Wo?

2024:Mai // Peter K. Koch

Startseite > 05-2024 > Wo?

05-2024

Ich arbeite in einem verborgenen Raum, denn der Raum, in dem ich arbeite, liegt von der Straße aus gesehen weit hinten in einem Gebäudekomplex, ausgestattet mit einem doppelten Hofsystem. Wenn man das Gebäude von der Straße aus betreten will, muss man sich entscheiden, ob man entweder durch eine von einem (meist vollgepissten) gusseisernen Tor gesicherte Toreinfahrt in den ersten Hof gelangen will oder ob man den etwas weiter links liegenden Weg durch das Treppenhaus des Vorderhauses einschlägt, um so, und das ist beruhigend, ebenfalls in den ersten Hof zu gelangen, allerdings nicht auf dem kürzesten Weg, sondern einen kleinen Umweg nehmend, durch einen im ersten Hof gelegenen Garten. Der Garten von Frau ­Kosslowski. Dieser erste Hof ist ein nach oben hin offener Raum, das ist logisch, man befindet sich schließlich unter freiem Himmel, aber eben doch von den umliegenden Gebäuden so deutlich umschlossen, dass es sich, im Gegensatz zur offenen und an dieser Stelle breiten Straße, eindeutig wie ein Raum anfühlt. Mittels Durchschreitens der ersten Membran, dem Passieren des Vorderhauses, ist man von der Straße, dem sogenannten öffentlichen Raum in den halb­öffentlichen Raum (alles hinter der Haustüre) gewechselt, auf dem Weg in den privaten Raum (alles hinter der Atelier­türe). Definitorisch befindet man sich in einem Zwischenraum, dem Raum zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten und, rein physisch gesehen, im Raum zwischen den Gebäudeteilen und, man muss es an dieser Stelle einmal sagen, für immer in dem Raum, der das mal kümmerliche und mal grandiose Selbst beinhaltet. Der eigene Körper als sich permanent bewegender Raum durchs Öffentliche, Halböffentliche und Private, und in diesem Moment, wir haben Winter, ausgestattet mit einer halbwegs individuellen Raumverpackung, der Kleidung. A wrapped walking space (Christo meets Gilbert & George). Obendrauf geschraubt dann noch der Denkraum (Kopf), der das alles hier erst möglich macht.

Durchquert man dann, diesen Gedanken beiseiteschiebend, die zweite Tordurchfahrt, ganz rechts auf dem Grundstück unterhalb des ersten Quergebäudes verlaufend, gelangt man in den zweiten Hof, der, identisch zum ersten Hof, ein nach oben hin offener Raum ist, logisch. Der Unterschied zwischen diesen beiden Räumen, dem ersten Hof und dem zweiten Hof, liegt hauptsächlich in deren unterschiedlicher Nutzung. Der erste Hof ist geprägt durch private Nutzung. Im Vorderhaus, im Seitenflügel und im Quergebäude dieses ersten Hofes wohnen Menschen und diese durchqueren den Hof auf dem Weg in ihre Behausungen. Der zweite Hof ist geprägt durch gewerbliche Nutzung. Im Seitenflügel und Quergebäude des zweiten Hofes arbeiten Menschen und durchqueren diesen Hof auf dem Weg zu ihren Gewerbeeinheiten, ihren Büros, Studios und sonstigen Produktionsstätten. Da es keinen nennenswerten Publikumsverkehr gibt, es gibt keine Geschäfte mit Öffnungszeiten, handelt es sich bei beiden Höfen um klassische halböffentliche Räume, die sich vom klassischen öffentlichen Raum, der Straße, dadurch unterscheiden, dass man üblicherweise eine Berechtigung braucht, um diese zu nutzen. Zum Beispiel hat man sich vorab angekündigt, ist also im Moment der Nutzung Gast und als temporäre Nutzerin vorab eingelassen worden oder hat eine sonstige (möglicherweise dauerhafte) Berechtigung diesen Raum zu nutzen, zum Beispiel durch eine Funktion, die verrichtet oder eine Dienstleistung, die durchgeführt werden muss. Der Müll muss abtransportiert, die Post muss zugestellt werden. Es besteht ein Unterschied zwischen Nutzerinnen, die als Funktionsträgerinnen kommen und solchen, die als Besucherinnen, Kundinnen oder Geschäftspartnerinnen kommen. Der halb­öffentliche Raum unterscheidet sich vom öffentlichen Raum dadurch, dass hier nicht nur Polizei und Ordnungsamt die für diesen Raum festgelegten Regeln kontrollieren, sondern hier kann eine Hausverwaltung oder eine Hausbesitzerin eine sogenannte Hausordnung durchsetzen, auch eine noch so dumme. Einzige Regel: Das allgemein geltende Recht (das für den gesamten öffentlichen Raum gilt) darf auch hier nicht verletzt werden. Dürfen sich im öffentlichen Raum alle frei bewegen, können sich in einem halböffentlichen Raum nur autorisierte Personen frei bewegen, wobei die Eingrenzung im halböffentlichen Raum diffus sein kann, welche Personen dieser autorisierten Gruppe denn überhaupt angehören. Im privaten Raum ist die Definition dann wieder einfacher. Nur diejenigen können sich dort frei bewegen, die eindeutig und direkt dazu eingeladen worden sind. Punkt.

