Eine/r von hundert

 Tagebuch aus dem Berliner Sommer und Herbst 2024

2024:November // Eine/r von hundert

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11-2024

20.5. 2024 Bei Nancy Holt im Gropius-Bau
Ich finde den aktuellen Trend, vergessene oder im Schatten ihrer Künstler-Partner stehende Künstlerinnen (nachträglich) zu würdigen, sehr unterstützenswert (siehe Ruth Wolf-Rehfeld), aber bei Nancy Holt bin ich hin- und hergerissen. Ich finde ihre Arbeiten etwas zu unentschlossen und die Ausstellung, die in Kooperation mit der Galerie Sprüth Magers realisiert wurde, künstlich aufgeblasen, was man besonders gut an den Stills von Videoarbeiten aus den 70er-Jahren beobachten kann. Vielleicht hätte es an einem anderen Ort besser funktioniert, so beginnt es sehr kleinteilig mit Wahrnehmungsexperimenten und Dokumentationen ihrer prozessualen Arbeitsweise und endet ebenso. Eine Ausnahme ist ihre monumentale Land-Art-Arbeit Sun Tunnels, die allerdings nicht im Original, sondern in Form einer Dokumentation erlebt werden kann. Sie besteht aus einer vierteiligen Beton-Installation, die sie mitten in der Wüste buchstäblich in den Sand gesetzt hat. Wobei ich mich frage, ob ich die Arbeit wirklich so gut finde oder ob ich vor allem von ihren Dimensionen beeindruckt bin.
Weil es mehrere Videoarbeiten gibt, in denen sie mit ihrem Partner Robert Smithson zu sehen ist, sowie ­Interviews mit Protagonisten der damaligen New Yorker Kunst-Szene, hätte ich es konsequenter gefunden, man macht eine Ausstellung über das Künstlerpaar und die konzeptuelle Land-Art-Szene statt eine bemühte Einzelausstellung. Dann würde Holts ortssensible und netzwerkorientierte ­Arbeit eventuell besser zur Geltung kommen. So wird ihr ein Denk­mal gesetzt, das ihre Arbeit gar nicht auszufüllen vermag. Interessant fand ich noch, darüber nachzudenken, ob sie wirklich im Schatten von Smithson stand. Die Signaturen und auch die Dokus, die es von ihrem Arbeiten gibt, belegen, dass sie durchaus ein Bewusstsein für die Bedeutung ihrer Arbeit hatte. Vielleicht wollte sie sie gar nicht so groß machen und reproduzieren wie in der Berliner Ausstellung? Diese zeigt einmal mehr, wie heikel es ist, Ausstellungen aus dem Nachlass von Künstlerinnen zusammenzustellen und mit diesem Nachlass nachhaltig und gleichzeitig im Sinne der Künstlerinnen umzugehen.

7./8.6. 2024 Bitterfeld/Wolfen, Osten Festival
Das kommt wieder gut: die zweite Auflage der spezifischen Mischung aus Kunst, Performance, Theater und Partizipation. Das Festival-Gelände ist dieses Jahr die Alte Feuerwache in Wolfen, neben Rathaus, Kulturhaus und Filmmuseum, die ebenfalls ins Programm einbezogen sind. Es werden drinnen und draußen Kunstwerke gezeigt, Workshops und Motorradtouren angeboten, es gibt ein Kran-Ballett und jeden Abend eine Frage des Tages, zu der alle eingeladen sind, zusammenzukommen und zurück und nach vorne zu schauen. Und es gibt eine Wasserrutsche, die aus dem ersten Stock in ein kleines Becken führt und für Groß und Klein eine tolle Erfrischung bietet!
Was besonders gut funktioniert: die Projekte, bei denen die eingeladenen Künstler*innen längere Zeit vor Ort mit den Bewohner*innen verbracht und gemeinsam etwas entwickelt haben. Wie zum Beispiel die Fotosammlung Neubelichtung von Anke Heelemann, für die sie ein Jahr lang vor Ort private Fotos gesammelt hat. Sie wird auf einem Tisch präsentiert, der die Besucher*innen animiert, Neuordnungen vorzunehmen und eigene Kategorien zu entwickeln. Oder das Stück Handarbeit, bei dem zwölf Wolfenerinnen mitspielen und eine bewegende Performance aufführen. Hier findet ein Rückgriff auf die Laienzirkel-Idee statt, die durch den Bitterfelder Weg 1959 ausgerufen wurde und die Zusammenarbeit von Künstler*innen und Arbeiter*innen anregen sollte.
In Anbetracht der AfD-Dominanz im Osten scheint es umso dringlicher vor Ort zu sein, sich die Geschichten der Menschen und Orte anzuhören, engagierte lokale Akteur*innen zu stärken und Begegnungen zu ermöglichen, um Verhärtungen entgegenzuwirken und Fragen zu stellen, statt nur Parolen rauszuhauen. Das schafft das Festival!

