Zeit-Spezial

Anmerkungen

2024:November // Barbara Buchmaier, Christoph Bannat, Andreas Koch, Raimar Stange, Christine Woditschka

Startseite > 11-2024 > Zeit-Spezial

11-2024


Atelierzeit
Vielleicht könnte man Zeit ja in zwei generelle Zeit-Gruppen teilen. In der einen Gruppe sammeln sich alle Tätigkeiten, die man in einer gewissen Zeit tun muss, Aufgaben, die von außen gestellt werden, Jobs, aber auch Kommunikation, Anrufe, Mails, Chats beantworten, dann der Haushalt, die Körperpflege, das Essen usw. Also alle Tätigkeiten, die in gewisser Weise unsere Zeit strukturieren. Natürlich gehört auch das Schlafen dazu, zumindest der Anfang und das Ende, das Einschlafen und das Aufwachen, Momente, die die Dauer des Schlafens definieren.
Das Schlafen selbst könnte in die andere Gruppe wandern, das ist die Zeit-Gruppe, in die zum Beispiel die Langeweile gehört, das Nichtstun, das Vorsichhinstarren, das Denken ohne Richtung, das Schlendern ohne Ziel. Es ist die Gruppe der unstrukturierten Zeit. Wahrscheinlich ist bei den meisten Menschen Gruppe eins viel präsenter, bei manchen jedoch könnte die zweite Zeitgruppe dominieren. Es sind vielleicht manche der Arbeitslosen, der Rentner, der Obdachlosen, aber vielleicht auch der Reisenden, der Einsamen und bestimmt auch ein beträchtlicher Teil der Künstler.
Künstler (natürlich auch Künstlerinnen, ich benutze hier durchweg das generische Maskulinum) sind dafür ausgebildet, durch die unstrukturierte Zeit zu wandeln und diese dann wieder in Struktur, in Kunst, in Werk umzuwandeln, sie schieben die Zeit von der einen in die andere Gruppe. Das ist keine leichte Aufgabe, denn die unstrukturierte Zeit ist erstmal viel weniger energetisch als die strukturierte. Man sitzt erst einmal vor einem großen Nichts, einer Leere. Warum sollte man auch etwas anfangen, keiner hat ja danach gefragt. Das berühmte leere Blatt, die weiße Leinwand, der leere Raum. Es gibt vielleicht keinen Auftrag, keine Ausstellung in Sicht, keine Deadline, es gibt nichts aus der anderen Zeit-Gruppe, das einem helfen könnte, mit irgendetwas anzufangen. Und deshalb hat man sich selbst eventuell eine Minimalstruktur gegeben, ähnlich wie beim Schlaf einen Anfangs- und einen Endpunkt gesetzt. Man ist ins Atelier und nach einigen Stunden wieder aus dem Atelier gegangen.
Früh lernte man, dass die Zeit im Atelier die Wichtigste ist. Das setzt einen natürlich unter Druck. Wenn man dann mit einem gewissen Druck in einem großen, aber relativ energiearmen Zeitvolumen sitzt, wird es natürlich schwer. Das Zeitvolumen reagiert empfindlich auf Druck und schrumpft sofort ein. Es füllt sich mit schlechtem Gewissen.
Deshalb fängt man irgendwann mit etwas an, nur um mit etwas anzufangen. Man schreibt einen Satz, man setzt eine Linie, man schreibt einen Gedanken auf, eine Idee formiert sich eventuell.
Oder auch nicht. Dann läuft man umher, wirft ein paar Dartpfeile, schaut Youtube-Filme oder ein Tennismatch, man kocht sich einen Kaffee, liest Zeitung, steht wieder auf, setzt sich wieder hin oder legt sich gleich auf die kleine Matratze und macht einen Power-Nap, denn das viele Ablenken, Prokrastinieren und Nichtstun kostet einiges an Kraft.
Wenn man aber mit etwas angefangen hat, kann man gleich darauf reagieren und setzt im besten Fall eine Kaskade an Entscheidungen, Reaktionen und Gegenreaktionen in Gang. Ein Ausbruch an Energie macht sich breit im leeren, nur zeitvollen Raum und die Energie macht sich daran, die viele Zeit umzuwandeln in so etwas wie sinnvolle Zeit und füllt den Raum mit, im besten Fall, Ergebnissen.
Ist natürlich nur ein Modell, aber dieser Text hier entstand genau so. AK