Aber zurück in den ersten und besonders in den zweiten Hof des halböffentlichen und, von der Straße aus gesehen, in gewisser Weise rückwärtigen Raum, in dem ich mich häufig aufhalte, den ich dann durchquere, von einem Raum zum nächsten. Die Eingänge zu den Gewerbeeinheiten liegen auf der linken und auf der rechten Seite des Gebäudes, jeweils ausgestattet mit einem schmalen Treppenhaus, das hochführt bis in das vierte Obergeschoss, bis in die am höchsten gelegenen Räume. Ich nehme den linken Eingang, dann direkt wieder nach rechts, Erdgeschoss, dann durch die massive Eisentür, hinein ins Private (präzise: ins Privat-Gewerbliche). Die Grundfläche der Gewebeeinheit beträgt 250 Quadratmeter, fast genau 25 Meter in der Länge und 10 Meter in der Breite, die Raumhöhe 3 Meter 20, das gesamte Raumvolumen also 800 Kubikmeter, was sich für mich ganz schön viel anhört, denn ich weiß, dass ein großes Glas Bier 0,0004 Kubikmeter Rauminhalt hat. In unseren Raum würden also 2 Millionen große Biere passen. Oder 11.428 Menschen, wenn man annimmt, dass ein Mensch 0,07 Kubikmeter Rauminhalt hat. Die Biere müssten sie vorher trinken, beides passt nicht. Ich bin aber meistens allein dort und denke auch nicht an die anderen 11.427, die noch Platz hätten. An die großen Biere denke ich manchmal.

Die rechteckige Grundform des Raumes ist nicht mehr wahrnehmbar, weil wir eine an unsere Bedürfnisse angepasste Raumstruktur haben bauen lassen, mit Wänden, Gängen und Türen. Aus einem Raum sind so, durch raumtrennende und raumdefinierende Einbauten 11 Halb-, Voll- und Durchgangsräume geworden. Wahrscheinlich würde eine andere Raumzählerin zu einer anderen Zahl kommen, weil es nicht immer ganz klar ist, wo ein Raum beginnt und ein anderer endet. Ein geschickt platziertes Regal definiert einen Halbraum, der für jeden leicht wahrnehmbar ist, wohingegen der Raum unter einem Türsturz eine räumliche Grauzone bleibt, eine Grenze, die nicht mehr zum einen Raum gehört, aber auch noch nicht zum anderen. Niemandsland, Unraum. Jede Türe ein Unraum. Aus dem einen kommend, in den anderen führend. Es sei denn, der Übergang ist verschlossen, die Türe zu. Eine Raumverweigerung, bis sie sich dann plötzlich öffnet und Platz bietet für Raumerkundung. Und was ist das überhaupt für ein Raum, den ich im Spiegel sehe, wenn ich den allerkleinsten und allerprivatesten Raum, die Toilette, verlasse und meinen Denkraum (Kopf) ganz kurz um 45 Grad nach links drehe? Im Spiegel sehe ich dann einen rechteckig begrenzten Raum, einen Raumschnitt, den es gar nicht gibt. Gibt es mich? Danach sitze ich dann meistens in einem anderen kleinen Raum, nicht im allerkleinsten, aber im zweitkleinsten, wenn man die Räume unter den Türstürzen nicht berücksichtigt, wo man aber sowieso schlecht sitzen kann, ohne ständig im Weg zu sein. Der andere kleine Raum ist mein Büro. Es gab eine Zeit (die Pandemie), da war ich eigentlich immer allein in diesem sehr kleinen Raum, umgeben von den ganzen anderen Räumen, innen und außen, die alle ungenutzt waren und kalt. Ich bin dann täglich durch die vielen ungenutzten und kalten Räume gelaufen, um in den einen Raum zu gelangen, der in der Mitte dieser Räume liegt, um diesen kleinen Raum dann zu heizen und dort zu arbeiten. Meine Arbeit dreht sich häufig darum, dass ich über Räume nachdenke.