25.9.2024 Stadtmuseum Brandenburg
Eine Ausstellung zu Paul Goesch bringt mich dazu, einen Tagesausflug ins Umland zu machen. Goesch ist ein Künstler, der 1940 in Brandenburg dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten zum Opfer fiel. Ein Großteil seines Nachlasses befindet sich in der Berlinischen Galerie, ein anderer ist schon zu seinen Lebzeiten in die Sammlung Prinzhorn gelangt, weil Goesch längere Zeiten in psychiatrischen Anstalten gelebt hat. 1885 geboren, hat er ein Studium der Architektur aufgenommen und war sowohl mit Architekten wie Bruno Taut in Kontakt als auch Mitglied der Berliner Novembergruppe. Seine eher kleinformatigen Aquarelle sind Teil einer Ausstellung, die von Mitarbeiter*innen des Hauses zusammen mit einem 20-köpfigen (!) ehrenamtlichen Team kuratiert wurde. Ausgestellt sind neben seinen Bildern auch Korrespondenzen und Krankenakten. Aus den Infotexten erfährt man, dass die Patient*innen auch gegen ihren Willen stundenlang warme Bäder nehmen mussten oder dass aufgrund von Materialknappheit Goesch auch auf Papierresten und Streichholzschachteln gemalt hat. Auf bunten Schildern sind Informationen zu seinem Lebensweg, seiner Familie, seinen Gefährt*innen und seiner Zeit in verschiedenen Kliniken versammelt. Die Texte sind verständlich geschrieben, Fragen öffnen Interpretationsmöglichkeiten, ohne zu pathologisieren. Am Ende wird man zur Gedenkstätte Opfer der Euthanasie-Morde geleitet, in der 70.000 Menschen ermordet wurden. Ich bin froh, dass dies meine erste Station war und ich mit den farbenfrohen, nachdenklich-phantasievollen Bildern von Goesch ende.

11.10.2024 Kino Babylon
Das ist schon was, sich kurz vor dem Schlafengehen noch mal aufs Rad zu schwingen. Schließlich weiß man nicht, wie lange der Abend geht und ob man dann nicht doch wieder im Kinosessel einschläft. Die Filme, die es zu sehen gab, hätten einem die Augen zufallen lassen können. Daher wird mit dem Knallen von China-Böllern die Fangemeinde um den bekannten Künstler, Verleger und Grafiker erst einmal aufgeschreckt und aufgeweckt. Man sammelt sich unter der Leuchtreklame vor dem Babylon: ­VIDEOART AT MIDNIGHT # 144: ANDREAS KOCH . Rauch steigt auf am Rosa-Luxemburg-Platz. Filme, die man sich in einer Ausstellung meistens nur im Vorübergehen ansieht, werden in ihrer Gänze und Exklusivität gewürdigt. Nach einer kurzen Begrüßung durch Kurator Olaf Stüber, der 2022 den Initiativenpreis des Berliner Senats für diese Reihe erhielt, geht es los. 35 Minuten ohne Handlung. 35 Minuten, eine Kamerafahrt. Bei Adalbertstraße (2003) handelt es sich um den Proto-Typ der Koch-Filme. Aus rätselhafter Perspektive gleitet die Kamera langsam durch die Straße, entfernt sich immer weiter von ihrem Ausgangspunkt, immer mehr Motive rutschen ins Bild. Irgendwas stimmt nicht. Die sonst so belebte Kreuzberger Meile ist menschenleer, andere Störfaktoren wurden retuschiert. Vor der Leinwand, in Kontakt mit dem bewegten Bild, brilliert Friedemann Bochow an der Orgel, nicht ohne sich von Marco Brosolo hin und wieder mit Elektronischem ins 21.Jahrhundert knallen zu lassen. Im Kinosessel genießen wir insgesamt sechs dieser Zoom-Filme aus dem Bastelstudio Koch und einen Film, der den Urheber thematisiert, in Rolle und Funktion. Unter dem einladenden Titel Gemeinsam älter werden werden wir hier Zeug:innen eines Haupthaarverlusts 2003, 2013 und 2023. Das ist eine kleine Sensation, nicht nur für diejenigen, die diese 20 Jahre mitgegangen sind. 2003 gab es die Galerie Koch und Kesslau noch, 2023 gibt es den Verlag. Was wird es 2033 geben? Das Bier schon leer, die letzten Krümel aus der Popcorn-Tüte, in dieser Nacht hielt man noch lange durch. Lasst uns Freunde bleiben.

