Gedanken zum Tod

2025:Juni // Zoe Eberl, Chu Chun Hsu, Lim Kim, Suyeon Prana Kim

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06-2025



ich                  ich
bin                 sind
teilchen          teilchen


was wenn          der tod
einfach nur

ein ladungs- oder ent- ladungsvorgang ist


sich die ladungen ändern oder
alles entladen wird

alle Teilchen in mir          alles
                                      ich
die vorher so
ge- oder entladen
oder neutral          sind
dass sie mich ergeben.

sie mich tragen?

sie meine trägerinnen sind.

         / Zoe Eberl: Trägerinnen




Deine Imagination ist der Geist – oder: Das vergessene Ding nach dem Tod

/ Chu Chun Hsu

Ist das ein Geist? Deine Imagination ist der Geist, für mich ist es der Geist. Ich mag Geister. Es ist interessant: Wenn man sich Comics oder ähnliches anschaut, sieht man, dass Geister immer ein bisschen „Material“ haben müssen. Sie sind nicht gefährlich. Sie haben einen Körper, der, wie man sieht, auch wirklich ein Körper ist, oft ist er transparent.
Geister sind sehr einfach. Sie haben kein Geld, sie haben keine Knochen, sie haben nichts. Sie mögen Menschen. Sie wollen sich mit Menschen verbinden. Sie können nicht wirklich weggehen. Aber Geist zu sein ist auch kompliziert. Sie müssen verschiedene Formen annehmen. Geister können sich in viele Dinge einschleichen. Sie brauchen nur etwas, das sie besetzen können. Das läuft wie in einem Spiel, nicht wahr? Es ist keine gute Option, nach dem Tod ins Paradies zu gehen.

In Japan gibt es viele Geisterdinge. In Japan nennt man sie „bakeru“ (ばける, sich verwandeln), weil sie unterschiedliche Formen annehmen. Ein Geist ist eine Seele ohne Zuhause. Geist sein bedeutet, dass die Seele das ursprüngliche Material verlässt und sich ein anderes Zuhause sucht. Wenn man zum Beispiel einen Regenschirm vergisst, wird der Geist ihn finden und für eine Weile in dem Schirm bleiben. Das vergessene Ding wird zum Geist … Es gibt einen Tempel in Japan, von dem ich Folgendes gehört habe: Jedes Jahr sammeln Menschen Stofftiere, große und kleine, von Kindern, von sich selbst oder auch gefundene, die sie nicht wegwerfen dürfen. Und was machen sie damit? Damit machen sie ein großes Feuer. Jeder bringt seine Sachen mit und sie verbrennen all diese Dinge zusammen, weil es ein Problem mit den Geistern gibt. Sie müssen sich um das Problem mit den Geistern kümmern. Sonst verschwinden die Geister nicht und suchen sich immer neue Orte.




 < Blut zu tun >

Ich zu ihr : Lass uns auf unser Blut konzentrieren.
Ab gestern – vielleicht für ein Jahr, anderthalb.

Konzentrieren aufs Blut.
         Sie macht ihr Blut : Nadel und Faden.
         Ich mache mein Blut : Sprechen und Schreiben.
Wir haben Blut zu tun.

——

< Souverän >

Wann war ich souverän im Leben?

         – Ich beschloss, nicht zu schreiben. (Februar 2023)
         – Ich beschloss, nicht zu sehen. (März 2023)
         – Ich beschloss, nicht zu denken. (April 2023)

Seltsamerweise – genau seitdem wurde ich
souverän im Schreiben,
         im Sehen,
         im Denken.

Was braucht es also,
um wirklich souverän zu sein im Leben?

         / Lim Kim (Mai 2025)



Beerdigung eines Berges, Beerdigung des Staubs

/ Suyeon Prana Kim

Im letzten Jahr August war ich drei Wochen lang in einem Marmorsteinbruch in Salzburg. Was mich besonders berührte, waren die aufgeschnittenen Flächen des Marmorbergs. Der Marmor, den die Menschen aus dem Berg schneiden, wird durch die Bearbeitung zu Kunstwerken, Baumaterialien oder feinem Staub. Der Besitzer der Marmorsteinbrüche sagte, dass man tatsächlich nur eine sehr begrenzte Oberfläche des Marmorbergs nutzen könne, sodass der Berg dadurch nicht stark beschädigt werde. Doch ich konnte den Gedanken nicht loslassen: Was, wenn alle Menschen ein schönes Stück mitnehmen und der Berg dadurch irgendwann verschwindet? Seitdem begann ich, über die Beerdigung eines Berges nachzudenken. Wahrscheinlich war es auch wegen der toten Maus, die ich am dritten Tag im Steinbruch fand. Ich legte einen Kreis aus Steinen um sie, damit niemand aus Versehen auf sie trat. Das war eine kleine Beerdigung. Aber wie beerdigt man einen Berg?

