Subtile Subversionen.
Georges Bataille und das Kunstwerk
„KLEE. Das Werk von Klee interessiert mich sehr; er ist einer der zeitgenössischen Maler, denen ich mich am meisten verbunden fühle. Ich habe mich immer zu der diskreten, insistierenden, obsessiven, wahrhaft notwendigen und schweigenden Seite aller seiner Kompositionen hingezogen gefühlt. Und ich erkenne, dass ich, weit mehr als ich dachte, in einer Art Intimität mit Phantomen gelebt habe, die zu lieben anregend, aber auch gefährlich ist. Mir scheint, dass Klee eher die Süße des Lasters besitzt, etwas weniger Distanziertes als die Malerei im Allgemeinen, und es fiel mir schwer, mich davon zu unterscheiden.“
Bataille, 1945–46, in: Sternenesser, Berlin 2023, S. 29.
„Die Grenz-Erfahrung ist Erfahrung dessen, was, wenn das Ganze jedes Außen ausschließt, außerhalb von allem liegt, dessen, was, wenn alles erreicht ist, zu erreichen und, wenn alles erkannt ist, zu erkennen bleibt: das Unzugängliche, das Unbekannte als solches. […] man muss vernehmen, dass die Möglichkeit nicht die einzige Dimension unserer Existenz ist und dass es uns vielleicht aufgegeben ist, jedes Ereignis, das uns betrifft, in doppelter Hinsicht zu „erleben“, einmal als etwas, das wir begreifen, erfassen, erdulden und beherrschen (sei es auch unter Schwierigkeiten und Schmerzen), indem wir es auf irgendetwas Gutes, irgendeinen Wert, das heißt in letzter Instanz auf die Einheit beziehen, andermal als etwas, das jedem Gebrauch und jedem Zweck abhold ist, mithin als etwas, das sich sogar unserer Macht entzieht, es zu erfahren, wenngleich wir uns dieser Erfahrung nicht entziehen können: ja, als ob uns die Unmöglichkeit, gegenüber der unsere Macht machtlos geworden ist, hinter allem, was wir erleben, denken und sagen, erwartete, vorausgesetzt, wir hätten das Ende dieses Erwartens erreicht, ohne jemals dem untreu zu werden, was diesen Überschuss, dieses Mehr, Überschuss des Leeren, Mehr an „Negativität“, die in uns das unendliche Herz der Passion des Denkens bildet, erforderlich macht.“ Maurice Blanchot zu Georges Bataille,
in: Das unendliche Gespräch, Wien 2023
In Sternenesser, der vorliegenden Sammlung von verstreuten Texten zur Kunst des einst als „unordentlicher Philosoph“ geadelten Georges Bataille findet sich eine Anmerkung zu der Frage, ob denn die Kunst nützlich sein könne. Anlass ist eine Anfang der 50er-Jahre in Frankreich geführte Debatte um den sozialistischen Realismus, in der der Vorwurf ertönt, solche Kunst diene einzig dem Staat als Mittel und sei, weil nicht selbst Zweck, unfrei. Der Autor wendet jedoch ein, Kunst könne durchaus dienen, sofern das in ihr Dargestellte „souverän“ sei, sprich, wenn es diesseits oder jenseits des Nützlichen angesiedelt ist. Bekanntlich fungiert die Souveränität als einer von mehreren Schlüsselbegriffen im Werk Georges Batailles und zielt auf eine Position im Denken und Handeln, von der aus die Grenzen des Möglichen infrage gestellt werden können. Dass hier Kunst, will sie, in emphatischer Weise, solche überhaupt sein, verortet werden muss, kann als punctum pruriens der von Rita Bischof versammelten heterodoxen Ausführungen Batailles zu Werken der bildenden Kunst gelten.