Ticken
Zu Besuch bei den Eltern: Ganze Zimmer voller Uhren – tickender Uhren.
Manche gehen richtig, manche falsch, manche stehen still.
Am Tag fällt einem eher das auf als das Ticken, aber nachts, im Gästezimmer … bis man anfängt, die Uhren, die man plötzlich als tickende „Monster“ empfindet, aus dem Raum zu tragen.
Habt Ihr noch so ein tickendes Ding bei Euch in der Wohnung? Wie haltet ihr es am Leben? Wo tickt es bei Euch? Wie tickt Ihr? BB


Zeit der Krähen
Am Morgen nach der Wahl im fernen (auch mental fernen) Amerika hängt der Herbstnebel knapp über Berlin und lässt wenig Licht durch. Draußen sammelt sich wieder ein Haufen Krähen (ortsspezifisch Elstern) vor dem Fenster der Nachbarin, die sie samt vielen Tauben täglich anfüttert, auch mit aus dem Fenster geworfenem Hackfleisch. Sie schreien, als die Vogelfütterin nicht pünktlich die Fenster öffnet, sie wollen essen, jetzt.
Krähen sind fiese Vögel. Kürzlich umzingelten ein paar von ihnen hier vor der Tür eine flügellahme Taube und hackten sie zu Tode. Ja, ja, die Natur, es gilt das Recht des Stärkeren, klar.
Meinen Söhnen erkläre ich den Unterschied zwischen rechts und links aber genau so. Bei den Rechten gilt das Recht des Stärkeren, bei den Linken das der Schwächeren. Der Stärkere ist der Mächtigere, der Reichere, der mit dem größeren Auto, der, der das Sagen in der Familie hat, meistens eben der Mann, und sagen lassen, vom Staat oder von einer Frau, will sich der Rechte auch nichts. Diese Stärke nützt er, um noch mächtiger, reicher, stärker zu werden, und wenn er sich um andere kümmern sollte, dann maximal um seine Sippe.
Die Linken sind deswegen schon von der Anlage schwächer. Sollten sie zufällig eine Weile an der Macht sein, ärgert das die Rechten ganz besonders und sie schreien umso lauter.
Heute fühle ich mich umzingelt hier in Berlin-Mitte. Die Oberkrähe schreit derweil von drüben. AK


