindung oder Nähe, an den Versuch, im Kontakt zu sein. Ich möchte zeigen, dass das nicht einfach da ist. Auch wenn es statische Situationen sind, sind die Personen in einer Bewegung, in einem Suchen.
Wenzel: Ja, das kommt mir sehr bekannt vor – die Gleichzeitigkeit von Nähe und Traurigkeit, von Verbundensein und Scham, von einer Öffnung und einem Abwenden. Ich finde im Bild Freundschaft (2016) ist vieles von dem drin. Die zwei Frauen wirken ganz nah, obwohl der Blick der einen nach draußen geht. Übersetzt könnte es bedeuten, dass man in die Welt schweifen und trotzdem beisammen sein kann. Das ist eine schöne Gleichzeitigkeit.
Kempe: Ja, da ist dieser Aushandlungsprozess nicht so im Mittelpunkt.
Wenzel: Es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass es oft androgyne Typen sind?
Kempe: Eigentlich geht es gar nicht darum, ob es Frauen sind. Es ist in diesen Bildern nicht so eine relevante Kategorie …
Wenzel: … welches Geschlecht die Personen haben?
Kempe: Ja, obwohl es Personen mit Brüsten gibt, die scheinbar eindeutiger zu lesen sind. Aber die Körper sind erst mal nur Körper. Trotzdem bin ich gerade am Hadern, weil es so eine enge Gruppe ist: Es sind alles Leute in einem bestimmten Alter mit sehr ähnlichen Körpern. Ich frage mich, ob ich das verändern möchte und wenn ja wie?
Wenzel: Ich finde schon, dass nicht nur die Beziehungskonstellationen in Bewegung geraten, sondern auch die Geschlechts-Identitäten schimmern.
Kempe: Genau das finde ich so spannend bei diesen Bildern, was da für unterschiedliche Sachen passieren: Eine Einzelfigur ist eine Einzelfigur, zwei Leute sind immer ein Paar und mit drei Leuten ist es sofort eine Gruppe …
Wenzel: … aber kein Paar. Und wenn ein Kind auftaucht, ist es gleich Familie. Wie ist es bei Fuck your Monogamy (2021), wo zwei Frauen dargestellt sind? Das wirkt auf mich auch wie eine Liebesbeziehung.
Kempe: Aber es ist etwas anderes und auch bei dem sind es für mich nicht unbedingt zwei Frauen.
Wenzel: Der Titel wirkt wie ein Kampfspruch, eine Ansage.
Kempe: Ja, so ist es auch schon ein bisschen gemeint. Im Vergleich zu den anderen ist es ein starker Titel. Es gibt da auch eine Genervtheit. Auf der einen Seite eine Genervtheit davon, dass Menschen, vor allem Männer, Monogamie behaupten und wollen, und dann selbst gar nicht danach handeln. Auf der anderen Seite davon, dass alle Beziehungen, auch alle Nicht-Liebesbeziehungen, dadurch in so eine Schablone gepresst werden, eine bestimmte Bedeutung beigemessen bekommen.
Wenzel: Du hast mehrere Bilder mit Freundschaft betitelt. Wie bist du darauf gekommen?
Kempe: Ich habe eine Weile viele Bilder gemalt, in denen es um die Aushandlung von Liebesbeziehungen ging. Aber dann hab ich gemerkt, dass das in meinem Leben grade nicht so eine große Rolle spielt, eine viel größere Rolle spielen die Freundschaften. Es gab dann mehrere Situationen, wo sich diese Freundschaften in Settings kristallisiert haben und ich hatte das Gefühl, das sind gute Bilder für das, was ich zeigen wollte. Davor hatte ich begonnen Texte zu schreiben, in denen es viel um meine Erfahrungen mit Familie geht. Ich habe dann gemerkt, ich möchte gar nicht diese Familienbilder, sondern die Freundschaftssituationen malen. Die sind doch nah beieinander – die Freundschaften sind die Familie, die man sich später nimmt.
