Liminal vereint zwölf Werke, die in den letzten elf Jahren entstanden sind. Camata III, 2024 entstanden, stellte Esther Schipper bereits im selbigen Jahr aus. Der sich selbst inszenierende Film Camata III steht im Zentrum der gesamten Ausstellung und thematisiert anhand eines in der nordchilenischen Atacama-Wüste gefundenen und liegenden Skeletts, um die mehrere schwarze Roboterarme KI-gestützt auf einer halbkreisförmigen Schiene herumfahren, eine Art nachträgliches Beerdigungsritual, in dem diese an verschiedenen Stellen des Skeletts Kunstedelsteine ablegen und wieder aufheben, neu verteilen und anordnen. Das Video schneidet sich selbst, ausgelöst durch verschiedenste Sensoren, und wird so zu einer endlosen Zeremonie, einem posthumanen Totenkult, der den Tod nicht als endgültig begreift.
Schon der Titel verrät, wohin die Reise geht oder eben auch nicht. Liminal ist ein Übergangszustand zwischen Leben und Tod, Menschsein und Maschine, Materie und dem Nichts oder zwischen Realität und Fiktion und wirft damit die für Huyghe typischen werkimmanenten Fragestellungen und Überlegungen auf, u. a. auch, ob man ein menschliches Skelett für eine künstlerische Arbeit verwenden kann oder darf?
Welche Bedeutung hat ein Beerdigungsritual? Warum gibt es dafür überhaupt Regeln? Er stellt Fragen zum Spannungsfeld zwischen (menschlicher) Materie und Auflösung derselben. Welche Rolle spielt Erinnerungskultur, in diesem Falle das Andenken an einen für die Welt namenlosen ehemaligen Tagebauarbeiter, der unter unbekannten Umständen an diesem namenlosen, dystopischen Ort verstorben ist.
Hat jemand diesen Menschen jemals vermisst? Wer sind seine Angehörigen? Kalt, lieblos und unwirklich, ja grotesk wirken das Video und die Bilder darin auf den Betrachter und evozieren damit einerseits Empathie, aber auch Abgestoßensein. Was ist da passiert? Wer war bzw. wer ist dieser Mensch? Ich kann in einer zufällig geschnittenen Großaufnahme den Zeh samt Zehennagel erkennen, darunter die abgefallene Schuhsohle und die Nahtlöcher; zerfallende Materie. Das Skelettrelikt ist teils noch nicht verwest, obwohl es im Wesentlichen skelettiert ist, und sicherlich hat die trockene Luft in der Höhe der Wüste dazu beigetragen. Selbst unter lebensfeindlichen Bedingungen vergeht hier nichts so schnell. Trockenheit und Sauerstoffmangel konservieren äußerst gut. Es ist zutiefst unheimlich und verstörend, weil es sich um einen verwesenden Toten handelt, und es ist gleichzeitig zerfallende Materie, für die sich keiner interessiert, außer diese Roboterarme, Pierre Huyghe und die Kunstausstellungsbesucher! Ich komme mir etwas voyeuristisch und hilflos beim Betrachten des Videos vor. Vielleicht will Huyghe, dass wir uns an diesen Mann erinnern, der anderen so egal war und dort so hilflos liegt. Wo ist das Subjekt in diesem namenlosen Objekt? Ein Kunstexponat wird zur Totenmesse, um diesen Menschen zu würdigen, nicht die Kunst. Es appelliert an grundsätzliche mitmenschliche Instinkte, die manche offensichtlich nicht mehr haben, sonst würde dieser Mann dort nicht liegen. Da bin ich mir ziemlich sicher.
Das namenlose Skelett wurde vor einigen Jahren mittels Satellitenbildern und Himmelsbeobachtungen in der Atacama-Wüste gefunden. Mit ziemlicher Sicherheit wird es ein ehemaliger Minenarbeiter gewesen sein, der in der Chuquicamata-Kupfermine schuften musste. Die Kupfermine, die 2019 stillgelegt wurde, ist einer der größten Kupfertagebaue der Welt gewesen. Ab 1915 baute man hier verschiedene Erze ab. Bezeichnenderweise wurde der Tagebau von den Brüdern Guggenheim eröffnet und trug maßgeblich zu ihrem Reichtum bei, den sie wiederum in Kunstsammlungen investierten. Über die Arbeitsbedingungen im Tagebau muss man sich sicherlich keine Illusionen machen. Che Guevara, der auf seiner legendären Motorradtour die Mine kennenlernte, begriff einmal mehr, aus welch privilegierten großbürgerlichen Lebensverhältnissen er selber kam und wie die Kehrseite der Medaille aussah. Viele der Minenarbeiter litten aufgrund des Arbeitsumfeldes und der Bedingungen unter unheilbaren Lungenkrankheiten. Der Tagebau liegt auf fast 3000 Metern Höhe, wo das Atmen an sich schon schwerfällt und für viele zum ernsthaften Problem werden kann. Unter solchen Voraussetzungen dort zu leben und zu arbeiten, ist eine mentale und physische Herausforderung. In den 1970er-Jahren war der Tagebau ein Internierungslager für missliebige Regimegegner unter Augusto Pinochet, die dort gefoltert wurden. Danach wurden bis 2019 weiter Erze abgebaut. Der Point of no Return war scheinbar erreicht; bis zu 1000 Metern Tiefe konnte man in dieser Mine graben, um an die 20 % der weltweiten Kupferreserven heranzukommen.
