wo ich war

2023:November // Esther Ernst

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11-2023


GOLDIN NAN 26. Mai 2023
All the Beauty and the Bloodshed
Neues Off, Kino Berlin

Laura Poitras ist eine fantastische Dokumentation über Nan Goldins Biografie, ihre Denk- und Fühlweise und ihre Protestaktionen gegen die Mäzenenfamile Sackler gelungen. Mit ruhiger, tiefer Stimme erzählt Goldin anhand ihrer eigenen Fotos aus ihrem Leben, von ihrer traurigen Familie, dem Tod ihrer Schwester, dem Erwachsenwerden und Haltfinden bei Freunden, der Fotografie als Ausdrucksmittel, dem exzessiven Leben und Geldverdienen als Tänzerin und Prostituierte, dem Finden einer Galerie, von Partys, Drogen, Sex, Bars, Beziehungen und dann eben auch von der Einnahme des Schmerzmittels Oxycodon der Sackler Familie, das unfassbar abhängig macht und unendlich mehr Leid und Schmerzen produziert. Die Verbindung von Vergangenheit zu Gegenwart schafft Poitras mit der Begleitung der Protestaktionen im Guggenheim, Metropolitan Museum, Louvre und der ganzen Auseinandersetzung der PAIN-Gruppe mit Sackler.



MY-CO PLACE 28. Mai 2023
BHROX Bauhaus reuse
Ernst-Reuter-Platz

Ich verstehe nicht ganz, wer mit wem kooperiert, erfahre aber lauter neue Dinge. Es gibt die STADT MANUFAKTUR BERLIN der TU Berlin, die verschiedene Reallabore nach Themengebieten in der Stadt unterhält. Und es gibt das BHROX Bauhaus reuse (Gebäudename?) im MY-CO PLACE, ein elegantes Stadtlabor von Frau Prof. Vera Meyer, die Formen der transdisziplinären Forschung für Architektur des nachhaltigen Wachstums (zum Beispiel Pilze als Baumaterial) erprobt. Mit dabei ist auch die Mitkunstzentrale, die ebenso Pilze als Baustoff untersucht. Das ganze findet inmitten der grosszügigen, verwaisten und relativ unzugänglichen Kreiselfläche des Ernst-Reuter-Platzes statt. Es ist erstaunlich ruhig hier. Die Wasserspiele von Werner Düttmann sind lauter als der 4-spurige Verkehr?! Ich mag die umliegende TU-Architektur aus den späten 60gern und auch Bernhard Heiligers Flamme.



CHOCOLATE REMEX 1. Juli 2023
Hau2, Berlin

Es ist einfach sehr beglückend, die queer-feministische Musikerin Romina Bernardo samt LGBTIQ-Publikum zu erleben.
Zum Schluss ziehen alle blank, schütteln die Brüste und gehen gestärkt und verbunden aus dem Hau.
So wird’s was.



URBAN NATION 4. Juli 2023
Talking… & Other Banana Skins
Berlin

Also, dass die Ausstellung in acht Kapiteln die Kommunikation der heutigen Gesellschaft untersucht, find ich bissel hoch gegriffen. Aber ich mochte das Video Fugue Tramponine von Yoann Bourgeois sehr, in dem der Tänzer und Choreograph auf einem Dach mit Blick über eine Stadt zeitlupenmässig und akrobatisch virtuos von einer Treppe aufs Trampolin stolpert. Und war beschäftigt mit Ida Lawrence ungespannter Leinwand A Village And Surrounds VI (Mirrors And Mould), auf der sie Räume aus der Erinnerung kartografiert, und Ortserfahrung mit Erzählung kombiniert und dies ganz anders macht als ich.

Und dann sind da überall Schulklassen, die diese Art von Museum super finden sollen, weil Graffiti und so.