Beerdigung eines Berges, Beerdigung einer Insel, Beerdigung der Erde, irgendwann auch die der Sterne, des Universums. Umgekehrt, wie sollte die Beerdigung eines kleinen Wesens durchgeführt werden? Wie die von Staub, Bakterien, Samen, Zellen oder Regenwürmern? Was ist wichtig bei einer Beerdigung? Im Rückblick: Im letzten Frühling und Sommer begegnete ich vielen kleinen toten Tieren auf der Straße. Im Mai sah ich fünf kleine Tote. Jedes Mal trug ich sie ins Gebüsch und bedeckte sie mit Blättern, weil ich mir wünschte, dass sie in die Erde zurückkehren, nicht auf dem Asphalt liegen bleiben, und dass ihr Tod keine erschreckende Erfahrung für andere wird. Nach der dritten Beerdigung notierte ich die Todestage im Kalender, um mich daran zu erinnern.

Im März bin ich nach Korea geflogen, weil meine Hündin Kong, mit der ich, seit ich 13 bin, zusammenlebe, so alt und krank geworden ist, dass sie kaum noch selbst fressen kann. Ich musste berechnen, wie lange wir noch zusammen sein können, um das Flugticket zu buchen. Ich bekam Schuldgefühle, weil ich, den Todeszeitpunkt abwägend, andere Termine absagte. In Korea habe ich einige Tierbestattungen besucht.

Parallel gab es immer wieder Nachrichten aus Korea, die von einer Bedrohung der Demokratie berichteten. Am 3.12.2024 rief der Präsident das Kriegsrecht aus. Das Kriegsrecht, das angeblich dem Schutz der Nation während eines Krieges oder vergleichbarer Notfälle dient, und doch wissen wir aus der Geschichte, wie unter diesem Vorwand Diktatoren Menschen ermordeten und unterdrückten. Alle haben gelernt, wie schrecklich das war – ich bin auch eine davon. Viele heutige Abgeordneten sind Überlebende solcher Massaker. In der Nacht der Verkündung des Kriegsrechts kletterten Abgeordnete über den Zaun, stellten sich den Soldaten entgegen und forderten im Parlament die Aufhebung des Gesetzes. Viele Menschen waren auf der sich sammelnden Demo. Etwa zur gleichen Zeit wurde von Flugzeugabstürzen, Waldbränden und den Verletzungen und dem Tod vieler Lebewesen berichtet, die ihre Lebensräume verloren. Doch die Rebellen wissen: Hoffnung ist stark. Diese Worte sprach der Parlamentspräsident Woo Won-shik, nachdem der Amtsenthebungsantrag gegen den Präsidenten angenommen worden war. Bei der Demo sangen die Leute zusammen Lieder der Hoffnung. Am 04.04.2025 wurde der Präsident abgesetzt. Und als ich in Korea ankam, hatte meine Hündin wieder mehr Energie zum Leben.

Vielleicht sterben manche nicht wirklich, auch wenn sie gestorben sind oder fast tot erscheinen. Meine Hündin hat wieder Appetit. Die Überlebenden vieler Massaker, ihre Kinder haben ihre Stimme erhoben. Auch in einem verkohlten, aschebedeckten Berg wird nach einem Feuer neues Leben erwachen. Die Anthropologin Anna Tsing schreibt in einem Buch, dass der Matsutake-Pilz der erste Organismus war, der nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima wieder gewachsen ist. Vielleicht stirbt ein Berg nie wirklich. Ein Berg ist eine Gesamtheit von Erde, Bäumen, Blättern, Eichhörnchen, Würmern, Bakterien ... Die Kraft, die all dies anzieht – das ist der Berg. Man vertraut darauf, dass verstorbene Wesen im Zyklus der Natur in anderen Existenzen weiterleben. Auch wenn der Körper vollständig zum Stillstand gekommen ist, wünschen sich die Menschen, dass die Seele in eine gute jenseitige Welt gelangt. Auch wenn etwas nicht vollständig aus der Welt verschwunden ist, bleibt die Beerdigung dennoch bedeutungsvoll, denn – so habe ich verstanden – Beerdigungen und Trauer-Rituale sind in Wahrheit auch für die Hinterbliebenen. Sie ermöglichen es, die Verstorbenen länger, tiefer und achtsamer im Gedächtnis zu behalten.

Meine Beziehungsperson schreibt mir einen Brief und ein Wunsch taucht immer wieder auf: „Ich wünsche mir, dass du nicht von dieser Welt verschwindest. Dass ich dich immer lieben möchte, auch im nächsten Leben.” Können wir ewig lieben? Auch wenn unsere Körper nicht ewig bestehen, bleibt der Wunsch, für immer miteinander verbunden zu sein. Ich glaube zum Beispiel, dass meine Hündin Kong, auch im Tod, nie vollständig verschwinden wird.

Mein Opa hat mir ein Erbe hinterlassen. Irgendwann habe ich gemerkt, dass ich oft summe, genauso wie meine Mama. Eine Szene kommt mir in den Sinn, wenn ich an meinen Opa denke, der immer summend durch das Wohnzimmer ging. Dieses Summen ist das Erbe meines Opas. Selbst wenn ich sterbe – ich hoffe, dass das Summen für immer durch die Welt wandern wird.


Foto: Nadine Dinter, Père Lachaise, Paris, 2024