The Transfer of my Kozmic Blues

Die ‚beatologische‘ Nacherzählung eines Raumöffnungskonzepts in Westberlin; unter einem Aufflackern der steirischen herbst- Nomadologie der Neunzigerjahre

2024:Mai // D. Holland-Moritz

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05-2024

Ewig hatte ich versucht, die Landkarte meiner Träume mit der Welt in Einklang zu bringen, aber dies hier … ist negativer Raum, Baby, die Welt ohne dich …

RAUMSCHIFF ORION
Spätestens seit der Oberkommandierenden der Schnellen Kampfverbände General LYDIA VAN DYKE (Charlotte Kerr-Dürrenmatt) auf dem Raumkreuzer Hydra bin ich davon überzeugt, dass für die Sublimation meines Kosmischen Blues Raumpatrouillen, wie in der gleichnamigen dt-frz. Fernsehserie von 1966, strategisch notwendig sind:
Aber es gab ja auch die Romanheftserien Perry Rhodan und Ren Dhark in den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts … freilich nur bereitgestellt, um der kleinbürgerlichen Enge der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit die triviale Note des kosmopolitischen, wiewohl technischen ‚Fortschritts‘ hinzuzufügen: Heimkino gewissermaßen, das lediglich zur Sättigung der Keysituation provinzieller Eingegrenztheit beizutragen in der Lage war – nicht gerade die nur wenig später in Rock’n’Roll-Zusammenhängen von PATTI SMITH u.a. wiederentdeckte sea of possibility

ARE YOU EXPERIENCED?
Es waren einige gelinde psychedelische Inputs, dazu illuminierende Lektüren wie die von JACK KEROUACS On the Road-Romanen, von denen man sich erzählt, wären sie auf Klopapier geschrieben, schlängen sie sich um den Mond und wieder zurück, sowie die schillernde Soft Machine, dt. 1971, und die anderen raumöffnenden Break thru in Grey Room-Texte von WILLIAM S. BURROUGHS, die unsere juvenilen Hirnsphären expandierten:
Bewusstseinserweiterung stand auf dem Programm, während JAMES GRAHAM BALLARDS Die tausend Träume von Stellavista und sein Konzept für eine neue Science Fiction ihr Übriges taten, den Schlüssel rumzudrehen und durchzustarten aufs Feld der Topoi und trivialer (Zeitgeist-)Mythen;
BALLARD: I think that landscape is a formalisation of space and time, and the external landscapes directly reflect interior states of mind. In fact, the only external landscapes which have any meaning are those which are reflected, in the central nervous system, if you like, by their direct analogues. Dali said somewhere that mind is a state of landscape, and I think this is completely true.

Ich habe den Ballardschen Satz, dass der physische Aspekt des Körpers von Marilyn Monroe gleichzusetzen sei mit, sagen wir, einer Dünenlandschaft um sie herum, immer sehr ernst genommen; einschließlich der Erkenntnis dieses unterschwelligen Drangs des modernen Menschen, die Ereignisse seiner Psyche der äußeren Welt aufdrängen zu wollen; und wie sehr das Außen das Innen bestimmt, liegt ja auf der Hand.

DIE MITROPA-IRRITATION
1984 erschien in der Anthologie Das Abschnappuniversum – Achtzehn neue deutsche Erzähler, hrsg. von OSKAR V. REUTH, ein Pseudonym für den inzwischen zu einiger Bekanntheit gelangten Filmregisseur Oskar Röhler, mein Prosatext Mitropa Irritation; ein Großteil des Lektorats dieses Buches war von mir besorgt worden, und der Titel meiner Fragmentstory von all diesen schaudernmachenden Transitfahrten durch die DDR angeregt: Der rote Speisewagen der Mitteleuropäischen Schlaf- und Speisewagen-Aktiengesellschaft mit seinem Radeberger- & Stolichnaya-Angebot half uns, die wir ja Klassenfeinde waren, das ein oder andere harsche Wort der DDR-Grenzpolizisten, ja, das Durchfahren des Feindeslandes, selbst zu kompensieren – es war bei aller studentischen Armut ein ziemlich dekadentes Leben, das wir angesichts des Abgrunds des Kalten Kriegs in Westberlin führten, es war Endzeitstimmung, fin de siècle, 1984:
„Bah!“, machte Sevenne Speed, schlug den Kragen seines Ledermantels hoch, trat hinaus auf die Straße und eilte durch die schmutzige Nässe zum nahen U-Bahnhof.
Wer ist Eigentümer dieser Seele?
Die Droge? Die Polizei? Der Tod?
Eines Tages würde er sich eine Pistole kaufen müssen. Wenn es keinen anderen Ausweg mehr gäbe, würde er seine Seele freischießen müssen.