O QUILOMBISMO 5. Juli 2023
Haus der Kulturen der Welt

Von Widerstand und Beharren. Von Flucht als Angriff.
Von alternativen demokratisch-egalitären politischen Philosophien.
Bei der Eröffnung war ich geflasht und überfordert von so vielen Menschen und auch von der Atmosphäre. - Wir sind recht schnell nach Haus jassen gegangen.
In der Hauszeitung lese ich: Im HKW erkennen wir die Vielfältigkeit der Menschen an und feiern sie, indem wir die Vielzahl der Akzente einbeziehen. Ich finde, die tendenziell kleinteiligen Beiträge schauen einander recht ähnlich?! O Quilombismo verkörpert einen anti-imperialistischen Kampf, der sich an verschiedenen Strömungen der panafrikanischen Bewegung orientiert und für eine radikale Solidarität mit allen Menschen einsteht, die weltweit gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Armut sowie gegen rassistisch, sexistisch, religiös oder ideologisch motivierte Ungleichheit kämpfen.
Jetzt weht neuer Wind. Und ich spür ihn.



BEYOND HOME 9. Juli 2023
Eine feministische Dekonstruktion eines Begriffs
Kunstraum Kreuzberg / Bethanien

Özlem Sariyildiz erzählte mir bereits in Istanbul von dem anspruchsvollen Ausstellungsprojekt und der Zusammenarbeit mit circa 30 Künstlerinnen. Ich mag ihr Splitscreen-Video Die Geschichte handelt von Dir, in dem Menschen die nach Berlin emigrierten und von der Erfahrung des Homings (Zuhausewerdens) erzählen, gern. Die Ausstellung möchte den Migrations- und Integrationsdiskurs dezidiert um einen feministischen Ansatz erweitern, indem sie ein radikales Umdenken von Zuhause und vordefinierten Grenzen fordert.
Die Videoarbeit I am Sara von Sara Nabil „nervt“ weit über die Videokabine hinaus, so dass es schwierig ist, sich auf umgebende Arbeiten zu konzentrieren. Jörg versteht erst das repetierende Wort „Asshole“, dann „I’m sorry“ und liest erst danach den Titel und wir freuen uns beide sehr über diese Arbeit.



NELKE LARA 13. Juli 2023
BETON Berlin 12
Neuköllnische Allee 18 - 28, Berlin

Da ist eine Sandfläche zwischen dem Leiser-Gebäude an der Grenzallee und einem DHL-Umschlagplatz. Untendrunter ist die Autobahn, obendrüber der S-Bahn-Ring. Wir stehen auf einem provisorischen Weg inmitten dieser Baustelle. Bevor die Autobahn in den Boden gelegt wurde, war hier eine Gartenkolonie, was folgt ist unklar, irgendein Center wird’s schon werden.
Lara Nelke trägt einen weissen Anzug und ist mit sehr vielen fancy Gartengeräten ausgestattet. Sie harkt ein rechteckig definiertes Feld auf dem Sandplatz, hat ein paar Büschel wilden Lavendel gepflanzt und auch zwei Verbundsteine darauf platziert. Und dann sehe ich, ah, dass ist ein Zen-Garten. Später streunert ein Fuchs vorbei. Christof Zwiener hat Bier mitgebracht, Passanten verweilen ebenso, trinken mit und es ist ein dufte Berlin-Abend.



BRUMMACK HEINRICH 15. Juli 2023
Nicht-Geburtstags-Brunnen
Theodor-Wolff-Park, Berlin
Bei einem Abendspaziergang wundern wir uns über den neu sanierten Mehringplatz (oh, Edeka ist verschwunden, wo kaufen die Menschen denn nun ein?) und durchqueren den angrenzenden Theodor Wolff Park (IBA-Projekt, 1981). Wie sind eigentlich diese nachgestellten Säulengänge aus Beton, Keramik und Eisenträgern zu verstehen? Sie erinnern mich lustig an die überirdischen Wasserumleitungsinstallationen, die das Stadtbild jahrelang und meterweise prägten. Und wer hat sie gemacht? Neben dem neu errichteten Bolzplatz schmunzeln wir über eine Kanne und Tasse aus verschiedenen Natur- und Kunststeinen sowie gegossenen Materialien. Dich erinnert es an Claes Oldenburg. Eine Anwohnerin erzählt, dass normalerweise ein Wasserstrahl von der Kanne in die Tasse springt. Und bei Wikipedia lese ich, dass Brummack den Schmuckbrunnen 1991 errichtet hat. Ah, der hat auch das Wolkentor am Flughafen Tegel und eine Skulptur vor dem Museum in Soest gemacht.



