Punk im Museum
Die letzte Generation vor der Digitalisierung
Sie war eine der Ersten, die das machten, was die Tech-Riesen für Milliarden zum To-do generiert haben: Leben dokumentieren bzw. es zu inszenieren, um es zu dokumentieren oder einfach alles dokumentieren – basta. Posing to death. Die Frage nach der Authentizität verdichtet sich bei Nan Goldin in dem Bild eines Selbstmordversuchs. Dieses Bild wirft am meisten von allen, trotz oder wegen der Message, Fragen zu seiner Glaubwürdigkeit auf. Ich soll offensichtlich geschockt sein, angeekelt, da soll mir was unter die Haut gehen. Man bräuchte es nicht für das, was sie sonst erzählt. Es wird klar, die Kamera hat sie nicht nur einmal gerettet.
Mit einer einzigartigen Intuition für die Komposition stürzt sich die Fotografin im Augenblick auf das Licht, komme es von den Sternen oder von der Sonne, von einer kleinen Lampe, einer Kerze. Es gibt Bewegungsunschärfen oder jene, die durch lange Belichtungszeiten entstehen, da wo das Licht seine Schlieren zieht. Kinder fliegen durch die Luft, Kinder dürfen traurig sein und sind nicht gezwungen zu lächeln. In der Neuen Nationalgalerie konnte einem nochmal bewusst werden, was für eine Ausnahme-Fotografin Nan Goldin ist. Und was für ein Glück es ist, diese Bilder zu sehen.
Jede Aufnahme könnte als Tableau einen Raum füllen. Großzügig gliedert sie stattdessen Werkgruppen, die fast wie ein Film als Dia-Show präsentiert werden. Dazu laufen die Lieder aus der Zeit. Die besondere Ausstellungsarchitektur individueller Klein-Kinosäle macht es möglich, sich auch hier in der Nationalgalerie einer Gemeinschaft zugehörig zu fühlen, es wird die Menge der anderen Anwesenden körperlich spürbar.
Ihre jahrzehntelange Arbeit hat eine historische Erzählung entstehen lassen, die für die Generation der vonhundert-LeserInnen biografisch von Bedeutung war: Verschwende deine Jugend, fuck off, no future. Die letzte Generation vor der Digitalisierung.
Manche gehen erst gar nicht hin, weil sie Nan Goldin zu anstrengend finden. Für andere ist es Kult. Sie kommen runter und rücken zusammen, halten den Atem an. Für die Älteren waren die verqualmten Räume wieder zu riechen, der Geruch nach Schweiß und Bier auf dem Boden und Gras. Für das junge Publikum in der Neuen Nationalgalerie, das diesen Ort für sich erst entdeckt, sind die Bilder heiß, heiß an Adrenalin, an Puls, an sexuellem Verlangen, dem Leben. Für alle sind die auf den Bildern weit weg.
Nan Goldin, This Will Not End Well
Neue Nationalgalerie, Berlin, 23.11.24–06.04.25
Cover: Ulf Erdmann Ziegler Es gibt kein Zurück, Wallstein Verlag, Göttingen 2025