Zeitbild Global Player Stones
11. Juni 2024: Die Rolling Stones spielen, auf Youtube inzwischen zum Nachsehen für zuhause, in Philadelphia, USA, also knapp 62 Jahre nach ihrem ersten Konzert überhaupt im Londoner Marquee Club in der Oxford Street. Selbstverständlich findet das jetzt immer noch vor ausverkauftem Haus statt und dauert immerhin knapp zwei Stunden. Die Rolling Stones, inzwischen nur noch Mick Jagger, stolze 80 Jahre alt, Keith Richard, ebenfalls 80 Jahre alt und Ron Wood, der Youngster, 77 Jahre „ältlich“ – drei alles andere als junge weiße Männer also. Entsprechend fallen die alles andere als lobenden Kritiken der internationalen Musikpresse aus, ist da doch von „betreutem Rocken“ ebenso die Rede wie von „öffentlichem Sterben“. Kein Wunder: Keith Richards kann kaum noch stehen, hat Gicht in den Fingern, die er eigentlich für das Gitarrespielen dringend braucht, und er bewegt sich auch sonst sehr übersichtlich auf der Bühne. Mick Jaggers Arschwackeln wird nicht nur spärlicher auf der Bühne von ihm vorgetragen, es wirkt auch, wie sein Gang und auch sein „zappelndes Tanzen“, irgendwie abgehackt, und sein Gesicht ist inzwischen ebenso faltig wie das von Keith Richards seit Jahrzehnten schon. Und auch der Youngster Ron Wood schnappt da, manchmal schwankend, immer wieder nach Luft …
Die immer noch weltweit erfolgreich wirtschaftenden Global Player Rolling Stones, die einst für Aufbruch und Revolte nicht nur in der Rockmusik standen, erscheinen so als hyperperfektes, aber gleichzeitig tragisches Abziehbild ihrer selbst, dem endgültigen Abtritt von der Bühne (des Lebens) offensichtlich nahe – eben dadurch werden sie zu einem mehr oder weniger präzisen Zeitbild, zu einer Allegorie, durchaus im Sinne Walter Benjamins, auf den eurozen­tristischen Kapitalismus, der trotz seiner hier und dort noch einbringenden Mega-Profite längst ebenso offensichtlich in den letzten Zügen liegt – hier nur kurz zwei Stichworte dazu: der langsam voranschreitende Zusammenbruch der Infrastrukturen nicht nur in Europa und Chinas zunehmende Wirtschaftsmacht … Die Medien sind hier selbstverständlich immer dabei, wenn auch zunehmend nur noch in Einstellungen, die eine die Details verschweigende Distanz bewahren.
PS.: (Noch-)US-Präsident Biden ... RS


Uhrzeit
Woher weißt Du, wie spät es ist?
Wenn man selbst kein Uhrträger ist und nur ein altes Telefon hat, auf dem die Uhrzeit so klein dargestellt ist,
dass man sie nicht mal mit Brille lesen kann, braucht man andere Informationsquellen.
Aber es gibt, zumindest in Berlin, kaum noch Uhren im Außenraum, es sind weniger geworden und viele sind über die letzten Jahre verschwunden – natürlich nicht alle.
Und oft gehen sie falsch.
Also frage ich Leute, die mir über den Weg laufen, nach der Uhrzeit.
Aber auch meine innere Uhr funktioniert erschreckend gut. Da bin ich oft selbst überrascht, wie gut ich durchgetaktet bin. Selten außer Rhythmus. BB


Zeit und Potenzial
Öfter werde ich mit dieser Aussage konfrontiert: Der oder die oder ich habe ja mehr Zeit, für dies oder jenes, Kunst oder Sport, deswegen wären die Leistungen eben besser. Trainingsweltmeister. Aber stimmt das und was steckt genau hinter so einer Aussage? Erstmal ist der Impuls, so eine Aussage zu treffen, wohl jener, sich selbst zu entschuldigen, für seine etwas schlechtere Leistung, den geringeren Output, den mangelnden Erfolg. Der Leistungsgedanke wird ex negativo, dafür umso stärker kundgetan. Mit viel Training schaffe jeder was und man könne mangelndes Talent so ausgleichen. Oder anders gesagt, der Bessere habe auch kein Talent, aber mehr Zeit um zu trainieren, und wahrscheinlich mehr Geld, deswegen die Zeit.
Je älter ich werde, desto weniger glaube ich an Talent, noch glaube ich an Training. Beziehungsweise sind beide Modelle unzureichend, um eine Leistung einzuordnen. Jeder Mensch hat ein gewisses Potenzial und diesem liegen so viel mehr Faktoren zu Grunde als nur Talent und Training. Äußere und innere Faktoren – innere Ängste, äußerer Druck, Geltungsdrang, Scham, zu viel oder zu wenig Geld, Depressionen, Manien, schlechte oder gute Gene, Eltern, Lehrer, ADhS, Asperger oder ein Helfer-Syndrom und natürlich als Riesenfaktor, die gesellschaftlichen Bedingungen, die man nur sehr schwer beeinflussen kann. Ich meine, wer kann schon seine Zeit wirklich effektiv nutzen? Steht da nicht der unsichtbare Vater am Trainingsfeld und peitscht einen an, aber man bleibt dann doch lieber liegen und daddelt ein paar Stunden im Handy? Ich glaube jeder Mensch schöpft sein Potenzial auch aus, da bin ich Stoiker. Vielleicht sorgt dieser Gedanke ja für Entlastung. AK


