Den Kehraus ignorieren

oder Von No Future zu Longevity

2025:Juni // Chat

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06-2025

Über den Tod schreiben, bedeutet am 18.03.2025 von einem Bomben-Angriff zu sprechen, bei dem 400 Zivilisten getötet wurden (Gaza). Es gibt Orte auf der Welt, da ist der Tod dein Gegenüber. Du gehst mit ihm schlafen und stehst mit ihm auf. Er erscheint dir in der Welt deiner Träume und am Tag fasst du ihn an, warm, kalt, mit Blut verschmiert oder du hast ihn in den Seelen, deren Erschöpfung das Maß des Erträglichen überschritten hat.
Am 18.03.2025 beschließt der deutsche Bundestag eine Grundgesetzänderung. So wird der Weg frei für tausend Milliardengeschäfte, von denen nicht nur die Rüstungsindustrie profitiert, trotzdem schießen umgehend die Aktien von Rhein-Metall durch die Decke. KEIN GELD FÜR KRIEG, ein alter Stempel in der Schublade, lauert auf seinen Einsatz. Natürlich kommt er nicht an gegen eine Iron Lady, die verkündet, alle sollten sich auf den nächsten großen Krieg einstellen (Annalena Baerbock).
Als ich 12 war, wollte ich die Untoten in der Straßenbahn aufwecken, dem ersten öffentlichen Verkehrsmittel, das ich benutzte, um in die Stadt ins Gymnasium zu fahren. Der moderne Mensch, wie er da saß und vor sich hinstarrte, regte mich auf. Ich verstand ihn nicht und, was noch wichtiger war, ich wollte kein Verständnis für ihn haben. Ich befand mich auf der Schwelle, meine lebendige, ehrliche Kindheit zu verlassen und in ein Erwachsenenleben einzutreten, das mir allerhöchst suspekt erschien. Ich war irritiert. Auf keinen Fall wollte ich so werden wie die. Ganz oft verfiel ich in ein unkontrolliertes, wildes, krampfartiges Lachen, das ich nicht stoppen konnte – auch in der Straßenbahn. Wenn ich groß werden sollte, musste ich also erst mal die Großen und ihre Welt ändern.
Zuhause überlegte ich mir Fragen. „Wie geht’s Ihnen heute?“, „Wie haben Sie geschlafen?“, „Was denken Sie gerade?“, „Warum sagen Sie nix?“, „Möchten Sie sich nicht zu jemand anderem setzen?“, „Sprechen Sie doch einfach mal jemand an!“ oder Komplimente wie „Sie sind sehr schön“, „Ihr Mantel ist toll“. Ich schnitt kleine Kärtchen zurecht und malte die Sätze darauf.
Ich stellte mir so was vor wie eine Party in der Straßenbahn, und wenn es damals schon Bluetooth gegeben hätte, hätte ich bestimmt Musik angestellt. Der ein oder andere hat müde gelächelt, als er die Karte las, das war’s. Meine Reaktion pendelte zwischen Enttäuschung und Verzweiflung. Im Unterricht ging das mit dem Lachen wieder los.

Ich lachte auch 10 Jahre später noch. Meinen schlimmsten und längsten Lachanfall hatte ich in New York. Wir saßen in einem Straßen-Café downtown, und ich konnte nicht mehr. Nicht mehr aufhören. Vor meinen Augen liefen Menschen, die nichts miteinander zu tun hatten. Sie waren total vereinzelt und einsam, darunter wenige, die waren richtig verrückt. Psychiatrische Anstalten der Stadt seien kurzfristig geschlossen worden, sagte man, deswegen befänden sich die Kranken nun auf der Straße. Sie redeten wild gestikulierend mit sich selbst, viele hatten Krämpfe oder verdrehten die Augen. Sie standen an großen Kreuzungen, Straßenecken und man musste befürchten, dass sie in Autos liefen. Das war auch das erste Mal, dass ich so viele Menschen im Rinnstein liegen sah. In Berlin war gerade die Mauer gefallen, in New York konnte man finden, was der Kapitalismus zu bieten hatte. Man verzichtete auf Sicherheit und in dem pulsierenden Leben schien man den Tod nicht zu fürchten.
Agnes Varda hat 1985 einen Film gedreht, der einer Frau, die auf der Straße lebt, folgt. Sandrine Bonnaire verkörpert dort den riesigen Freiheitswunsch der Punk-Bewegung.„Muss man immer was machen?“, fragt sie, „kann man nicht einfach nur sein?“. Sie stirbt wenig später ohne ihren Platz in der Welt gefunden zu haben. Die Menschen, denen sie begegnet ist, schwanken zwischen Unverständnis und Verurteilung. Eine Frau will sie retten und kommt zu spät.
Agnes Varda und Nan Goldin schauen auf die Welt von Menschen. Ihre Träume und Sehnsüchte wiegen schwerer als ihr effektives Scheitern. Das Scheitern, der Schmerz, ja, der Tod, gehören zum Leben dazu.
2025 sorgt der Hipster für Gesundheit. Vom Schlafrhythmus über Ernährung, psychologischer Self-Care und achtsamer Kommunikation, bis zur ausgetüftelten körperlichen Ertüchtigung soll einem Leben jenseits der hundert Jahre nichts mehr im Weg stehen. Ich will alles dafür tun, länger zu leben. „Longevity“ nennt man das. Longevity fragt nicht nach dem Warum. Longevity richtet sich aus nach den Anweisungen eines virtuellen Agenten. Für unproduktive, ineffektive Phasen hat der keinen Sinn. Wer Zeit hat, wer nachlässig, cool und entspannt ist, wohlmöglich mit einer Zigarette in der Hand – nicht, dass der jetzt wieder asozial wird!

„Die Generation, die zwei Weltkriege mitgemacht hat“, ist ausgestorben. Und wir? „Ihr habt ja 80 Jahre keinen Krieg gehabt.“ Der Krieg wird beschlossen mit Milliarden-Krediten. Wenn schon KI, dann bitte eine, die den Krieg verhindert.
Über den Tod schreiben, bedeutet am 25.3.2025 von einem Luftangriff auf einen Markt zu sprechen, bei dem mehr als zweihundert Zivilisten getötet wurden (Darfour, Sudan),
Foto: Nadine Dinter, Alter St. Matthäus Kirchhof, Berlin, 2023