Mit den auf den ersten Blick disparat anmutenden, zwischen 1935 und 1961 verfassten Texten zu so unterschiedlichen Künstlerfiguren wie Goya, Manet, van Gogh, Picasso oder dem Altsteinzeitmenschen sehen sich die Lesenden von Beginn an demselben Problem der Nützlichkeit, des Sinns gegenüber: Lässt sich den Künsten durch theoretische Textarbeit dienen, und wenn ja, in welcher Form? Werfen nur wenige Texte in diesem Band diese Frage explizit auf, so bilden sie doch alle auf ihre Weise, in ihrer eigenen Intensität, eine Gestalt, in der die Antwort darauf Form annimmt. So wie für Bataille das Kunstwerk nichts weniger als das Sein selbst infrage stellt, kann das Schreiben über es, will es ihm zu Dienste sein, bis in sein Innerstes hinein diese souveräne Macht immer nur wiederholen. Denn jedes Werk, so der Autor über den Maler André Masson, sei eine „Totalität“, mithin also „sinnlos, dass man sich bemüht, ihr etwas hinzuzufügen.“ Ein Dilemma jeglicher Kunstkritik, das einem Verbot Du sollst nicht über Kunst schreiben nahekommt. Wenn aber ein Kunstwerk im Kritiker eine innere Debatte, einen abgründigen Kampf entfacht, der dann schreibend nach außen dringt; wenn er im Angesicht einer Schöpfung dermaßen in Bedrängnis gerät, dass er Wort für Wort außer sich gerät, so schmiegt sich der hervorquellende Text der vom Werk ausgehenden Unruhe an und macht sie sich zu eigen. Die Erfahrung des Kunstwerks, seiner Souveränität, seiner Überschreitung, gelinge nur, sofern diese „auf dem Grund einer Nacht“ selbst gelebt werde.
Gleich zu Beginn des Bandes, in einer Miniatur zu Vincent van Gogh, wird deutlich, dass es sich bei Batailles Einlassungen weniger um kunsttheoretische Impressionen oder geistreiche Einfälle handelt, sondern mehr um den Versuch, das Leben selbst in seiner künstlerisch gestalteten Mannigfaltigkeit anzupreisen. So ließen sich auf den „tragischen Leinwänden nicht ohne Schrecken die schmerzhaften Zeichen“ erkennen, die van Goghs „Existenz“ ausmachten. Das Grauen jedoch würde gebannt durch die Blöße, die sich der Maler gebe, um von der „zukünftigen Größe“ des Menschen, von seiner „unaussprechlichen Hoffnung“ zu zeugen. Massons Zeichnungen wiederum glichen einer Geburt, die als neues Leben immer auch eine Wunde sei, eine „konvulsivische Krise, die den Verfall ankündigt“. Das Leben bis zum Äußersten führen würde Picasso und in seinen Bildern den unmöglichen Gehalt der Dinge aufdecken. In den Höhlenmalereien, denen sich Bataille immer wieder und mit außerordentlicher Hingabe gewidmet hat, strahlten die „ungeordneten Kompositionen“, die die Menschen des Paläolithikums an die dunklen Wände warfen, „eine Art wildes und graziöses Leben“ aus. Oder Manet, in dessen Arbeiten eine Unruhe verspürt werden könne, die Ausdruck einer „subtilen Subversion“, die Zeichen von etwas „Verstörendem“ sei.
So wie es sich bei all diesen Texten nur auf den ersten Blick um klassische kunsthistorische Stilübungen oder um bildtheoretische Beiträge zu zeitgenössischen Werken handelt, so wenig ist Bataille in seinem Schreiben darum bemüht, die besprochenen Künstler der Kunstgeschichte als solcher zuzuordnen. Mehr noch, das Ziel seiner Texte zur Kunst besteht eher darin, sie einem solchen Diskurs zu entreißen und einer exzessiven Phänomenologie einzuschreiben, in der die „begrenzte Existenz“ der „kleingeistigen Menschheit“ in einem „Taumel des Bacchanals“ überschritten wird. Die Kunst wäre dann Teil einer allgemeinen, wenngleich subversiven Bewegung, die über die gegebenen Möglichkeiten des Lebens hinaus eine konkrete Erfahrung des Unmöglichen gewährleistete. Damit ist ein zweiter „Grundbegriff“ Batailles angesprochen, der in seinen Kunstbetrachtungen immer wieder auftaucht. Wenn Goya etwa das Individuum als zutiefst aufsässige Gestalt präsentiere, dann sei seine Malerei weniger der Kunstgeschichte als einer „Geschichte der Individualität“ zugehörig. In ihr stünde es der Menschheit nicht fremd, als Kuriosum gleichsam, gegenüber, sondern bildete deren überschüssigen inneren Teil. Malt Goya „die zunehmende Verelendung, die Schwäche und das Alter, den Wahnsinn, die Dummheit, die Schlächterei, die furchtbaren Traumgestalten und das verfolgte Leben“, dann suche er „im Grunde das Unmögliche“ darzustellen.
