You Want It Darker

Eine Ausstellung im Friedhof Forum, Zürich

2025:Juni // Ralf Krämer

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06-2025


Wer sich in Zürich auf die Spuren großer Toter begibt, landet in der Regel erstmal an der Endhaltestelle Zoo, hoch über der Stadt. Richtung der lebendig eingepferchten Tiere biegt man links auf den Flantern-Friedhof ab und landet bald beim Grab von James Joyce, bewacht von einer bronzenen Miniatur jenes irischen Autors, der von seinem Körper sagte, er sei „wie eine Harfe“ gewesen „und ihre Worte und Gesten waren wie Finger, die über die Saiten liefen“. Eine gute halbe Stunde weiter den Zürichberg entlang, steht plötzlich eine Art Mini-Gehege mitten im Weg, auf dessen schmiedeeisernem Zaun hängen bunte Wäschestücke – für wen und warum, wer weiß? Eingezäunt ist der Grabstein von Georg Büchner, der hier als „Dichter von Dantons Tod“ benannt wird. In jenem Stück heißt es:

Danton: Julie, ich liebe dich wie das Grab.
Julie (sich abwendend). Oh!
Danton: Nein, höre! Die Leute sagen, im Grab sei Ruhe, und Grab und Ruhe seien eins. Wenn das ist, lieg ich in deinem Schoß schon unter der Erde.

Unten im Tal, auf der gegenüberliegenden Seite des Zürich Sees, hat der Friedhof Sihlfeld nichts Beengtes. Für Düsternis mit Ausrufungszeichen ist auf der 288.000 m² großen Parkanlage kein Platz. Hier gibt man sich Mühe, die letzte Ruhestätte von den Grenzen streng abgesteckter Grabstätten und noch engeren Urnen zu befreien. Zwischen großzügig angelegten, gepflegten Grabfeldern neueren Datums kann man an wild wuchernden Wiesen entlangschlendern, aus denen hin und wieder alte Grabsteine gen Himmel ragen. Picknick und Unterhaltungen sind hier ausdrücklich erlaubt. Ehrwürdigkeit strahlt allerdings die 1877 gebaute, dreiteilige Toranlage aus, die an der Aemtlerstraße den Zugang zum Friedhof markiert. In einem der klassizistischen Gebäude betreibt die Stadt das „schweizweit einzigartige Museum über Leben und Tod“, das Friedhof Forum. Hier eröffnete Ende August 2023 die Ausstellung „You Want it Darker – Songs über den nahenden Tod“. Die Neugier, wie Musik als Ausstellungsgegenstand sichtbar werden könnte, treibt durch die schummrige, seltsam vollgestellt wirkende Vorhalle mit einer imposanten Deckenleuchte in Molekülmodellform in das holzvertäfelte Büro von Reto Bühler, dem Leiter des Friedhof Forums. Er befindet sich wohl gerade im Homeoffice, denn seinen Arbeitsplatz, samt Sitzecke mit rundem Tisch und schwarz bezogenen Stühlen, hat er unter anderem einem Plattenspieler überlassen. An der Wand sind Vinyl-LPs drapiert. Das Publikum ist aufgefordert, die Scheiben aus den Covern zu ziehen, aufzulegen und über hochwertige Kopfhörer zu hören, was die Altvorderen Johnny Cash, Bob Dylan, Joni Mitchell, Scott Walker, David Bowie oder Depeche Mode über den nahenden Tod zu sagen und zu singen hatten. Hatten ist falsch. Haben trifft zu. Wenn man sich mal wieder auf jenen Song des 2016 verstorbenen Leonard Cohen einlässt, der dieser Ausstellung den Titel gab, auf seine Jahrhunderte überspannende Mischung aus minimalistischem Synthiepop, ­synagogalem Gesang und Cohens kaum noch Melodien folgender Rezitation, dann bleibt der Eindruck: Büchner und Joyce hätten das genauso als gegenwärtig empfinden können, zukünftigen Generationen dürfte es ähnlich gehen:

I struggled with some demons
They were middle class and tame
I didn’t know I had permission to murder and to maim
You want it darker
Hineni, hineni
I’m ready, my Lord.

