Anmerkungen zum Tod

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06-2025

Be prepared?
„Wer sich nicht vorbereitet, bereitet sich auf sein Scheitern vor“, soll Benjamin Franklin gesagt haben. Benjamin Franklin, der Mitbegründer der Vereinigten Staaten von Amerika. Er gründete auch die ersten Freiwilligen Feuerwehren in Philadelphia sowie die erste Leihbibliothek Amerikas. Wenn man so was macht, muss man ja gut vorbereitet sein.
Und auf was bereite ich mich vor?
Auf eine Ausstellungseröffnung bereite ich mich vor. Auf das Wochenende. Auf den Montag nach dem Wochenende und meinen anstehenden Alltag. Ich bereite den Einkauf vor, den ich machen muss. Bereite das Essen vor, das wir am Mittag einnehmen möchten. Ich bereite die Steuererklärung vor, die ich machen muss. Ich bereite das Bild vor, das ich zeichnen möchte. Ich bereite meine Tasche vor, mit der ich verreise. Ich bereite Geburtstage vor, die gefeiert werden, meinen eigenen und den von anderen. Aber auf den Tod? Seit ein paar Tagen beschäftigt mich das. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich unvorbereitet fühle. Auf den Tod. Obwohl ich es gerne wäre. Aber, wie macht man das, sich auf den Tod vorbereiten, auf meinen eigenen und auf den der anderen?
Ich würde mich in den gerade aufgezählten Lebenslagen ja nicht vorbereiten, wenn es keinen Sinn ergeben würde, also muss ich mich doch auch auf den Tod vorbereiten, denke ich.
Ich muss. Aber ich gebe zu, ich habe Angst davor. Vor dem Tod und vor der Vorbereitung auf den Tod. Das ist beides sehr beunruhigend.
„Wer sich nicht vorbereitet, bereitet sich auf sein Scheitern vor.“ Und so wird es dann wohl sein. Obwohl ich weiß, dass es ein Fehler ist, verschiebe ich ausgerechnet diese Vorbereitung. Es kommt mir vor, als wäre ich ein Kind, das sich vor aufgetragenen Hausaufgaben drückt. Obwohl der Tod doch sekündlich, stündlich, täglich näher rückt. Meiner und der der anderen. Meiner Liebsten. Wie viel Zeit bleibt uns wohl noch?
Und trotzdem verschiebe ich es. Lasse den Tod Tod sein und ignoriere meinen Vorbereitungswunsch. Zumindest jetzt und wohl auch für die nächsten Stunden.
„Er wird plötzlich da sein“, trösten mich die anderen, „auch wenn du dich vorbereitest“, sagen sie zu mir, die schon mehr Erfahrung haben mit dem Tod. „Eigentlich kannst du dich gar nicht darauf vorbereiten.“
Aber sie können mich nicht beruhigen. Mich ängstigt diese unvollendete Vorbereitungsstelle in meinem Leben.
Dann stolpere ich unerwartet über diesen Satz von Albert Einstein: „Das Leben ist eine Vorbereitung auf die Zukunft; und die beste Vorbereitung für die Zukunft ist, so zu leben, als ob es keine gäbe.“ AIW

Tod und Ruhm 1
Wenn man berühmt ist und alt, existieren schon die Nachrufe über einen. Man kann sie aber nicht lesen, denn man ist ja noch nicht tot. Wie die Geier fliegen die Nachrufe über den alten berühmten Menschen und lauern auf deren erwartbares Ende. Je berühmter jemand ist, desto mehr Nachrufe gibt es. Ist es dann so weit, stürzen sie sich herab, hinein in die Presselandschaft. Die Nachrufschreiber können natürlich viele Texte auf Halde vorproduzieren. Sie müssen dann im Falle des Ablebens nur schnell sein und von dem jeweiligen Tod mitbekommen haben – noch bevor sie es durch einen Nachruf eines anderen erfahren. Denn Nachrufe haben ein schnelles Verfallsdatum. Der berühmte, nun tote Mensch ist unter der Erde und nach ein paar Tagen oder Wochen kommen schon die nächsten Nachrufe. Vielleicht hat man dafür aber auch einen in der Schublade. AK

Ofen
Ich hörte von künstlerischen Testamenten, in denen klipp und klar formuliert wurde, dass dieses oder jenes nach dem eigenen Ableben nicht in die Öffentlichkeit gelangen dürfe. Es wurde aber dann von Sachverständigen auf die allgemeine Relevanz für ebendiese Öffentlichkeit geprüft und, schwupps, doch veröffentlicht. Intime Dinge und so Zeugs. Also lieber vorher noch mal alles lesen und in den Ofen, wenn es zu kompromittierend ist. Die Nachwelt kennt keine Gnade. Je berühmter man ist, desto öffentlicher ist man. PKK