Rücksichtslos poetisierte Fragmente aus kaltem, schmuddeligem Alltag in einer ummauerten Stadt, atmosphärisch verdichtet & leidlich fiktionalisiert zu so etwas wie einer Agentengeschichte, ausweglos in ihrer trudelnden Abwärtsbewegung wie die Rüstungsspirale des Kalten Kriegs selbst:
Durch die dunklen Straßen suchte er sich seinen Weg, die neuen Sektorengrenzen durch verborgene Kellergänge unterschreitend.
„Genug Material, das Feindbild zu dynamisieren“, überlegte er. „All diese Listen und Dossiers ...“
Die Zeit wurde knapp. Was würde mit den nächsten Folgen dieser Serie geschehen?
Er würde noch schneller gehen. Er begann zu laufen.

LANDSCHAFTEN EROBERN
Während die Mitropa Irritation die Frontstadt Westberlin gleichermaßen als Vorposten und Reservat erkundete, versuchten die auf dem Hintergrund des von WOLFGANG MÜLLER geförderten Genialen Dill(!)etantismus und im Duo mit der Allround-Künstlerin CHRIS DREIER ausgerichtete Textperformance Der Pilot – Landschaften erobern in der Kreuzberger Boutique „Gift“ sowie die anschließende Agenten im Raum-Show im Künstlerhaus Bethanien bereits, sie wieder hinter sich zu lassen … auf der Suche nach mehr Sinn und mehr Welt; auch die Multimedia-Leseshows Die Stadt, die Wüste und das Nichts, aufgeführt im Amsterdamer Shaffy-Theater und im damals neuen ­Gasteig, München, sowie Das Sternstädtchen im Frontkino zu Kreuzberg und als Remake fürs katalanische Fernsehen waren seinerzeit, multimedial als ‚audiovisuelle Textpräsentationen‘ ausgegeben, genregrenzenüberschreitend; der topologisch ausdifferenzierte Komplex der Wirklichkeit, der sich für uns damals z.B. in einem Exposé fürs Bethanien konstituierte aus den persönlichen Räumen (Wohnung, Arbeit, Liebe, der des Gefühls ...), den öffentlichen Ereignissen (terroristische Anschläge, Katastrophen, Korruptionen, Machtspiele, Cyberattacken …), den inneren Terrains (Träume, Surrealismen, Parapsychologie ...) sowie den geographischen und geopolitischen Zonen (damals vor allem Nahost, Fernost, Wilder Westen, Weltraum und Multiversum) – Felder, Quadranten, Gebiete, auf denen zu Agenten im Dienst um sich selbst und das Para der Geopolitik typologisierte Figuren in einer nie zuende erzählten Erzählung ständig nur in die Bredouille gerieten, sich verirrten, festhingen, abhingen, den restriktiven Bedingungen ihrer Umgebungen ausgeliefert: Das Prinzip Hoffnung regierte!

Ein Ort ist eine momentane Konstellation von festen Punkten. Er enthält einen Hinweis auf eine mögliche Stabilität. Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und die Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen [und statischen, Anm. d. Verfassers] Elementen … Er ist ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.1

[…] Und was sie [die Nomaden] zu sagen haben, entgrenzt den Ort ihres Denkens, denn das Denken in Verbindung mit den äußeren Kräften zu setzen, heißt, daß der Text von einer Bewegung durchkreuzt wird, die von außen kommt. Und wir wollten ausprobieren, mit welcher aktuellen äußeren Kraft das Gesagte etwas passieren läßt – Erlebniszustände, vielleicht eine Strömung, die uns fortreißt, wo die Intensitäten derart aufeinandertreffen oder sich verbinden, daß sie den Codes entgehen. Vielleicht sind einige Künstler und Denker heute das, was früher Nomaden waren.
Die Nomaden teilen auf und weiden. Sie sind der Nomos gegen die Polis, den Staat. Zumindest wird ein Raum durchmessen, ermessen, vermessen.2

AUT FUTURA AUT NIHIL
Aber dass 1989 der Eiserne Vorhang fiel, kam dann doch, schätz’ ich mal, FÜR ALLE überraschend: Nanu, plötzlich … Platz haben?!? Platz machen hieß noch 1991 das von ­ANDREAS BRANDOLINI hrsg. Merve-Bändchen über das im Vorjahr zum steirischen herbst in Graz von ihm kuratierten Fischplatz-Projekt. Nahm ich also Platz auf der mit Silberfolie ausgeschlagenen Ladefläche eines LKW, der vor der geschwungenen 60er-Jahre-Tankstelle auf dem ­Andreas-Hofer-Platz in Graz geparkt war, tauchte ein in das Klangszenario von Tonmeister BERNHARD STEUDEL und legte mit meiner Textperformance Aut Futura Aut Nihil – Ein Reisebericht aus den Randgebieten der Fiktion das den herbst beherrschende Konzept der Nomadologie … nun ja, perspektivisch aus:

Es ist so verflucht einsam hier draußen, und ich habe keine Ahnung von der Gegend hier. Haben Sie zufällig eine Sternenkarte zur Hand? Wir sind mehr als 2.000 Lichtjahre von zuhause entfernt, und Rigel war der letzte Stern, den ich mit Namen kannte. […]

Ist es Zufall, dass die deutlichsten Radioquellen unserer Galaxis Supernova-Überreste und diffuse Emissionsnebel sind? Kosmische Erscheinungen, die am Rande ihrer räumlichen Existenz stehen?
Übrigens ist man ja stets bemüht ums Belvedere & darum, für sich und die anderen die zukünftig beste Aussicht auf KURT VONNEGUTs Tralfamadore zu erringen; und wie und wo es auch zu beschaffen sein mag: Immer schon will man dieses … obskure nächste Zuhause – denn schließlich ist ja auch der Beat-Kosmos der 1950er nur eine dieser konsumkritischen, eskapistischen Alt-Avantgarden, oder? Mit meinem Auftritt im steirischen herbst 1990 wurde ich, der unter die Philosophen gefallene Underground-Poet, Teil des speziellen Grazer Nomadologie-Konzepts jener Jahre.