Wenzel: Wie fühlt es sich an, so persönliche Bilder zu machen?
Kempe: Es sind schon intime Bilder, die ich mache, und irgendwie erzählen die auch viel. Ich habe im Studium damit angefangen und in meiner Diplomarbeit zu Erinnerungen und Selbsterfindung gearbeitet. Es hat mich sehr beschäftigt, was ich und was ich lieber nicht zeige, wie viel ich preisgeben möchte, daher war es für mich total hilfreich, über künstlerische, autobiografische Arbeiten zu schreiben. Ich konnte darüber nachdenken, wie ich male und aus welcher Haltung, ohne direkt über meine Bilder schreiben zu müssen.
Hast du Lust noch ein bisschen über dein Buch zu erzählen?
Wenzel: Über die Ideen zum Freundschaftsbuch? Das soll ein Mix werden aus Notizen, Gesprächen, Beobachtungen und eigenen künstlerischen Arbeiten. Das wird dadurch ein bisschen forschender als die vorherigen, weil es auch darum geht, Literatur zu sichten und sich dazu zu positionieren. Jetzt bin ich gerade beim Sammeln und bei den ersten Interviews.
Kempe: Ich habe eine Freundin, Anna Leyrer, die Historikerin ist und ein Buch über Frauenfreundschaften im 19. Jahrhundert geschrieben hat.1 Sie geht von Briefwechseln zwischen Lou Andreas-Salomé mit ihren Freundinnen aus. Gerade für die Frauenfreundschaften gibt es keine Benennung und keinen Raum, in dem sie stattfinden konnten.
Wenzel: Ich habe im Studium ein Seminar gehabt, in dem wir ein Buch über Freundschaft gelesen haben, in dem es nur um Männer ging. Das will ich anders machen. Ich finde zum Beispiel Sally Rooney interessant, in deren Buch Gespräche mit Freunden es um zwei Frauen geht, deren Freundschaft immer wieder in eine Beziehung kippt. Zusätzlich gibt es eine Vierer-Konstellation mit einem heterosexuellen Paar.
Kempe: Das ist vielleicht ein interessanter Punkt, dass es sich in diesen Frauen-Freundschaften viel öfter …
Wenzel: … sich öffnet?
Kempe: Ja, und stärker hin und her changiert als in diesen klassischen Männerfreundschaften, die im europäischen Kontext jede Art von körperlicher Zuneigung ausschließen.
Wenzel: Es ist dann entweder intellektuell, buddymäßig oder kumpelhaft. Was mich persönlich an dem Thema interessiert, ist die Frage, ob mein Konzept, ein Haus voller Freund*innen zu haben, aufgeht. Gibt es auch in Freund*innenschaften diese Art von Verbindlichkeit und Nähe, wie sie für Beziehungen typisch sind? Was verändert sich, wenn die Körper mit ins Spiel kommen? Dieses Interesse an einer Aushandlung von Beziehungen sehe ich auch in deinen Arbeiten. Wenn man in die Kunstgeschichte schaut, sind es diese Bilder, die fehlen.
Kempe: Mir fällt es schwer, einen kunsthistorischen Blick auf meine Arbeiten zu werfen. Natürlich habe ich mich mit Sachen beschäftigt und trotzdem habe ich das Gefühl, dass mit dem, wie ich arbeite und wie die Bilder entstehen, eine eigene Arbeitspraxis gewachsen ist, die mir total gut tut und mir entspricht.
Ich hatte vorhin noch einen Gedanken. Viele Personen, die auf den Bildern drauf sind, erkennen die Situationen wieder. Ich war unsicher, ob es den Leuten zu viel sein könnte oder ob sie durch den anderen Blick irritiert sind. Aber es ist gar nicht so. Sie nehmen das eher als eine Wertschätzung wahr. Sie freuen sich über die andere Perspektive und darüber, dass Sachen sichtbar werden.