9.11.2024 Steinstraße, Berliner Zimmer (.net)
Jetzt im mittleren Alter (mittel ist eigentlich schon falsch, man müsste mit Mitte fünfzig schon sagen im unteren höheren Alter) kommt man häufiger in die Rolle des Zeitzeugen. Ein Zeitzeuge ist jemand, der Zeitgeschichte persönlich erlebt hat und davon Zeugenschaft ablegt. Die letzten Holocaustüberlebenden, jetzt um die 100 Jahre alt, sind die letzten Zeitzeugen dieser unfassbaren Verbrechen. Ich kann bestenfalls von der Mauer berichten und der Zeit danach, den Neunziger Jahren in Berlin. Auch schon die Jahrtausendwende ist quasi historisch, zumindest wenn man den Berliner Kunstbetrieb betrachtet. Kürzlich hielt ich einen Vortrag über das Jahr 2002 und kramte in meinen Regalen nach bildnerischem Material. Nächste Woche werde ich über die frühen Neunziger berichten, aus der Perspektive einer Zeitung, an der ich mitwirkte.
Dieses mündliche Berichten über eine Zeit ist das, was Zeitzeugenschaft ausmacht, danach bleiben nur noch Dokumente, bestenfalls Filmaufnahmen von Gesprächen. Auch deshalb ist diese kleine Zeitung hier wichtig, genau wie die Arbeit von Sonya Schönberger hier in diesem Heft, aber noch wichtiger in ihrem Berliner Zimmer, ein Format in dem sie seit 2018 Zeitzeugen interviewt. In mittlerweile über 160 Filmen kann man Menschen über ihr Leben reden hören und sehen – und ihre Auswahl ist so ausgewogen divers, wie es unterschiedliche Menschen gibt. (www.berliner-zimmer.net)

15.11.2024 Kunstraum Kreuzberg
Wenn ihr eine Fatigue bekämpfen müsst oder einen nächsten Burnout verhindern, wenn ihr Ressourcen schonen wollt und nachhaltig arbeiten, dann macht doch ab und zu eine Zeichnung.
Nicht größer als DIN A3. Dem Ur-Medium der Kunst huldigt das Projekt der Anonymen Zeichner*innen seit 20 Jahren. Anke Becker hat mit dem Format der Bilder ohne Autorennamen ein Ausstellungsformat etabliert, das zudem subversiv die Regeln des Kunstmarktes umgeht, wie es sie vorführt. Nach 3 Stunden Sichtung der 1000 Arbeiten aus aller Welt durfte am 15.11. im Kunstraum Kreuzberg günstig gute Kunst eingekauft werden. Sobald das Blatt von der Wand genommen ist, erscheint der Name und der Ort des Künstlers oder der Künstlerin auf der Wand. Die ersten verkauften Werke kamen neben dem Sauerland dieses Mal aus Nigeria, Kanada, Mexiko und der Schweiz. In einer Zeit, in der die Handschrift verschwindet, ist, so könnte man meinen, auch die Handzeichnung was für alte Leute. Tatsächlich, so ehrlich muss man sein, drängelten sich auf der Eröffnung die Ü50s. Eine Szene der Liebhaber fürs Papier. Die Frage ist also, wann entdeckt die Jugend, was man ohne Strom alles erzählen kann?
Tanzstück Handarbeit, Foto: Falk Wenzel
Olaf Stüber und Andreas Koch, Foto: Bernward Reul