Tod und Ruhm 2
Früher im Tagesspiegel am Sonntag, jetzt in der Wochenendausgabe, gibt es eine spezielle Rubrik, auch sie heißt „Nachrufe“. Dort kommen aber nur nicht-berühmte Menschen ein letzes Mal zu Ehren. In den meisten Fällen ist es auch das erste Mal, dass eine breitere Öffentlichkeit von diesen Menschen erfährt. Die Nachrufschreiber graben sich tief in das Leben der Verstorbenen ein, recherchieren, befragen die Hinterbliebenen, die Freunde, die Familie und schreiben berührende Porträts. Diese Texte werden erst Monate nach dem Tod abgedruckt. AK

Aufschneiden
Auf Zeit-Online stolpere ich über eine Doku über Medizinstudierende im Prepkurs, Preparationskurs, jeder Mediziner muss und musste da durch. Körperspender, auch die werden vor ihrem Ableben in der Serie gezeigt, geben ihre Leiche frei. Man sieht alles, wie die Körper unter Tüchern daliegen, die Scham der Studenten, wie die Tücher weggezogen werden und dann die Leichen, verwelkt, gelb, lederig mit Skalpellen angeschnitten werden und dann der Körper Schicht für Schicht abgetragen wird. Der anfängliche Ekel weicht dem Interesse und Handwerk.
Mir wird beim Zuschauen wieder bewusst, wie groß der Unterschied zwischen einem „beseelten“ Körper und einem toten ist, wie der dann Material wird. Und wie man mit diesem Körper, diesem Wunderwerk der Natur, eine Einheit bildet. Selbst wenn die einzelnen Teile nach und nach weniger gut funktionieren, anfangen zu schmerzen, sind sie doch man selbst. Mit einem Schlag, mit dem letzten Herzschlag, wird der Körper dann zum Objekt, zu Müll. Ich glaube ich werde jetzt einen Organspenderausweis beantragen.AK

Vater
Die erste Leiche, die ich in Realität sah, war die meines Vaters. Er lag aufgebahrt in der Aussegnungskapelle. Er sah eher aus wie eine Wachspuppe, die meinen Vater darstellen sollte. Insgesamt merkwürdig klein, vielleicht 80–85 Prozent seiner Größe als Lebender aus meiner Erinnerung (die zwei Wochen alt war). Er starb plötzlich im Bett. Hörte eines Nachts auf zu atmen, ohne Voranzeichen. Herztod. Ich war 18, seit etwas über einem halben Jahr volljährig. Jetzt bin ich schon fünf Jahre älter als er zu seinem Tod. Er starb zwei Wochen nach seinem 50. Geburtstag. AK

Der stumme Schrei
Mit der Ausstellung „The Burden of Papa Tonnerre“ im Schinkel Pavillon – im weiteren Sinne Nachfolger der „Galerie der Lebenden“ (Kronprinzenpalais, 1919–1933) – wurde von Pol Taburet ein Gesamtkunstwerk geschaffen, das die Geschichte der Abwertung, der Entartung von Kunst, das Verschweigen von offensichtlichem Unrecht mit erzählt.
Bronzeskulpturen, Lithografien, Malereien aus Acryl, Öl-Pastellkreide und alkoholbasierter Farbe auf Leinwand, Teppich und Wandbespannungen aus Filz, wurden in einem durchdachten Raumkonzept positioniert: Ein Konzept der Trauer, das unter anderem den Eiertanz um: Was darf noch gesagt bzw. kritisiert werden? und das Wie? aufgreift, einschließlich der sich daraus ergebenden Last des Protagonisten: 1. Ich hätte etwas sagen können/ … // 2. Wer bin ich/ wer bist du/… // 3. Wir wollen leben/… // 4. Höhere, erfahrene Vögel/ kommentieren, blockieren, ghosten/ … // 5. Als Grundlage des Ausdrucks/ spricht es mehr vom Prekären/ … // 6. Alt ist der Verrat wie auch das Vertrauen/ im Ruf des Tafeltuches, oft gewebt aus Leinen/ blau mit tiefen starken Wurzeln/… gedenken wir der Selbstachtung/ die Hoffnung stirbt nicht// KW