Wenzel: Ich kann mir vorstellen, dass sie schätzen, dass du eine Übersetzung für das Miteinander findest, das es in dem Moment gab. Hast du das Gefühl, dass die Grenzen zwischen Freundschaften und Beziehungen fluider werden und sich das Verständnis von Beziehungen durch offenere Modelle verändert?
Kempe: Hm. Ich kann da gar nicht so eine generelle Entwicklung benennen, sondern habe nur ein Gefühl dafür, wie es für mich ist. Ich habe lange Zeit viele meiner sozialen Bedürfnisse, trotz des Versuchs, es anders zu machen, in meine Liebesbeziehungen gepackt. Sie damit überfrachtet, und gleichzeitig bemerkt, dass sie (auch daran) gescheitert sind. Jetzt hatte ich ein paar Jahre keine Beziehung, dabei sind diese Freundschaftsbeziehungen anders wichtig geworden. Sie geben mir einen Halt, den mir Liebesbeziehungen nie gegeben haben. Da war das eher wie ein unerfülltes Versprechen – nach dem Motto, es müsste da jetzt eigentlich passieren, aber es passierte nicht.
Wenzel: Es gibt eine wahnsinnig große Erwartungsblase, die mit Beziehungen verknüpft ist, die bläst das unglaublich auf. Es ist auch ein Vorteil von Freundschaften, dass es da weniger Bilder und Erzählungen dazu gibt.
Kempe: Ja, und trotzdem gibt es so etwas wie eine Vorgabe, von wie viel oder wenig es sein sollte. Wenn man in einer Freundschaft mehr will, muss man dafür krass arbeiten. Muss sich anders Sachen trauen.
Wenzel: Voll. Der Rahmen, in dem man handelt, ist nicht automatisch da, sondern muss erprobt und aktiv geschaffen werden.
Kempe: Festzustellen, dass das geht, ist eine gute Erfahrung von Handlungsfähigkeit.
Wenzel: Hast du das Gefühl, dass dieses Befragen klassischer Konstrukte und Experimentieren mit Modellen eher in einer Bubble passiert oder eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung ist? Ich kenne in unserer Generation viele Patchworkfamilien und Menschen, die mit offenen Beziehungen experimentieren. Ich habe schon das Gefühl, dass sich da was verändert.
Kempe: Ich glaube, es gibt in einer bestimmten Bubble ein großes Interesse dafür. Da verändert sich etwas. Gleichzeitig gibt es diese Zeitnot, die sich extrem zuspitzt und irgendwie alle betrifft. Das hat vielleicht mit Digitalisierung und den Veränderungen der Arbeitswelt zu tun. Das steht dem wieder entgegen und legt die Hinwendung zu einer Beziehung nahe, einfach aus pragmatischen Gründen. Sich die Zeit dafür zu nehmen, ist schon eine große Freiheit und ein großes Privileg, und ich weiß nicht, wie weit das verbreitet ist. Gleichzeitig ist klar, dass Freundschaften anders wichtig sind, wobei ich da auch etwas skeptisch bin. Oft hat man das Gefühl, etwas neu zu erfinden, bloß weil es in der eigenen Entwicklung so ist. Dabei gab es z.B. schon in den 1970er-Jahren Leute, die an den gleichen Stellen waren.
Wenzel: Ja, man ist von seinem eigenen Aha-Erlebnis geblendet. Trotzdem waren in den 1970er-Jahren Geschlechterrollen anders als heute.
Kempe: Das stimmt, und ich nehme besonders bei Männern im meinem Umfeld wahr, dass die sich bewusster mit ihren Freundschaften beschäftigen, als sie das vor zehn Jahren gemacht haben. Sie haben festgestellt, dass sie alle ihre Beziehungsthemen in die Freundschaften mit den Frauen gebracht haben und machen es jetzt aktiv anders. Das finde ich total schön und auch sehr beruhigend.