The Use of Tar Pits to Introduce a Delay or to Waste the Time of the Attacker
Chronos. Synchronize. Techniken abgleichen. Frames per Second. Flying-Spot-Scanner tasten Filmmaterial punktweise ab. Dot, dot, dot, dot. Ich habe seit Beginn der Aufzeichnungen alles, wirklich alles festgehalten. Dabei habe ich den Zirkel in die Mitte gesteckt und um sich selbst gedreht. Die Erde ist so gesehen doch eine platte Scheibe! Ultra Records. Umdrehen. Auf dem Kopf stehen. Diesen Erdkreis können wir so gar nicht erreichen. Problem Areas (Oneohtrix, Point Never) tun sich auf. Vom Taktgenerator abhängend, im Fluss mit dem Medium, durch Einfluss des Transmitters schwingt das Pendel noch immer hin und her. Von mir aus! Bot. Bot. Bot. Bot. Bot-Master koordiniert automatisiertes Abarbeiten. Backdoor-Programm öffnet die dunklen Türen. Social Ghostbots treten ein und auf. Fernsteuerung infizierter Systeme. Auf einmal steht er also vor Dir: der Analog Assassin (Underground Resistance). Ein Dasein, das Dir letzten Endes im Realen begegnet. An sich ist Dir das nichts Neues, reziprok der Videotelefonie. Jetzt bewegst Du Dich in einem Raum mit dem, dessen Handlungen anderen Ortes impliziert werden. Eingebung, ferne Steuerung, die in Aktion verwickelt. Analog. Log. Im Logbuch festgehalten: Kurs anpeilen, Windrichtung, menschliche Fehler. Einzelne Blätter dürfen nicht entnommen werden. Wenn Du mir erst in die Honigfalle gehst, Du kleiner Schmetterling! Schmettern, das klingt nicht zärtlich. Die Butter zu Rahm schlagen. Butterfly. Drohender Falter! Ich werfe eigenhändig einen verrosteten Morgenstern nach dem Ding. Bruchtest, höhere Kampfsportliga. Massive Attacke. Die Kugeln in der Handfläche drehen, unfinished sympathy. Die ersten Bilder der Mondrückseite, die aufgrund synchroner Rotation nie von der Erde aus gesehen werden kann, wurden mit der Flying-Spot-Technologie aufgenommen. Anachronistisch. CW


Zeit ist Geld
Dieser vielverwendete Spruch könnte so etwas wie die Essenz des Kapitalismus sein, in Wahrheit müsste diese Weisheit aber lauten „Geld ist Zeit (aber der anderen)“. Denn das wahre Kapital verdient sich im Schlaf. Das ist das Geld der Aktionäre, der Immobilienbesitzer, der Vermögenden. Dass zum Beispiel die Mieter immer länger für ihre Miete arbeiten müssen und prozentual immer mehr Arbeitszeit dafür aufbringen, ist bekannt. Davon profitieren die Besitzer.
Der Stundenlohn, das Maß, mit dem alle ihren Wert bemessen, geht bei diesen Leuten ins Unendliche. Im Kulturbetrieb ist es oft andersherum. Man steckt in die Kunst, in deren Produktion, aber auch in deren Vermittlung viel Arbeit und Geld, also viel Zeit und am Ende kommt weniger Geld zurück als man investiert hat. Man hat also einen Minusstundenlohn. Bei der von hundert verdiene ich minus 5 Euro. Der Lohn ist aber nur deshalb so wenig im Minus, weil ich so lange daran arbeite. AK