Wozu trauern?
Die Trauer um den Tod von „Mickey“, einem „Expandable“, ist sehr begrenzt, wenn überhaupt vorhanden. Das Sterben gehört zu seiner sicheren Anstellung. Ihn wird es auf der Berlinale 2025 im vorgestellten Film vom Regisseur Bong Joon-ho „Mickey 17“ 18 Mal geben, sodass die Reflexionen über den Wert und Sinn des Lebens sowie die Trauerkultur – oder besser die zeitgeschichtlichen Veränderungen darum – in aller Vielfalt bedacht werden können.
Mickeys Nutzen für die auserwählte Menschheit liegt in dem Experiment, wie lange er unter den jeweiligen Test-Bedingungen leben wird. Die beruhigende Auferstehung als Klon durch die Technik ist erstmal gewiss, er ist eine Art Versuchstier, das für neue Erkenntnisse über die Lebensbedingungen auf einem Fremdplaneten immer wieder „freiwillig“ missbraucht bzw. geopfert wird. Die Trauer über seinen Tod wird damit obsolet und damit alle kulturellen Rituale und mit ihnen verbundenen Wirtschaftszweige.  KW

Tod und Ruhm 3
Kennt eigentlich jemand die Kurzgeschichte von Arno Schmidt, bei der die Toten, in einer perfekt ausgestatteten Unterwelt, die ganze Zeit gelangweilt herumlungern, sich mit den anderen Toten rumstreiten, und er das als die wahre Hölle beschreibt.* Sein Clou ist, dass dies erst so eine Art Zwischenschritt bis zur endgültigen Erlösung ist, bei der man dann ganz verschwinden darf. Solange sich nämlich noch ein Nachweis über die Existenz der Toten in der lebenden Welt befindet, können sie nicht ganz gehen. Geburtsregister verschwinden meist nach 100 Jahren, die größten Probleme haben die Berühmten und Superberühmten. Shakespeare, Bach, da Vinci darben schon lange und haben keine Hoffnung mehr. Noch schlimmer gehts Homer und Platon. AK
* Arno Schmidt, Tina oder über die Unsterblichkeit, 1957, veröffentlicht in: Drei Erzählungen, Fischer, Frankfurt a. M. 1997

Fragen
Welche (Krankheits-)Diagnose muss man bekommen, um lieber vorzeitig selbstbestimmt zu sterben?
Und was wäre in dem Moment, in dem man das dann umsetzen muss? Will man es dann noch?
Diese Frage taucht bei mir immer mal wieder auf.
Wie sehr hängt man am Leben … auch in Momenten der größten Bedrohung und Angst?
Eine andere Frage: Schneidet oder hackt man sich freiwillig eine Hand oder einen Fuß ab, um sich aus einer Fesselung, einer Situation zu befreien, die auf den unfreiwilligen Tod hinausläuft? BB

Wiederauferstehung
Die Wiederholung der Wiederauferstehung ist schon länger virtuell bereits gelebter Realismus – unabhängig von der Erzähl-Tradition der Religionen.
Die Erinnerung an die Erzählung über die Erfahrungen mit unvorstellbaren, „menschlichen“ Handlungen, die Trauer über die einzelnen Schicksale und Morde, über Vernichtung von unzähligen Menschen wird u. a. mit dem 2022 gestarteten Projekt „In Echt? At School“ mit virtuellen Brillen vom Typ Meta Quest 3 für das Gespräch mit NS-Zeitzeug:innen aufrechterhalten. … In vollkommen anderen Zusammenhängen kopiert sich die beliebte Formation ABBA, um die Trauer der Fans über mangelnde Konzerte auf Grund unter anderem des Alters, und um das zukünftige Ableben abzumildern, in den virtuellen Olymp der Unsterblichkeit. Älter werdende Originale sind scheinbar überflüssig, ersetzbar. KI kann weitere Werke errechnen. KW

Ist das Ende schlecht oder gut?
Gerechtigkeit betrifft den leiblichen Tod. Er ist für jeden gewiss – auch für Nan Goldin, deren Lebenserfahrungen in der Neuen Nationalgalerie in Teilen nacherlebt werden konnte. Sie sagt ein schlimmes Ende voraus: „This Will Not End Well“.
Nicht im weißen Ausstellungsraum, sondern in dunklen Vorführräumen, im „Dorf der Diaschauen“, wurden sechs Arbeiten von je 15–42 Minuten Länge mit Voice-Over-Stimme/Sound und Musik gezeigt: Von dem was bleibt aus 50 Jahren real gelebten Lebens, Fotografierens, Ordnens, Reflektierens, des Schaffen eines Werks der Erinnerung – mit mehr tiefen Talgängen denn Gipfelbesteigungen für Erleuchtung. Es ist eine Kunst des individuellen, aber auch exemplarischen Lebens mit sich wiederholenden Abläufen, vielleicht auch der großen Erkenntnis über die Kürze der Lebenszeit, die in Momenten oder auch in Jahren des Leidens eine Ewigkeit dauern kann, die Trauer um die geliebten Menschen und die viel zu kurzen Augenblicke des Glücks. Sie betören, verstören durch die Offenbarung der Erfahrungen als universelles, zeithistorisches Dokument sowie als neu geordnetes Vorlass-Werk. KW