Wenzel: Ich überlege gerade, ob das ein Generationsunterschied ist und wie das bei unseren Eltern war. Du hast gestern davon gesprochen, dass dein Vater einen großen Freundeskreis hatte bzw. sehr umtriebig war. Da bekommt man vorgelebt, dass es eine Qualität ist, das zu pflegen, denn es braucht ja viel Pflege.
Kempe: Bei meinen Eltern war es auf jeden Fall total wichtig und meine Mutter hatte auch ein großes Netz. Die war nach der Trennung von meinem Vater mit einer Frau zusammen. Da haben wir teilweise in Wohngemeinschaften gewohnt. Es gab immer nahe Familienfreundinnen, Leute, die dazugehörten und aufgenommen wurden. Das sind teilweise Leute, zu denen ich heute noch Kontakt habe. Es gab das aber auch innerhalb der Familie, zum Beispiel kam meine Cousine mit 16 in unsere Familie und hat eine Ausbildung bei meinem Vater angefangen.
Wenzel: Das klingt nach Patchwork-Familie. Hast du auch Stiefgeschwister?
Kempe: Ja, ich habe ganz viele Geschwister aus unterschiedlichen Konstellationen [lacht].
Wenzel: Das ist bei mir anders. Das ist schon Arbeit, sich das selber so herzustellen und zu behaupten, wenn man da keine Vorbilder hat. Ich habe oft das Gefühl, ich falle aus dem klassischen Familiengedöns raus.
Kempe: Das ist bei uns schon sehr da. Es gibt damit viel Normalität.
Wenzel: Was sich dann auch fortsetzt, in der Art wie du lebst – in einer WG mit einer anderen Frau und deren Kind.
Kempe: Ja, und der Vater meiner Tochter hat eine neue Partnerin, mit der er auch ein Kind hat. Das ist manchmal mit bei uns. Aber es gibt in diesen Patchworkfamilien genau die gleichen Familienkonflikte. Es ist manchmal wirklich schwierig die zu führen, weil ich merke, dass ich selber zuweilen an der Gegebenheit dieser Beziehungen zweifle.
Wenzel: Es erfordert ein permanentes Aushandeln-Müssen der Erwartungen, die im Raum stehen. Da geht es ganz banal um Fragen des Umgangs. Wer was braucht und wer was leisten kann. Da sind wir wieder bei der Zeit. Ich musste gerade an die Online-Dating-Portale denken, die so speedy funktionieren.
Kempe: Für mich hat es überhaupt nicht funktioniert. Ich habe das mal kurz ausprobiert und festgestellt, dass ich eine körperliche Präsenz brauche, um zu merken, ob ich jemanden interessant finde oder nicht. Und da kommen wir zurück zu den Bildern. Wie fühlt sich körperlich die Präsenz des anderen an? Was macht mein Körper damit? Wie wohl fühle ich mich mit diesen Körpern?
Wenzel: Was sind deiner Meinung nach die Indikatoren für Wohlfühlen?
Kempe: Ich merke, es gibt Leute, die eine krasse Sicherheit ausstrahlen, die mich total entspannt und meinen Körper sich sehr wohlfühlen lässt. Aber das ist kein Ausschlusskriterium: Ich habe auch Freundschaften mit Leuten, bei denen ich mich körperlich nicht so wohlfühle.
Wenzel: Wie übersetzt man diese Körperspannung oder ein Wohlfühlen in ein Bild? Bei dem Monogamy-Bild gibt es meiner Meinung nach eine Spannung in den Körpern.
Kempe: Ja, es gibt da eine Berührung, in der es klar um Begehren geht.
Wenzel: Ich finde, diese Hand, die sich um den Hals legt, hat etwas Begehrliches und gleichzeitig Besitz-Anzeigendes. Ich finde diese Geste interessant, weil sie sowohl der Person gilt, aber auch nach außen gerichtet ist. Für mich war dieses Besitzenwollen keine Kategorie und ich war überrascht, wie oft das vorkommt oder Thema ist – als Motor von Eifersucht etc. Auf diese Weise ist es ein Stichwort in meinem Liebes-Buch geworden.
