Ulf Erdmann Ziegler

Buch

2025:Juni // Andreas Koch

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06-2025

Es gibt kein Zurück

Man könnte das Leben in drei Phasen teilen. Der erste Teil, sagen wir bis Ende 20, ist die Bildungsphase. Man wird geformt und formt sich. Danach das nächste Drittel, ich nenne es hier den Performance-Abschnitt, der geht so bis Mitte, Ende 50. Man steckt im Beruf, gründet vielleicht eine Familie, muss jedenfalls etwas leisten. Das geht auch über die 60 hinaus, doch plötzlich merkt man, dass man sich schon in der von mir sogenannten Ausroll-Phase befindet. Die Anforderungen sinken, die Welt will weniger von einem wissen, man selbst weniger von der Welt, der Körper verliert an Kraft, insgesamt alles an Attraktivität und Interesse.
Ulf Erdmann Ziegler beschreibt in seinem Roman „Es gibt kein Zurück“ einen Mann, der mit Ankunft seines Rentenbescheids erst realisiert, dass er sich schon in der Ausrollphase befindet. Und, obwohl er noch als vielbeachteter Radioessayist arbeitet, fällt die angekündigte Rente äußerst bescheiden aus – nur knapp über 1000 Euro ist das Resultat seines Arbeitslebens als freiberuflicher Weltendeuter im deutschlandweiten Sender. Die Aussicht auf Weiterbeschäftigung wird ihm fast gleichzeitig versperrt. Als alter weißer Mann müsse er seinen Platz natürlicherweise räumen.
Tatsächlich unterscheidet sich die Ausrollphase je nach zuvor erreichter Startposition am Ende der Performance-Phase. Sie hängt von angehäuften Rentenpunkten, angespartem oder geerbtem Vermögen, von Ruhm und /oder Institutionalisierung, von körperlicher Fitness ab. All diese Faktoren beeinflussen den Rollkomfort beziehungsweise die Ausrolllänge.
Aldus W. Mumme (a. w. M.), so der etwas gestelzte Name des Radiomanns, ist vom Autor diesbezüglich, bis auf die Rentenhöhe, gut ausgestattet worden. Er hat eine erfolgreiche, gut verdienende und institutionalisierte Frau, wird von einer Buchagentin für seine Memoiren angefragt, erhält dafür einen großzügigen Vorschuss und er hat einen Hund, mit dem er ausgiebig die mehr gewordene Zeit nutzt, um im Südwesten Berlins über sein Leben, darin wichtige Personen und Stationen nachzudenken.
Ziegler findet für all dies einen Ton, der einen durch diese ereignisarmen Zonen des Buches trägt, ohne dass es ermüdet. Der Leser synchronisiert sich mit der Hauptfigur, lässt sich auf seine Geschwindigkeit ein, rollt mit ihm dahin.
Und doch bleibt eine Unruhe, die nicht nur vom niedrigen Rentenbescheid herrührt. Als eine Frau auf einem Retromotorrad an ihm vorbeifährt, beschließt er, sich das gleiche Motorrad zu kaufen. Das klingt hier klischeehafter als im Buch. Ziegler bereitet so eine größere Reise seines Protagonisten vor und meine Metapher für das letzte Lebensdrittel wird im Buch auf diese Reise verkürzt. Sie beschränkt sich auf Frankreich, erst Paris, dann ein Ort in Südfrankreich, beschrieben wie Paradies und Hölle zugleich. Ein Bilderbuchort, wie man ihn sich für seine späteren Tage erträumt, egal ob Toskana, Gardasee oder eben wie hier Provence. Die Pinien, der Pool, die lange Tafel, alles verspricht Leichtigkeit und Erlösung, wären da nicht man selbst, den man mitnehmen muss, und all die anderen, die an so einer Tafel nun mal sitzen. Ziegler nutzt die so konstruierte Situation zu Tisch