Die Kunst wie auch Batailles Texte zu ihr dienen genau dieser Unmöglichkeit, jenem schillernden Grenzbegriff, in dem sich eine Grenzerfahrung ausdrücken soll. So erweist sich seine Beschäftigung mit der Malerei als Teil seiner unablässigen Suche nach Phänomenen des Lebens, in denen die sowohl gesellschaftlich als auch vernunftgemäß bedingte Enge der Existenz selbst ins Unermessliche geweitet wird (die schiere Mannigfaltigkeit der Themen, denen sich sein Schreiben widmet, spiegelt diese Auffassung unnachahmlich wider). Geht aber für Bataille eine solche Überschreitung immer mit einer spezifischen Gewalt oder einer Form des Opfers einher, so möchte er keineswegs, wie immer angenommen und auch vorgeworfen wird, daran sich berauschen, geschweige denn zu ihr aufrufen. Er will hingegen „die geheime Absicht“ hinter der Grausamkeit „aufdecken“, sprich ihr Prinzip, auf dessen Grundlage sie entweder ausgeübt oder begehrt wird. Wenn in der Kunst, mithin im Leben das Zerstörerische menschlichen Daseins exzessiv zum Ausdruck kommt, dann gelte es, dies als einen wesentlichen Aspekt unserer Existenz anzuerkennen und in seinen sowohl ruinösen als auch schöpferischen Wirkungen zu verstehen.
Raymond Roussel, so Bataille in dem titelgebenden Text zu André Masson, verschloss in einer eigens angefertigten Schachtel einen Keks in Form eines fünfzackigen Sterns, in dem Wunsch, ihn gleich einem Himmelsstern zu verspeisen. Ein seltsames Universum erscheint hier, in dem das Phantasma das Unmögliche erreicht. So sind wir vielleicht alle Sternenesser, oder könnten dies sein, wenn wir ohne Scham unsere Erfahrungen ernst nehmen würden, in denen die „Stabilität, die der Sitz der Dinge ist“, verlustig geht. Leben hieße dann nicht mehr, einem wie auch immer vorgezeichneten oder sich am Horizont behaglich abzeichnenden Weg zu folgen, sondern ein eminentes Gegenleben zu führen, das sich auf der Grenze dessen hält, was sich nicht mehr erfahren lässt, so aber einzig erfahren werden kann. Ein derartiges Widerleben: Widerfahrnis wäre, mit Gilles Deleuze gesprochen, reine Gegenverwirklichung einer Welt, der in solch Abtrünnigkeit und Niedertracht buchstäblich Sehen und Hören verginge. Batailles Texte zur Kunst sind in diesem Sinne ein Plädoyer fürs Leben, das heutzutage seines Gleichen sucht.
Dieses Buch käme nicht zu, geschweige denn über uns, hätte nicht Rita Bischof ihre enzyklopädischen Fühler ausgestreckt, den verstreuten Texten eine sanfte Ordnung zu verleihen, und hätte nicht ihr übersetzender Geist buchstäblich Hand angelegt, Batailles eigentümliche Theoretik in eine Nähe zu bringen, darin wir uns unheimlich geborgen fühlen können. Ihr essayistischer Geist entfaltet sich noch bis in die feinsten Spitzen einer Erfahrung hinein, deren gesuchte Unwirklichkeit im glänzend übertragenen Begriffsgeflecht ihre schmiegsame Entsprechung findet. So sollte auch ihr Essay am Ende des Bandes nicht allein als eine profunde Darstellung Bataille’scher Übungen in Kunstkritik angesehen werden, sondern als wirkmächtige Wiederholung dessen, was der übersetzte Autor mit Blick auf die Kunst selbst betreibt. Rita Bischofs Schreibkunst ist somit eine, die, an Bataille und, nicht zu vergessen, am Surrealismus entzündet, ihre eigenen unmöglichen Wege geht.
Georges Bataille, Sternenesser. Verstreute Texte zur Kunst, herausgegeben, übersetzt und mit einem Essay versehen von Rita Bischof, Softcover, 160 Seiten, Brinkmann & Bose, Berlin 2023
Cover, Georges Bataille, Sternenesser. Verstreute Texte zur Kunst, Brinkmann & Bose, Berlin 2023