2007 wurden die Bewohner des angrenzenden Ortes Calama umgesiedelt, da durch den industriellen Abbau arsenhaltige Verschmutzungen in die Gewässer und Böden gelangten und die Krebsrate ansteigen ließen, bzw. zu schwerwiegenden Atemwegserkrankungen führten.
Ob der Minenarbeiter einer dieser Bewohner war? Ob ihn dort jemand abgelegt hat, dort in dieser endlosen Wüste, einfach so auf einen Gerölluntergrund, unter die sengende Sonne? Oder ob er dort verendet ist? Woher kommst Du? Wer bist Du? Niemand scheint Dich zu vermissen. Niemand sorgt sich um Dich.
Die ihn umkreisenden schwarzen Metallroboterarme scheinen vor diesem Hintergrund fast zärtlich fürsorglich und behütend zu sein. So grotesk und kalt und seelenlos sie auch sein mögen oder aussehen; in diesen Maschinen scheint mehr Seele und Mitgefühl zu sein, als in den Menschen, denen dieser Verstorbene egal war und die ihn dort verenden haben lassen.
Die Atacama-Wüste ist der trockenste und einer der unwirtlichsten Orte der Erde und dennoch stand sie immer wieder aufgrund der natürlichen Ressourcen im Mittelpunkt kolonialer und imperialer Ausbeutungsfantasien. Existieren können in diesem lebensfeindlichen Raum nur wenige Menschen. Viele mussten dort leben und starben, um diese Fantasien zum Leben zu erwecken bzw. um dort elendig zu verenden.
Inzwischen ist die Atacama-Wüste eine beliebte Touristendestination und der ideale Ort für astronomische Beobachtungen. Die weltbesten Teleskope stehen dort, um den Raum zu erforschen, aus dem alles Leben kommt und den wir immer noch nicht ausreichend begreifen können, und der der Menschheit auch schon immer als mythologischer Projektionsraum gedient hat. Ich denke an kindliche Vorstellungen bzw. an den Ausspruch, dass man in den Himmel kommen würde, wenn man stirbt. Aus ethno-anthropologischer Sicht sind diese Vorstellungen oder dieser Mythos erklärbar, sie tauchen in vielen religiösen Fantasien auf; wissenschaftlich begründbar sind sie selbstverständlich nicht. Ein Ort, der widersprüchlicher nicht sein könnte, diese Ambiguität in sich vereint und diese Widersprüchlichkeit auch nicht sofort preisgibt.
„Jemanden in die Wüste zu schicken“ ist in der Regel ein sicheres und zynisch-sadistisches Todesurteil, und doch lebt die Wüste. Camata III ist ein Memento mori, ein zeitgemäßes, kybernetisches und hybrides KI-Stillleben, in dem nichts stillsteht und der Tote in einem endlosen Ritual auf eine ewige Reise geschickt wird, ihm eine letzte Würdigung entgegengebracht wird, die ihm Menschen nicht zeigen konnten oder wollten.
Ein letztes Geleit, das Requiem, um zu einem noch unbekannteren, ewigen Ort gelangen zu können, an dem es ihm hoffentlich besser geht als zu Lebzeiten.
Camata III wirft die Frage auf, ob der Akt des Gedenkens an einen Verstorbenen von einer Maschine ausgeführt werden kann. Wer hier gedanklich weitergräbt, landet unweigerlich bei dem Thema Ahnenkult und fängt an zu begreifen, wieso dieser in jeglicher Form und nicht nur beim Homo Sapiens eine existentielle und affektiv aufgeladene Bedeutung für die Hinterbliebenen hat und welche Wirkungsmacht damit verbunden ist. Somit sind der vermeintlich leere und ausgebeutete, klimatisch menschenfeindliche Raum der Atacama-Wüste und das Schicksal des Verstorbenen ein regelrechtes Sinnbild für die Folgen einer fehlenden Erinnerungskultur und für das gewaltsame Auslöschen von Geschichte, Daten und Fakten, auch wenn es nur die eines anonymen Tagebauarbeiters aus der Chuquicalamata-Mine sind.
Huyghe bedient sich somit nicht eines biologischen Relikts, sondern verweist mit seiner Arbeit auf die anthropologisch grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod. Es ist eine Konfrontation mit diesen vielleicht unauflösbaren Widersprüchen, die unendlich und vielleicht unbegreiflich sind und bleiben werden. Vielleicht verstehen das Maschinen besser, u. a. das ELT, das Extremly Large Telescope, das demnächst in der Atacama-Wüste fertiggestellt wird und darauf eventuell Antworten geben kann – oder neue endlose Fragen zu Allem und Nichts, Leben und Tod aufwerfen wird.
Pierre Huyge, Liminal (Camata III), Leeum Museum of Art Seoul, 27.2.–6.7. 2025