Kempe: Ich habe das Gefühl, dass es einen Unterschied macht, ob es um sexuelle oder freundschaftliche Berührungen geht. Das Besitzenwollen ist eher mit sexuellen Berührungen verbunden, wo es viel mehr um das Austesten von Grenzen und das Erweitern eines Handlungsspielraums geht als in freundschaftlichen Berührungen, wo ein Wohlfühlen im Vordergrund steht.
Wenzel: Das ist eine schöne Beschreibung – dieses Erkunden eines Grenzraumes in Beziehungen. Das ist aufregend und herausfordernd, weil es ein permanentes Aushandeln und Artikulieren bedeutet. Der Rahmen von Freundschaft kann da auch Entlastung bedeuten. In dem Moment, in dem man den aufbricht, hat man zu tun. Dann sind wir wieder bei den zeitlichen Kapazitäten und der Frage, wer sich diese Form von Beziehungsarbeit leisten kann. Ich finde auch, dass es eine Haltung oder eine Lebensweise ist, die da deutlich wird. Der Begriff legt nahe, dass es eine Verbindung gibt zwischen dem, was man abbildet/nach außen bringt und dem, was man lebt. Neben den Freundschaftsbildern gibt es auch einige, auf denen die Personen nackt sind.
Kempe: Das ist tatsächlich schon länger da. Es gibt eine Serie von kleinen Bildern, wo es um Sex geht und die auf eine Art explizit und gleichzeitig abstrakt sind. Es ist interessant, sie zu malen und gleichzeitig schwierig.
Wenzel: Warum?
Kempe: Man fällt da so leicht in Klischees. Es ist ja immer ein Kampf, solche Sachen abzubilden, eine Form dafür zu finden, die etwas anderes ist.
Wenzel: Genau diese Herausforderung finde ich interessant! Das gilt auch für die Sprache. Über Sex zu schreiben ist so schwierig, weil das ganze Feld so kontaminiert ist und die Begrifflichkeiten so aufgeladen sind. Das ist ja bei Abbildungen genauso. Liebevoller oder einvernehmlicher Sex kommt viel seltener vor als Sex als Provokation.
Kempe: Es gibt viel furchtbares Zeug, aber kaum Bilder für eine liebevolle Zuwendung und für ein Begehren, mit dem ich mich identifizieren könnte … vielleicht kommt das jetzt.
Wenzel: Es gibt bei diesen intimen Bildern auch welche, wo man nur eine Person sieht. Da steckt für mich ein Reflexionsmoment oder etwas Nachdenkliches drin. Da ist jemand nicht in der Berührung, sondern fällt auf sich zurück. Auch hier, wo zwei nebeneinander im Bett liegen, eine Person schläft und von der anderen angekuckt wird. Das ist keine stereotype Darstellung von „wir hatten gerade den geilsten Sex“, sondern eher der Moment danach. Und auch diese beiden Nackten in der Umarmung gucken sich nicht an. Die vordere Person dreht den Kopf zur Seite und man weiß nicht, ob sie aus dem Bild rausguckt; gleichzeitig gibt es da eine totale Intimität.
Kempe: Auch wenn man im Kontakt ist, ist man bei sich und irgendwie abgeschlossen.
Wenzel: Aber es gibt diese Narration, dass es ums Verschmelzen und Sich-Verlieren geht. Das ist ein starkes Bild dafür, wie eng Beziehungen sein sollten.
Kempe: Voll. Das ist ähnlich zu der Frage, was Freundschaften sind und sein können. Das ist ja auch ein krasses Lernen – gerade auch beim Sex. Ich finde, das wird immer größer.
Wenzel: Du meinst, dass sich die Definition dessen, was Sex ist, weitet?
Kempe: Ja. Es ist immer weniger festgelegt. Das ist es, was ich zeigen möchte.