Insbesondere SYLVÈRE LOTRINGERs Nomadische Notizen erklärten mir in Platz machen und in hermeneutischer Weitsicht, die postmoderne Theorie sei zu einer axiomatischen ‚Königswissenschaft‘ geworden und habe sich im Gegensatz zur nomadischen Wissenschaft auf Nietzsches Irrweg der Abkürzungen begeben. Zwar hätten die postmodernen Theorien neues Licht auf die Logik der Hyperrealität geworfen und das Verschwinden des Raums, das Kollabieren des Raums in die Zeit, die Implosion der verschiedenen Oppositionen, die unsere Gesellschaft oder die Geschichte zu konstituieren pflegen, gekennzeichnet, aber allein die nomadische Wissenschaft und die Kriegsmaschine der Nomaden, die sich allem widersetzt, was dauerhaft, ewig, identisch und beständig ist, seien in der Lage, Baudrillards und Virilios nihilistischen Pessimismus oder eine Art Warten auf Erleuchtung, wie unsere Kultur doch noch vor ihrem unvermeidlichen Marsch in die eigene Zerstörung bewahrt werden könne, abzulösen.
Nomaden ersännen stets neue Strategien und neue Lebens- und Fluchtlinien, erfänden einen Marxismus ohne Arbeit und ohne Institution, eine Kriegsmaschine ohne Gewalttätigkeit, ließen Gegensätze oder unterschiedliche Behauptungen in allen ihren Aspekten frei wuchern und gingen eigene Verknüpfungen ein in etwas, das zuletzt eine Sphäre der Immanenz sei ...3

THE WINDS OF CHANGE
Zeit ist ja eine Funktion des Raumes; und in gewisser Weise war auch Aut Futura Aut Nihil das Ergebnis einer Phase nächtlicher Streifzüge durchs auslaufende Westberlin, auf denen gut der Zeitgeist zu reflektieren war, der ja zuletzt den Sektor Endzeit verlassen hatte, um recht unkontrolliert loszustürzen auf die hedonistischen Cyber-Nasdaq-Upstart-Felder der 90er: “Fuck, we might miss a party …”
Aber auch die knapp vorangegangene und aus ca. 140 Songtiteln der Popgeschichte collagierte Textperformance The Winds of Change, 1990 aufgeführt zur Rückkehr der Genialen Dill(!)etanten in der TU-Mensa und wenig später für Mambo – Sounds & Trendsim regionalen TV-Kanal SFB 3, hatte im Endeffekt nur den eigenen Standort zum sukzessiv verfolgten Ziel, indem ich all diese Topoi elektrisch betriebener Popmusik in einem subjektiven Gefühlsaggregat zusammentrieb: affektive Stürme, melancholische Säuselwinde, Böen von Zeitgeist, die durch die Potemkinschen Dörfer und Wüsten des Realen fegten. Nicht verschwiegen und entzuppelt sei, dass sowohl The Winds of Change, als auch Aut Futura Nihil als Eckdaten meines sogenannten Kreativ­kosmos jeweils von privaten Trennungssituationen umsäumt waren, Bodenlosigkeiten, negativ, negativ, negativer Raum, der immer wieder neu den Astronavigator in mir forderte, Sternchen suchen, wisst schon …



1
Michel de Certeau; zit. nach Heidi Paris & Peter Gente, in: Platz machen, hrsg. von Andreas Brandolini, Berlin: Merve 1991=IMD 159
2
Heidi Paris & Peter Gente, ebd.
3
Sylvère Lotringer, ebd.

Literaturhinweise
–Andreas Brandolini (Hg.), Platz machen, Berlin: Merve 1991=IMD 159
–Horst Gerhard Haberl / Peter Strasser (Hg.), Nomadologie der Neunziger – steirischer herbst Graz 1990 bis 1995, Ostfildern: Cantz 1995
–Horst Gerhard Haberl / Orhan Kipcak / Werner Krause / Peter Strasser (Hg.), auf, und, davon – Eine Nomadologie der Neunziger = Herbstbuch eins, zwei u. drei, Graz: Droschl 1990
–D. Holland-Moritz, Der Weg durch Gegenwelten, Berlin: Verlag Martin Schmitz 1995
–Oskar v. Reuth (Hg.), Das Abschnappuniversum – Achtzehn neue deutsche Erzähler, Darmstadt u. Neuwied: Luchterhand 1984
Foto: Christina Zück