Zeit der Liebe
Wir lagen nackt, sie auf mir. Mein halbsteifer Schwanz in ihr. Ich war nicht ganz bei der Sache. Was guckst Du mich so komisch an?, fragt sie. Und für Millisekunden war Liebe kälter als der Tod. Eine Kälte, die ich in unserer heute über 40-jährigen Beziehung nie wieder erlebt habe. Es war der pure Horror, der mir durch Mark und Bein fuhr. Einerseits bewunderte ich ihre Hellsichtigkeit, anderseits fürchtete ich, dass sie gerade mein fluides Ich entdeckt hatte, hatte ich doch parallel eine Liebesbeziehung mit einer anderen Frau.
Weshalb aber der Schock? Was war geschehen? Ich sah meine Frau, wie zum ersten Mal, aber nicht mit dem liebenden Blick. Ich sah sie als Fremde – sozusagen; unsere Geschichte abzüglich unserer Vergangenheit. Ich sah sie mit abgeklärtem Blick. Steckt in abgeklärt nicht auch Klärung und Klarheit? Reinheit und Bereinigung? Ich meine nicht den verliebten Blick – verbunden mit jenem berauschenden Gefühl, dass einer Fischvergiftung ähnlich sein soll. Ich meine den liebenden Blick der Zeit, mit dem man alle Momente einer Beziehung in der Jetztzeit sehen kann. In dem alle Momente, wie in einer Matrjoschka-Puppe geschachtelt oder wie in einer gläsernen Pyramide sichtbar verwahrt sind. Ein Blick, der jederzeit die Jetztzeit mitbestimmt – ganz real –, nicht nur vor dem inneren Auge. Das ist der liebende Blick, den ich meine. Wie das erste Gesicht der Geliebten, das in der Jetztzeit ganz real, aber eben nur durch diesen liebenden Blick, sichtbar ist. Privatmythen, die von Zeit zu Zeit geklärt werden wollen und nie aufgeklärt werden. Wohl wissend, dass wir die Vergangenheit nicht beherrschen, nur versuchen können, mit ihr zu leben. Im Bewusstsein, dass unsere Gegenwart unsere zukünftige Vergangenheit ist. CB


Late Adapter
Natürlich gibt es Dinge, die sollte man eher früher als später machen, die Steuer vielleicht, die Kündigung, den Umzug. Wenn man unter Dingen leidet, sollte man sie so schnell wie möglich ändern, klar. Prokrastinieren, das heißt Aufschieben von unangenehmen Dingen, fühlt sich nicht gut an.
Aber der Late Adapter, also derjenige, der technischen Errungenschaften so spät wie möglich oder vielleicht nie folgt, macht dies aus anderen Gründen. Vielleicht ist er konservativ und hat seine bisherigen Gewohnheiten lieb gewonnen oder vielleicht kann er den Vorteil eines neuen Smartphones noch nicht erkennen, es kann aber auch sein, dass er das Buch Momo von Michael Ende zu sehr verinnerlicht hat. Denn der Late Adapter meint erkannt zu haben, dass die meisten technischen Entwicklungen dazu dienen, unter dem Vorwand, das Leben einfacher und praktischer zu gestalten, in Wahrheit dazu da sind, ihm Zeit zu rauben. Entweder indirekt, indem sie teuer sind und er länger dafür arbeiten muss, oder direkt, indem die Organisation, die Koordination und die nun mögliche und nötige Kommunikation die meiste Zeit frisst. Früher telefonierten nur einsame Rentner stundenlang oder schauten fern. Heute ist jeder im Schnitt zweieinhalb Stunden mit seinem Smartphone beschäftigt, Jugendliche fünf Stunden. AK