Wenzel: In der Graefestraße, wo wir den Kleinen Raum betreiben, hat gerade ein Sexshop eröffnet und ich bin da öfter vorbeigelaufen und hab gedacht, wie mega-ästhetisch diese Objekte sind. Ich habe mich gefragt, worauf sich die Erweiterung von Sex, von der du sprachst, neben den Sex-Toys noch bezieht – Selbstbefriedigung, selbstverständlicher Sex zu mehreren oder Tantra-Kurse?
Kempe: Na, ich habe eher daran gedacht, dass ich, als ich angefangen habe, Sex zu haben, ein klares Bild davon hatte – nämlich heterosexuellen Penetrationssex. Es war ein langer Prozess festzustellen, dass es gar nicht so doll an Handlungen gebunden ist, sondern an ein Gefühl, und dass diese Handlungen nicht passieren müssen und trotzdem ist es Sex.
Wenzel: Das stimmt: In-Verbindung-Sein kann auch eine Form von Sex sein, weil das ein starkes Bindungsmoment ist – wie der hergestellt wird, ist eigentlich egal. Du hattest, glaube ich, ganz am Anfang gesagt, dass es dir um dieses In-Beziehung-Treten geht.
Kempe: Ja, und gerade bei den Sex-Bildern finde ich es schwierig, eine Form für diese Aufregung zu finden, die das auch hat. Diese ruhigen, selbstreflexiven Momente darzustellen, liegt mir nahe, aber eine Form für diese Aufregung zu finden ist etwas weiter weg von meinem Abbildungsspektrum.
Wenzel: Die Farbigkeit der Bilder ist oft etwas gedeckt, obwohl es auch poppigere Elemente gibt, wie dieses Neon-Gelb in as hard as you can I (2015). Die sind wohltuend im Vergleich zu Bildern, die fast schreien, wie ich sie zum Teil von der sogenannten Neuen Leipziger Schule kenne. Es gibt bei dir eine ganz andere Konzentration. Ich habe in Berlin gerade zwei Einzel-Ausstellungen von queeren BPoC-Künstlerinnen2 gesehen, die sich total ähnlich waren: bunte Bilder, die sich von der Leinwand in den Raum ausdehnen, in beiden Fällen kombiniert mit Installationen bzw. mit Film. Es ging um queere Körper und das Aufbrechen traditioneller Frauenbilder, so weit so gut, aber die Bilder schreien auch. Ich schätze an deinen Arbeiten, dass sie andere Ausdruckformen für Queerness finden.
Kempe: Ich kenne die Positionen nicht, aber habe das Gefühl, dass es auch bei der Beschäftigung mit Queerness so etwas wie normative Bilder gibt, und, dass der Blick darauf, was Queerness ist, dadurch manchmal sehr eng wird. Das sind oft Positionen, die sich stark und sehr extrovertiert mit Sexualität beschäftigen, viel Haut zeigen und sehr laut sind, wie du sagst. Das hat natürlich durchaus Berechtigung, subtilere Auseinandersetzungen verschwinden daneben aber.
Trotzdem denke ich manchmal, dass ich einige Sachen, wie die fließenden Grenzen zwischen den Geschlechtern, gerne expliziter hätte, finde es aber total schwierig, dafür Formen zu finden, die mir auch entsprechen. Ich hatte das auch beim Schreiben über meine Familie. Ich wollte die Familie, aus der ich komme, gerne sichtbarer machen, aber habe lange gesucht, um eine stimmige Form zu finden. Ich würde auch gerne eine Form für dieses Post-Wende-Generation-Gefühl finden. Das schwingt in den Bildern schon mit, aber man kann es leicht übersehen. Da habe ich öfter Fragen an die Malerei, weil es Grenzen dessen gibt, was darin verhandelt werden kann. Und gleichzeitig ist es natürlich auch ein Raum, in dem all diese Sachen subtil und nebenbei verhandelt werden können.
Anna M. Kempe, „Fuck Your Monogamy“, 2021, Aquarell auf Papier, 134,6 x 109,8 cm
Anna M. Kempe, „Freundschaft I“, 2022, Aquarell auf Papier, 147 x 98,3 cm