für scharf gezeichnete Porträts samt aller angehäuften Neurosen, und lässt diese so untereinander agieren, dass Mumme seine Reise schnell fortsetzen will. Das Motorrad hat jedoch schon den Geist aufgegeben und der Titel des Romans gibt die Richtung vor „Es gibt kein Zurück“. Dann eben Zug, Bus, immer weiter, immer blöder. Bis Mumme in einer öden Neubausiedlung in der Nähe der Küste, in einem AirBnB, einer Einliegerwohnung landet, einem Ort an dem man heutzutage dank digitaler Medienführung leicht landen kann. Vielleicht hat der Preis überzeugt, den Rest macht die App, das Navi, notfalls schickt man eine Nachricht und wird an der Bushaltestelle abgeholt.
Es ist die Stringenz dieser Bewegung, die in immer größerer Trostlosigkeit endet, die Ziegler als gar nicht schlimm beschreibt, nur dass er sie eben beschreibt. Man fragt sich als Leser gar nicht, was macht er denn jetzt da, Mumme fragt sich das selbst ja auch nicht. Nur trinkt er – was man in solchen Situationen, alleine in einer Erdgeschossgaragenwohnung, wohl macht – zwei Flaschen Wein am Abend.
Und dann kommt der Knall, der Höhepunkt oder eigentliche Tiefpunkt, man bezeichnet so etwas meist als Kurzschlusshandlung. Ich verrate das, weil dieser Text hier nicht eine klassische Buchbesprechung ist, weil er sich im Tod-Spezial einer Kunstzeitschrift befindet, weil das das notwendige Ende dieser Beschreibung einer Bewegung, nicht nur im besprochenen Buch, sondern auch in diesem Text ist: A. W. Mumme findet zufällig eine Packung Rasierklingen in seinem Waschset, die alten, klassischen, eingewickelt in Wachspapier, und er schneidet sich damit die Pulsadern auf und stirbt.
Diese Idee, eine Ausrollbewegung auch abzukürzen, abzuspringen, umzufallen, ist immer präsent, da möglich. Das Hermann-Hesse-Motiv aus dem Steppenwolf, sich jetzt nicht umzubringen, weil man das ja immer noch später tun kann, trifft hier nicht zu. Der Steppenwolf bringt sich eben nicht um, sondern lebt nur deshalb weiter, weil er das Ausstiegsticket in der Tasche glaubt und deshalb seine Leidensfähigkeit steigern kann. Vielleicht hat Ziegler deshalb einen wichtigen ehemaligen Freund Mummes aus Calw (Hesses Geburtsort) stammend angelegt.
Der Selbstmord ist bei Ziegler/Mumme nicht aus Leidens­druck geschehen, es ist eher eine Indifferenz, ein Warum-auch-nicht. Es ist dieser Moment, was wäre, wenn ich jetzt diesen Schritt in den Abgrund täte, das Auto gegen den Baum lenkte, mich auf den Bahnsteig stürzte. Jeder kennt diesen abgründigen Schwindel dieser kurz aufflammenden Idee. Und hier wird die Schwelle überschritten, das innere Zurückbleiben ignoriert.
Das was Ulf Erdmann Ziegler mit seiner Prosa, seinem Erzählton, seiner Konstruktion gelingt, ist, dass dieser Selbstmord absolut plausibel erscheint.
Und doch gilt für den Roman wie das Leben die alte Weisheit „Der Weg ist das Ziel“. Ulf Erdmann Ziegler nutzt die vielen Seiten für eine zeitgenössische Analyse der Gesellschaft und unseres Seins darin. Es geht dem Ende zu, aber bis dahin könnte man den Rest ohne Larmoyanz beschreiten, bis man eben umfällt.


Ulf Erdmann Ziegler, Es gibt kein Zurück, Roman, 216 S., Wallstein Verlag, Göttingen 2025
Cover: Ulf Erdmann Ziegler Es gibt kein Zurück, Wallstein Verlag, Göttingen 2025
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