An den Rändern taumelt das Glück
Zwei Ausstellungen an zwei Orten, die unterschiedlicher kaum sein könnten und die dennoch viel miteinander verbindet, beides Fotoausstellungen. Eine handelt von der späten DDR bis zum Umbruch. Die andere zeigt, pünktlich zum 35. Jahrestag des Mauerfalls, die Zeit des Umbruchs in Berlin während der 90er-Jahre. Womit ein breites Geschichtspanorama eröffnet ist. Zwei Ausstellungen, deren Ausgangsbedingungen kaum unterschiedlicher sein könnten. Während in der alten Westmitte, in großzügigen Räumen, bei C/O Berlin, die 90er-Jahre hängen, hat die späte DDR (inklusive Berlin) ihren Platz in der Ladengalerie einer Plattenbausiedlung in Hellersdorf gefunden. Nicht dass beide Ausstellungen gegeneinander auszuspielen wären. Bei C/O Berlin werden kommerziell erfolgreiche Reportagefotografien der Ostkreuz-Agentur gezeigt, in Hellersdorf sind es auch ausgebildete, doch weniger bekannte Fotografen, die ihre Arbeiten zur Verfügung stellen. Beide zeigen herausragende Fotokünstler, die nicht genug gewürdigt werden können. Der wesentliche Unterschied liegt hier in den Inszenierungen der gemeinsamen Geschichte.
Träum weiter, lautet der Titelbefehl aus Mitte-West. An den Rändern taumelt das Glück, heißt es in Hellersdorf. Während die Ausstellungsmachenden in der alten Mitte West das (böse) Erwachen noch etwas herauszögern möchten, wird das Glück im Berliner Außenbezirk, kuratiert von ­Ulrike Mönnig und Annett Jahn, bereits an den Rändern verortet, wenn auch taumelnd. Während dem Betrachter die Geschichte im alten Westberlin in Reih und Glied, wohlproportioniert und nach Namen geordnet, präsentiert wird, wird die Geschichte in der Plattenbausiedlung noch einmal befragt. Während die Ostkreuz-Fotografen bereits im Bewusstsein, dass in Berlin Geschichte großgeschrieben wird, fotografierten, taten dies Fotografen andernorts in der DDR im Kleinen. Während in der alten West-Mitte die Vergangenheit – vergrößert, vor schwarzen Wänden durch Spotlights erhellt – wie erledigt erscheint, werden Fragestellungen in Hellersdorf noch einmal lebendig. In Treppen-Poster-Wolken-Reihen-Flatter-Hängungen wird der Betrachter provoziert, seine Geschichte anhand von Geschichten neu zu entdecken, zusammenzustellen und zu befragen – das ist ein Mehrwert der Ausstellung in Hellersdorf. Zusätzlich lädt die Enge der Ladengalerie zu weiteren Quer- und Längsverbindungen zwischen den Bildern ein. Dass diese Vielfalt nicht in eine postmoderne Beliebigkeit abgleitet, ist dem Feingefühl der Kuratorinnen zu verdanken. So laden die Bilder sich gegenseitig auf und zeigen, dass die Geschichte der DDR und deren Umbruch noch lange nicht erledigt sind und es sich lohnt, diese immer wieder zu befragen.
In der Literatur tun das in letzter Zeit auffällig viele Frauen besonders intensiv, intelligent, oft schmerzhaft körperbezogen und erfolgreich. Ines Geipel, Anne Rabe, Ulrike Draesner, Angelika Klüssendorf, Heike Geißler.
In Hellersdorf begegnen einem die passenden Sinnbilder von zerklüfteten Akten-Bergen, leeren Kinderbetten und aufgerissenen Straßenzügen, pathetisch inszenierten Fackelläufern im Untergrund und staatstragenden Versammlungen im Schneegestöber. Bilder wie Sedimentschichten der Geschichte, deren Tiefenbohrung, notwendig, immer Neues an die Oberfläche und hoffentlich zur Sprache bringt. CB

station urbaner kulturen/nGbK Hellersdorf, Auerbachring 41, 12619 Berlin

AK (Andreas Koch), BB (Barbara Buchmaier), CB (Christoph Bannat, CW (Christine Woditschka), RS (Raimar Stange)
Alle Bilder (sofern nicht anders bezeichnet) in diesem Zeit-Spezial sind von Christian Schwarzwald, entnommen seiner Publikation It’s about time, 240 Seiten, 240 Abbildungen, erschienen bei Maer Press, Wien 2024 (www.maerpress.net)