Man muss nicht spirituell oder gar religiös in die Vollen gehen, um zu diesen mal sarkastischen, mal demütigen Zeilen über Gott-Verlassenheit und Vertrauen in ein großes Ganzes, in Resonanz zu treten. Neben dem Plattenspieler liegt der großformatige Ausstellungskatalog bereit, in dem sich nicht nur blättern lässt. Während auf dem Kopfhörer Bob Dylans Wiegenlied „Death is Not the End“ einen vertröstenden Kontrapunkt zu Cohen setzt, lädt Kurator Max Dax in dem 140 Seiten starken Werk zur Vertiefung in künstlerische Standpunkte zum Sterben ein. Da Dax nicht zuletzt von 2007 bis 2010 Chefredakteur der Spex war, mag überraschen, dass die Wahl der hier zu hörenden Musik nicht eklektischer ausfiel, nicht aus Nischen gekratzt wurde, sondern zum etablierten, populären Kanon der letzten Jahrzehnte zählt. Es ging offenbar nicht um eine Feuilleton-taugliche Gegenposition zu den gängigen Top-10-Listen der am häufigsten auf Beerdigungen gespielten Lieder (dort tummeln sich „My Way“, „My Heart Will Go On“ oder auch „Luftballon“ von Helene Fischer). Es geht explizit um Songs über den nahenden Tod und die haben offenbar weniger etwas mit einer Lebensbilanz, mit Erinnerungen und Hoffnungen von Hinterbliebenen zu tun. Das hier handelt von dem Ausblick auf das Unausweichliche, das Starrens ins Nichts, um Rebellion gegen und den Friedensschluss mit der eigenen Endlichkeit. Dass die ­Gravität von Alben wie „Memento Mori“ von Depeche Mode oder Scott Walkers „Bish Bosch“ dabei den Messen und Requien der großen klassischen Komponisten Palestrina, Bach, Mozart, Beethoven und Berlioz durchaus ebenbürtig ist, macht diese Ausstellung geradezu körperlich spürbar. Verschärft wird dieser Effekt, wenn der Katalog Essays und Interviews zur Musik mit Perspektiven aus der bildenden Kunst verknüpft. In bisweilen seitenfüllenden Fotos sind hier Arbeiten von Julien Lescoeur, Thomas Scheibitz, Bettina Scholz, Nora Fehr und Anton Corbijn zu sehen. Ihr Setting mutet merkwürdig vertraut an. Auf einem Bild ragt auch besagte Leuchte in Molekülmodellform von der Decke herab. Also geht’s wieder hinaus, in die schummrige Vorhalle, die sich nun als gleichberechtigter zweiter Teil der Ausstellung entpuppt. Hier hängen Lescoeurs Fotografien von geometrischen Körpern in Schwarz und verschiedenen Grautönen auf Aluminium-Dibond. Scheibitz hat den Polyeder aus Albrecht Dürers Kupferstich „Die Melancholie“ in eine blassgelbe Skulptur verwandelt und „Schlaflied für Scott Walker“ genannt. Dieses 3D-Lied scheint auf seinem Sockel zu schweben und wirkt tatsächlich, mit Walkers mitunter himmelschreienden Sounds im Ohr, wie ein Tranquilizer, der zugleich den Sinn schärft, den Klängen einen Fokus gibt. Direkt dahinter platziert geht die eher zierliche, auf Dylans „Death Is Not the End“ referierende, geschwungene Stahlskulptur auf einem kleinen Findling von Bettina Scholz etwas unter – der kurze Blick in den Katalog verrät dahinterstehende komplexe Gedanken. Angesichts der sich verdichtenden Eindrücke in der engen Vorhalle lässt sich eine Beschäftigung mit ihnen leichten Herzens auf später verschieben. Unmittelbar beeindrucken Nora Fehrs Fleißarbeiten – die 1948 geborene Künstlerin aus Zürich hat Songtexte in Industriefilzbögen hineingenäht, Zitate von Leonard Cohen, vor allem aber die Texte von David Bowies „Lazarus“ und Joni Mitchells „Shine“, die nun wie höchst aufwendige Leichentücher wirken. Am Ende wird es so doch ein wenig morbide. Der Blick geht hinauf zu den Fenstersimsen unterhalb der Hallendecke. Dort sind Totenschädel aufgereiht, als wollten sie einen daran erinnern, dass es für viele, die sich an diesem Ort einfinden, bereits zu spät ist, um sich mit dem nahenden Tod zu beschäftigen. Die Schwarz-Weiß-Fotos von Anton Corbijn, einige vertraute von Depeche Mode im „Das Siebte Siegel“-Look und Joy Division, aber vor allem die Reliefs und Skulpturen seiner Serie „Cemeteries“ von 1982 geleiten einen sanft hinaus aus der hoch konzentrierten Ausstellung in die Weite des Friedhofs Sihlfeld.
Auf dem Weg zum Ausgang fällt der Blick noch auf das Grabmal für Henry Dunant. Der Schweizer Geschäftsmann hatte 1859 die Folgen der Schlacht von Solferino mit eigenen Augen gesehen. Sein drei Jahre später veröffentlichter Bericht inspirierte maßgeblich die 1864 beschlossenen Genfer Konventionen. Unter einem Relief Dunants befindet sich die Skulptur eines muskulösen Mannes, der einen anderen, verwundeten versorgt. Zürich ist eben nicht nur eine Stadt großer Toter. Hier wird der Dunkelheit bisweilen noch einmal ein Schnippchen geschlagen.

You Want It Darker – Songs über den nahenden Tod
kuratiert von Max Dax
Anton Corbijn, Nora Fehr, Julien Lescoeur, Thomas Scheibitz und Bettina Scholz, Friedhof Forum, Zürich, 1.8.2023–11.7.2024
Zur Ausstellung erschien ein umfangreicher Katalog mit Texten von Jean Martin Büttner, Max Dax, Katarina Holländer, Veronique Homann und Paul Morley. ISBN 9783952414255
Foto: Nadine Dinter, Cimetière de Passy, Paris, 2024