ÖĞRENCI PINAR 19. Juli 2023
Aṣît/The Avalanche
Berlinische Galerie

Müküs ist ein Bergdorf im Südosten der Türkei, der Heimatort von Öğrencis Vater. Bis 1915 wurde dort Armenisch, Kurdisch, Farsi und Arabisch gesprochen. Das kulturell vielfältige Erbe findet sich noch im Alltagsleben, zum Beispiel bei den verschiedenen Schafarten, oder den angelegten Nussbäumen. Nach dem Völkermord an den Armenier*innen und diversen Vertreibungen leben nun hauptsächlich Türk*innen und Kurd*innen in Müküs. Aṣît heisst Lawine, der Ort hat erst vor kurzem eine asphaltierte Strasse erhalten und war vorher ob der gewaltigen Schneemassen 6 Monate von der Welt abgeschnitten. Die Männer spielen Schach im Kaffee. Und hier zieht Öğrenci eine Parallele zu Stefan Zweigs im Exil verfassten Roman Schachnovelle, in der das Denkspiel zu einer Überlebensstrategie im Angesicht des Faschismus wird. Ist fein erzählt, nüchtern und mit ruhigen Bildern. Irgendwie schaut’s traurig aus dort.



BISMARCK JULIUS VON 19. Juli 2023
When Platitudes Become Form
Berlinische Galerie

Warum darf man Bismarck nicht gut finden (oder kommt es mir nur so vor…)? Ich finde seine Ausstellung angenehm beeindruckend, sinnlich, präzise, humorvoll, ein Erlebnis und auch geistreich.



GENZKEN ISA 28. Juli 2023
75/75
Neue Nationalgalerie

Isa Genzken stellt zu Ehren ihres 75. Geburtstag 75 Skulpturen ins Erdgeschoss des Mies van der Rohe Tempels. (Ihre Riesenshow im Gropiusbau scheint mir gar noch nicht so lange her.) Ich stelle mir vor, dass sie mit Biesenbach eine Partie Schach gespielt und dabei ihre Skulpturen solange auf den quadratisch eingeteilten Bodenfeldern hin und her geschoben hat, bis die Kunst picco bello und angenehm geordnet im Raum stand. Sogar die Rose im Aussenraum ist eingerastert. Und lassen sich etwa absichtlich Bezüge zur vorherigen Ausstellung von Bonvicini ziehen? Gucken macht extrem Laune. Und Genzkens Virtuosität ist betörend (bis auf die Schaufensterpuppensache und Noffibüste, da steig ich komplett aus. Dann beobachte ich, wie Biesenbach konzentriert in die Ausstellung schaut und einen Vater mit seinen zwei am Boden zeichnenden Kindern bittet, dies ausserhalb der Ausstellung zu tun und dachte, echt jetzt?



AM SEEGARTEN 5. August 2023
Kirchmöser, Brandenburg an der Havel

Also, in Kirchmöser sorgte einst eine Pulverfabrik, dann die Eisenbahnproduktion für massenweise Arbeit, deshalb baute unter anderem B. Taut zu Beginn des 20. Jh. mehrere Arbeiter*innensiedlungen auf der idyllisch gelegenen Halbinsel.
Nun hat das Silent Green mit der Galerie Ebensperger die Gebäude der Stadt Brandenburg abgekauft und mit acht Berliner Galerien ein gemeinsames Ausstellungsprojekt im ehemaligen Spital und dem Theater - zwei imposante Klinkerbauten, die seit Jahren vor sich hin abblättern - eingerichtet. Es gibt kein kuratorisches Konzept oder Thema, aber es gibt Künstler*innen, die sich mit dem Raum, manche auch mit der Geschichte auseinandersetzten. Ich mochte Franz West, Friederike Feldmann, Kasia Fudaakowski, John Bock, Harry Hachmeister und Sinta Werner und ich fand Karin Sander erstaunlicherweise echt doof.

Alle Fotos: Esther Ernst