Vanity Fairytales

Es ist wirklich Zeit!

2024:November // Elke Bohn

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11-2024

Mit der Zeit, ja da ist es so eine Sache – immer ist sie da, eigentlich. Haben sollen viele sie, manche gar wollen nicht einmal, nie jedoch immer.
Sie kann zerrinnen und vergehen, im Kürzesten ihrer selbst zersetzen sich, verlieren selbst, ist kurz und lang gefühlt, zu viel zu wenig, das ja auch.
Sie fühlen, ja, das könn’ wir auch. Rennt sie auf und davon, dann zwickt sie – ist sie fett und stinkt und macht sich breit, beinah alles sie erdrücken kann.
Auch möglich ist, oft danach ganz neu sie lesen zu wollen, gut wie schlecht auch wieder hier.
Schnell, langsam, viel, wenig, zu zu zu, schön, doof, geht so, wunderbar, alles super, schwierig gerade, und so hin, muss ja, keine …, langweilig. Das wär mal wieder schön.
Es ist die Zeit, im Möglichen, das allereinzigste Phänomen, das wirklich gilt für alle. Natürlich, und auch sozial, nicht jedoch gleich. Mal wieder.
Das nahm, oder nimmt immer und dafür, zu Herzen sich der Thomas Trummer, der mit dem D dazwischen. Direktor in Bregenz ist er, dort vom Kunsthaus. Als solcher, so heißt es ja immer – ja, zeitlich gemeint – also, schon immer, kann er kaum bis keine Ausstellungen machen. Keine Zeit. Braucht er für alles andere.
Stimmt nicht, befand er und tauschte sich selbst wieder ein, einmal vollends weg von all dem zeitraubend Administrativen, hin zum Machen, Denken, Schreiben und dem Kuratieren. Was ja von sich kümmern kommt, und das kostet nicht nur Zeit.
Es kostet Substanz, Nerven, Lebensenergie und noch viel mehr – und hier setzt diese Ausstellung an.
‚Es ist wirklich Zeit‘, von einigen Schreibenden als die eigentliche documenta seit Längerem (sic!) erkoren, führt den Blick dahin, wo es wehtut. Auf den Moment. Im Hier. Im Jetzt. Und, ja, im Ernst.
Im Saal im obersten Stockwerk, in dem immer wieder und immer noch und, so hoffen es die Leute, noch lange und vielleicht für immer wunderbaren Museumsbau von ­Peter Zumthor, hat Marina Abramović eine Station installiert. Nicht nur wie in einem Krankenhaus, nein, sie hat das Krankenhaus installiert. Dort leben nun zeitweise acht Menschen, in Rekonvaleszenz nach operativen Eingriffen. Ihre artifiziellen und mitunter lebenserhaltenden Verletzungen heilen, von Fachpersonal überwacht und gepflegt, unter durchsichtigen Verbänden. Daneben, darunter oder davor sind Kameras angebracht, die nichts als, nicht mehr, nicht weniger und dennoch anonymisiert und personenlos, alle diese Wunden zeigen. Schön ist das nicht, sagen die einen. Soll es ja auch nicht, antworten die anderen. Auch ist es eine Arbeit, die ihre volle Kraft im Verlauf entfachen nur kann. Da muss man dann öfter hin, wenn man es aushält. Oder kann. Oder möchte. Ist halt auch die Frage, wofür man sie sich nimmt, die Zeit.
Das ist auch, ob man will oder nicht, und auch wenn man so will, das Überthema der Installation im zweiten Stockwerk. Es ist eine, bei der man nichts sieht, obgleich sehr viel zu sehen ist. Alle Mitarbeitenden aller Max-Planck-Institute für Quantenphysik haben Forschungsprojekte zum Thema Magnet gebracht. Da geht es um eine der radikalsten Formen von Zeit, nämlich die Zukunft. Wie werden in dieser Zukunft Daten gespeichert, in Mengen, die uns in diesem Moment absurd erscheinen – wie wird in dieser Zukunft Energie geschaffen – wie bewegen wir uns fort, in der Zukunft – wie lebt man im Jetzt und denkt ins Morgen – wie weit entfernt ist sie, diese Absurdzukunft – und haben wir noch die Zeit, das zu erleben und diese sperrig zu denkenden Fragen zu klären? Und was hat mit alledem das Altern von Magneten zu tun?
Technisch, statistisch ist das wohl logisch, verstehen sehr wenige bis keine der Besuchenden diese Vorgänge, ob in Versuchen oder Hypothesen. Daher werden diese Aufbauten als Installationen gelesen und für ihr damit visuelles Geben gemocht. Kurator Trummer findet das prima so.
Weitere echte Kunst gibts auch noch, nämlich einen Teil der Ausstellung Period of Change, aus dem Jahr 2022 von Anna Boghiguian.
Im ersten Obergeschoss wurden lebensgroße ausgeschnittene Figuren auf einem verspiegelten Schachbrett ausgestellt. An den Rückseiten wurden die Silhouetten mit roten oder schwarzen Platten versehen. Ihre Vorderseiten bemalte Boghiguian mit Wachsfarbe. In vorderster Reihe von The Chess Game steht die aus Österreich stammende französische Königin Marie Antoinette. Sie erschien und erscheint erneut und immerdar bunt und licht gekleidet, mit einem auffälligen Hut ihrer Modistin Rose Bertin, die ebenfalls als Figur auf dem Brett dargestellt ist und wieder wird. Marie Antoinettes Mutter, Kaiserin Maria Theresia, reiht und reihte sich neben ihr in das Ensemble ein. Weitere Figuren zeigten und zeigen den Künstler Egon Schiele, dargestellt mit Mundschutz gegen die spanische Grippe; den in Sarajevo ermordeten habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand mit Schnurrbart und Jagdflinte; Ferdinand I., König von Lombardo-Venetien im 19. Jahrhundert; Theodor Herzl, den Begründer des Zionismus; Sigmund Freud und andere historische Persönlichkeiten. Im hinteren Teil des Schachbretts ist Aribert Heim zu erkennen, der für Boghiguian von zentraler Bedeutung ist und bleibt. Heim war Lagerarzt im KZ Mauthausen und unter den Häftlingen als „Dr. Tod“ bekannt. Nach dem Krieg wohnte Heim einige Jahre in Deutschland und floh anschließend nach Ägypten, wo er bis zu seinem Tod unbehelligt in einem Hotel in Kairo lebte.
Neun Figuren sind und waren für die Ausstellung in Bregenz hinzugekommen, darunter Jean-Jacques Rousseau, Leo Tolstoi, Rudolf Steiner, Stefan Zweig, Friedrich Nietzsche und Josephine Baker. Sie schweben als bunte Schatten über dem Schachbrett.
Trummer zeigt, dass auch im Museum die Zeit relativ ist. Vorbei ist nicht immer vorbei, Wiederholen ist nicht alt, kann nämlich im Nochmal auch neu sein.
Im Foyer des Museums ließ Trummer das Café Bräunerhof nachbauen, so detailiert, als würde Thomas Bernhard gleich zur Tür hereinspazieren. Auch sein Tisch, den er immer dort besaß und besetzte, auch der fehlt nicht. Bücher oder Material, aus denen kumuliertes Wissen sprechen könnte, all das gibt es nicht. Es geht um die Hinwendung zu Zeit als solcher. Ohne Ziel und Fokus. Volle Dröhnung Kontemplation wird empfohlen.
Bild: Montage Andreas Koch (KI (Koch-Intelligence))