Ich arbeite in einem verborgenen Raum, denn der andere verborgene Raum (mein Kopf), der auf dem beweglichen Raum (mein Körper) montiert ist, ist von außen schlecht einsehbar. Zusammengenommen nur ein Volumen, wie gesagt, mit geschätzten 0,07 Kubikmeter Inhalt, wobei der Kopf vielleicht nur 0,006 Kubikmeter hat. Keine weitere Ausdehnung möglich, es sei denn ich fange an zu fressen. Im Inneren des oberen Segments, der Schaltzentrale, ist hingegen eine Ausdehnung möglich, der keine Grenze gesetzt ist, nur jene, die man sich selbst setzt. Kunst entsteht dann so: Kopfraum entwickelt einen Plan, anschließend wird Körperraum (plus entsprechende mechanische Werkzeuge) in Bewegung gesetzt, um den Plan auszuführen. Einer allein kann gar nichts. Kopf kann nicht schrauben, Körper weiß nicht wieso. Im koordinierten Zusammenspiel beider Teile entsteht dann (oft recht langsam) ein Kunstwerk. Das Kunstwerk wird in einem Raum entwickelt, den man Atelier (englisch: Studio) nennt und dann wird es idealerweise in einem weiteren Raum der Öffentlichkeit vorgestellt, den man Galerie oder, sehr profan und funktional, Ausstellungsraum nennt. Sollte es dann, während dieser Raum-im-Raum-Situation zu einer Adoption (Kauf) kommen, wird das Kunstwerk nach Ausstellungsende in andere Räume überführt, für die es keine eindeutige Kategorisierung gibt, handelt es sich dabei doch um Wohnzimmer, Arztpraxen, Flure, Büros und andere private oder gewerbliche Räume. Von diesen Orten habe ich nur eine sehr vage Vorstellung und interessiere mich auch nicht eindeutig dafür. Hier und da kommt im Laufe der Zeit ein Foto zum Vorschein, eine zweidimensionale Abbildung eines dreidimensionalen Raumes mit einem ebenfalls dreidimensionalen Objekt (das Kunstwerk) darin. Meist sagt mir diese Abbildung nichts. Einmal hat mir eine etwas gesagt, denn was darauf zu sehen war, das war so etwas wie eine Raumkomprimierung. Eine Zerdrückung. Ein künstlerischer Schadensfall. Der Besitzer eines unter einer Acrylglashaube geschützten, äußerst vulnerablen und vielteiligen Objekts war mit seinem Auto rückwärts gegen die schützende Außenhülle jenes Kunstwerks gefahren und dessen Hülle war in der Folge an mehreren Stellen gebrochen und hatte das Innere, das Räumliche, so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass man von einem Totalschaden ausgehen musste. Bei genauerem Betrachten der Abbildung konnte man erkennen, dass das Objekt, ein in meinen Augen recht gelungenes, in Höhe des Stoßfängers eines recht raumfordernden Fahrzeugs in einer Garage installiert war, umgeben von einigen anderen Bildern und Objekten anderer Künstlerinnen und Künstlern. Zur Erklärung wurde folgender Text mitgeliefert: Im Haus war kein Platz mehr! Es herrschte also Raumnot im Haus. Deswegen die Auslagerung und deswegen auch die (wahrscheinlich ungewollte) Raumkomprimierung. Um Platz zu schaffen. Wäre das Objekt nicht verkauft und in der Garage zerknüllt worden, dann wäre es möglicherweise irgendwann nach der Ausstellung ins Lager verbracht worden, dem ungemütlichsten Ort, in dem ein Kunstwerk aufbewahrt werden kann. Ein nahezu unsichtbarer und uneinsehbarer Ort, in der Vorstellung fast raumlos, über den man Buch führen muss, wenn man den Überblick behalten möchte. Ein richtiger Alpraum.



Foto: Christina Zück