Du bist ein berühmter Kulturmoderator. Lachen. Nein. Allerhöchstens bekannt. Aber du bist bundesweit unterwegs, moderierst auf Buchmessen und Lesungen, wirst also eingeladen. Ja, schon. Aber der Aufwand. Die Leute denken immer, dass man sonst wie viel verdient. Eigentlich verdienst du ja dein Geld mit Moderationen auf Automessen. Lachen. Und auf Zeit-Online-Foren. Schön wär’s. Ich freu mich immer, dich im Fernsehen zu sehen, und ich finde auch, dass du das sehr gut machst. Danke. Ich entwickele die Sendungen ja auch immer mit. Aber eigentlich bin ich Journalist. Die Kontakte mit Literaten, Schauspielern und Künstlern, das inspiriert mich. Ich wollte selbst ja mal auf eine Kunsthochschule. Deshalb die Nähe zu mir? Es sind jetzt über zwanzig Jahre, dass wir uns kennen, haben uns ja über die journalistische Arbeit kennengelernt. Wenn ich dich heute auf Sendung sehe, denke, ja wünsche ich mir manchmal, dass du dort, ganz unvermittelt, auch von deinen Ängsten, der Schlaflosigkeit und deinen immer wiederkehrenden Schmerzen sprichst. Sodass sich die Genre vermischen. Du meinst, das Format als Forum. Ach, dieser Offenbarungskult, wenn das jede Moderation machen würde, das wäre ein Kuddelmuddel. Vielleicht nicht uninteressant. Was wäre das Fernsehen dann? Eine Personality-Show? Der Schmerz als brand … Leidbrand. Lachen gemeinsam. Viele Öffentlichies schreiben ja auch Bücher über ihre Depressionen, Abhängigkeiten, Therapien. Eine Feier des Subjekts. Als Künstler versucht man ja, solche Tatsachen zusammenzubringen, auch um etwas Neues daraus zu machen. Neue Tatsachen zu schaffen, von denen man sich dann distanzieren kann. Etwas, das die Gegensätze und Widersprüche vereint. Das einen ganzen Menschen ergibt, ohne Genregrenzen. Und keinen Sprechautomaten. Ach, dieser Authentizitätsfimmel ist doch heute schon zum Zwang geworden, ist doch auch entspannend nicht immer man selbst sein zu müssen.
Mir hat es aber sehr gut getan, als du von deinen Selbstmordgedanken erzählt hast. Ich lebte bis zu meinem 60sten damit, täglich. Wenn nicht morgens oder abends, dann waren es die impulsiven Selbsttötungsphantasien, wenn mir ein Laster, oder Zug entgegenkam. Kenn ich, ich hatte auch schon meine Lieblingsbrücke. Mein Therapeut war entsetzt, als ich das auf dem Fragebogen ankreuzte. Meine Frau auch, als ich es ihr erzählte. Dabei empfand ich das Ganze mit der Zeit wie eine Technik, zugegeben eine schmerzhafte. Eine Technik des Selbst. Eine Möglichkeit Abstand von sich nehmen zu können. Man spricht dann ja auch oft von sich in dritter Person, sieht sich als Liegenden. Oder Hängenden. Lachen, beide. Wir stehen aber auch immer unter Druck. Müssen wir selbst sein und das ständig. Apropos Druck. Mein Weg geht ja vom Drucker, über den Künstler, zum Journalisten und jetzt zum Arbeiter – immer noch mit Ambitionen. Die Berliner späten Neunziger- und Anfang Nullerjahre liefen für mich ganz gut. Die Sender brauchten Beiträge. Es war einfach, Themen loszuwerden und damit über die Runden zu kommen. Hatte ich Geld, organisierte ich was im Kunstbetrieb. Ich sag ja immer, niedrige Mieten sind die beste Künstlerförderung.
Ich sehe mich ja nicht als Künstler. Hab ja in unserer Berliner Zeit Kulturwissenschaften bei Thomas Macho studiert und versucht, in den TV-Beitragsbereich reinzukommen. Klinkenputzen bei Sendern. Dabei haben wir uns kennengelernt. Apropos Macho, als der „Das Leben nehmen – Suizid in der Moderne“ herausbrachte, hab ich das Buch aus Angst lange nicht geöffnet. Und dann war es eine Befreiung es zu lesen, wie er darüber spricht. Mich hat natürlich interessiert, wie er die Selbststilisierung als Künstler einbezieht. Im Buch steht ja, dass, einer amerikanischen Untersuchung zwischen 1985 bis 1992 zufolge, überproportional viele Kreative sich das Leben genommen haben. Seine Vermutung ist, dass das Ende einer schöpferischen Arbeit etwas Göttliches hat und als Erfüllung erlebt wird. Im Sinne Gottes, der, am Tag nach der Schöpfung sein Kunstwerk mit einem „und er sah, dass es gut war“ abschließt. Etwas, das wir Künstler nach jedem Werkabschluss sagen – so, jetzt ist es aber gut, jetzt ist Schluss. Auch wenn wir ewig unzufrieden sind und nach dem endgültig erlösenden Bild suchen, müssen wir jedes Mal ein Ende finden. Und denken doch immer auch über das eigene Ende hinaus. Selbst zeitlebens unbeachtete Künstler, die im Verborgenen puzzeln, setzen darauf, dass ihr (Lebens-)Werk sie letztendlich überlebt. Irgendwo in der Gesellschaft, als Buch, Bild, Katalog, in Museen, im Netz oder privat. So steckt in jeder Arbeit ein kleiner Tod. Hört sich logisch an.
Ich mag noch eine andere, etwas allgemeinere Stelle bei Macho, die etwas von unserem modernen Leben erzählt, da heißt es: Heute setzen sich Menschen zunehmend in ein Verhältnis zu sich selbst, sie sehen ihr Leben als gestaltbares Projekt, für das sie Verantwortung tragen. Wenn ich und mein Leben mir gehören, muss das folgerichtig auch für meinen Tod gelten. Sagt Machos Titel „Das Leben nehmen“ das nicht schon? In der Moderne ist jeder selbst verantwortlich für das Design seines Lebens, seiner Biografie. Corona hat wohl auch deshalb zu so viel Widerstand geführt, weil da, wie lange schon nicht mehr, unsere Körper vergesellschaftet wurden. In der Zeit starb meine Mutter, 90-jährig. In ihren letzten Tagen sagte sie: Eigentlich bin ich ganz gut durchgekommen. Der Leitspruch ihrer Mutter, geboren 1904, war noch: Hauptsache, du hast Arbeit. Wir nun bekamen den Auftrag, etwas aus unserem Leben zu machen. Mit dem Versprechen, wenn du nur wirklich willst, bekommst du es auch, doch scheiterst du, bist du selbst schuld und das heißt, dass du es eben nicht wirklich richtig, wirklich-wirklich gewollt hast. Sind deine Eltern Flüchtlingskinder? Ja. Ein Teil. Flüchtlinge. Meine auch.
Thomas Macho, Das Leben nehmen: Suizid in der Moderne,
532 Seiten, Suhrkamp Verlag, Berlin 2017
Foto: Nadine Dinter, Alter St. Matthäus Kirchhof, Berlin, 2023