Warum ist der Tod mein Freund

2025:Juni // Chat

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06-2025

Der Tod bedeutet unsere Endlichkeit. Die Endlichkeit eines menschlichen Lebens.
Der Tod definiert unser Leben als vergänglich. Egal, ob es gut oder schlecht läuft.
Wir leben unter der Bedingung, irgendwann zu sterben. Das kann noch heute sein oder erst in Jahrzehnten.
Die Ungewissheit über den Zeitpunkt unseres Todes lässt uns sowohl entspannt sein als auch in Sorge. Die Begrenzung unserer Lebenszeit gibt ihr einen Wert.
Der Tod an sich aber stellt Gewissheit her. Er ist ein treuer Begleiter, mein ganzes Leben lang. Er gibt meinem Leben einen Rahmen. Ich bin mit ihm im Gespräch.

Das menschliche Subjekt trägt Verantwortung. Der Tod kann ein Ausweg sein. Aus dem Haus. Von der Bühne. Aus dem Gefängnis. Aus dem Spital. Von der Achterbahn. Aus dem Ring. Er ist die Rettung aus der Sklaverei und die Rettung vor mir selbst. Wenn ich ihn ansehe, fühle ich mich frei.
Die Kunst überwindet den Tod. Mit der Kunst übernehme ich Verantwortung über den Tod hinaus. Die Kultur, in der wir leben, besteht zum größten Teil aus den Werken von Toten. Archäologen, Museen und Restauratoren arbeiten gegen die Vergänglichkeit an. Aber auch anderes, was nicht Kunst ist, kann weiterwirken nach dem Tod: eine technische Erfindung, ein Unternehmen, ein gebautes Haus, ein bestellter Garten, politische Arbeit, Freundlichkeit usw., auch Hass.

Der Tod ist das Ende eines gelebten Lebens. Danach wird alles anders. Danach gehen meine Träume in Erfüllung. Danach herrscht Frieden. Danach ist Ruhe.
Danach ist nichts.
Der Tod bietet eine Projektionsfläche für ein Danach.
Das Leben kann anstrengend sein. Der Tod ist das nicht.
Ich kann glücklich sein. Der Tod hegt das Glück ein. Ohne den Tod kein Glück. Ich verliere das Glück aus den Augen im Laufe der Zeit. Wenn ich das Glück unendlich ausdehne, ist es nicht mehr da. Ich möchte die Zeit anhalten, wenn ich glücklich bin. Le plaisir que je vive avec toi. Eine Zigarette lang. Die Vergänglichkeit verbietet das.
So leben wir fortlaufend den Tod. Er ist bei uns die ganze Zeit.


Das Licht sehen können, weil es die Dunkelheit gibt. Den Tag und die Nacht. Wie in einem Kinderbuch über die Jahreszeiten in einem Wald, das einen lebendigen Kreislauf veranschaulichen will. Aber wie sensibel ist dieser Kreislauf: Er ist dabei, sich zu verschieben. Es gibt große Tode, die viel verändern, und danach sieht die Welt anders aus. Ohne Gletscher, ohne Korallenriffe, ohne Bienen.

Wäre das Leben nicht endlich, hätte ich sehr schnell keine Lust mehr.
Hätte ich sagen müssen, wie lang ich leben will, wäre ich schon längst tot.
Hätte ich gewusst, wie lang ich leben muss, hätte ich keinen Mut gehabt.
Ohne den Tod wäre ich unfrei.
Ohne den Tod wäre ich keine Künstlerin geworden.
Ohne den Tod würde ich keine Verantwortung übernehmen.
Ich will nicht leben, ohne zu träumen.
Wenn das Leid ewig währte, wäre ich verrückt geworden.
Wenn das Glück ewig währte, könnte ich es nicht mehr erkennen.
Wenn es den Tod nicht gäbe, würde ich ihn erfinden.

Ich bin bereit zu sterben, um Platz zu machen. Meinen Nachkommen, euren Nachkommen, den Tieren, den Pflanzen, auf die ich draufgetreten bin.
Poster: Chat, 2021