Hoffnung
Jede Trauer hat ihre Zeit, wird gesagt. Wahrscheinlich ist sie immer latent vorhanden und muss gepflegt und weitererzählt werden.
Yoko Ono, die inspirierende Künstlerin, Musikerin, Performerin und Aktivistin wird nicht müde, die hellen, positiven Möglichkeiten von Handlungen und Emotionen zu thematisieren – entgegen den negativen Auswüchsen vom Stress der Existenzerhaltung, von zerstörerischen Emotionen, von der dunklen, niederreißenden Trauer. Das kann in Berlin in der Neuen Nationalgalerie, im Martin-Gropius-Bau und außerhalb der Räume des n.b.k. bis zum 31. August 2025 erlebt und gelebt werden: als ein berührendes, stilles Feuerwerk für das einander zugewandte, liebevolle, sensible Miteinander – bildende Kunst, individuell wie universell – für die Toten, die Lebenden, die Kommenden. KW

Friedhof
Kai Hilgemann hatte seine erste Galerie ja auf einem Gelände, das nördlich von der Linienstraße und westlich von der Gormannstraße begrenzt wird. Jetzt steht da ein größerer Komplex aus den späteren Neunziger Jahren, hauptsächlich Gewerbe in Lofts. Ältere erinnern sich vielleicht noch an das Dunkelrestaurant, man aß bei absoluter Dunkelheit, die Kellner waren oft blind und konnten so besser navigieren. Jedenfalls erzählte Hilgemann, dass während der Baustelle zu eben diesem Ensemble eine Menge Knochen und Schädel ausgegraben wurden. Hier befand sich, gegenüber vom immer noch bestehenden Garnisionfriedhof, die andere Hälfte besagten Friedhofs und das bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein. Auf dem Gelände befinden sich jetzt neben den relativ neuen Gewerbegebäuden die Cosmopolitan School und die Franz-Mett-Sporthalle. Jedenfalls besorgte sich Kai Hilgemann im Austausch mit Wodkaflaschen von den Arbeitern einige Dutzend Schädel und baute daraus eine Pyramide, die er 1995 in der Tucholskystraße ausstellte. Ich finde es hauptsächlich deshalb erwähnenswert, weil die Vorstellung, dass wir buchstäblich auf unseren Toten leben, mich nochmal näher an meine Vergänglichkeit heranführt. AK

Lebend tot
Da fällt mir die Arbeit von Timm Ulrichs ein: Erster lebender Toter, wo er auf einem Grabstein nur sein Geburtsdatum und eben den titelgebenden Spruch eingravieren ließ. Ein echter Kunst-Zombie also.
Da fällt mir die Arbeit von On Kawara ein: I am still alive, wo er eben diesen Spruch per Telegramm an ihm bekannte Menschen geschickt hat. Möglicherweise war das letzte noch unterwegs, als er schon tot war.
Da fällt mir die Arbeit von Bas Jan Ader ein: In Search of the Miraculous, wo er den Atlantik in einem kleinen Segelboot überqueren wollte und in dessen Rahmen der Künstler den Tod gefunden hat. Einfach spurlos verschwunden und für tot erklärt.
Da fallen mir all die Künstlerinnen und Künstler ein, die schon zu Lebzeiten für tot erklärt worden sind, weil man ihre Kunst nicht mehr haben wollte, sie aber trotzdem weiterlebten. Manche wurden wiederentdeckt. Andere haben sich selbst getötet. PKK

Selbstmord
Es ist eine Tatsache, dass die Suizidrate unter Künstlerinnen und Künstlern höher ist als im Durchschnitt der Bevölkerung. Man geht von einer Erhöhung des Risikos von ca. 110% aus. Am schlimmsten sieht es in der Gruppe der darstellenden Künstlerinnen aus. Wen wundert es? Berühmte Selbstmörder in der bildenden Kunst: Vincent van Gogh, Mark Rothko, Felix Gonzalez-Torres, Mike Kelley. Ganz zu schweigen von all den jungen Studierenden an Kunstakademien weltweit, die sich das Leben nehmen, bevor sie begreifen, dass man auch was anderes im Leben machen kann als scheitern. PKK


Antonia Isabelle Weisz (AIW), Andreas Koch (AK),
Kerstin Wesslau (KW), Peter K. Koch (PKK),
Barbara Buchmaier (BB)
Foto: Nadine Dinter, Alter St. Matthäus Kirchhof, Berlin, 2023