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Raum
Ein alphabetischer Versuch
2024:Mai //
J.G. Wilms
A
Ambiente
Der Tiefpunkt des Ambiente-Hypes war wahrscheinlich in der Ära Kohl erreicht, als sich auch noch eine Illustrierte so nennen musste. „Ambiente“ ging dann 1997 in „Architektur & Wohnen“ über, eine Illustrierte, die vierzig Jahre vorher als spin-off der Zeitschrift „Film und Frau“ entstanden war. Es brauchte also viel Geduld und zahllose Auflagen, damit aus einem „und“ ein „&“ werden konnte. Aber auch so, historisch, war es mit dem billigen Prunk das Ambiente wohl nie so weit her gewesen. Für den 4. Dezember 1945 verzeichnete die Münchener Stadtchronik – um nur irgendein Beispiel zu greifen: „Oberst Eugene Keller, der erste amerikanische Stadtkommandant und Direktor der Militärregierung, wurde in der Ratstrinkstube verabschiedet. Das Ambiente, zugemauerte Fenster, einfache Brettertüren und eine beschädigte Decke, entsprach ganz den Umständen.“ (→ Jargon, Quartier)
B
Beton
Grau wie die in Neonlicht getauchten Wände einer Tiefgarage oder der Hudson River an einem grauen Tag; und poetisch nur im Brutalismus; grau – wie die Herren von der Zeitsparkasse in Michael Endes „Momo“; hier aber nun wird die Zeit von Jahrmillionen aufgebraucht, um mit fossilen Brennstoffen aus zermahlenem Gestein solche Mengen von Zement auf die Erde zu schleudern, dass mittlerweile Sand knapp wird.
C
Cartesius → s. X, Y
D
defensive architecture
Im Wedding, in der Ackerstraße, von der Walter Benjamin schon vor gut hundert Jahren schrieb, dass man nach dem Orient reisen müsse, um sie zu verstehen – da, wo sie an der Ecke Feldstraße Richtung Westen zur verkehrsberuhigten Spielstraße wird und sich die Andeutung eines kleinen Platzes ergibt, haben sie noch vor Corona bereits alle und jede Sitzmöglichkeit beseitigt. Die als Stadtmöbel aus keinem Wohnbauprojekt der 70er- oder 80er-Jahre wegzudenkenden Blumenkübel (→Beton) sind nun nicht mehr von Holzbrettern gesäumt, die als Sitzflächen dienen könnten. Stattdessen sind dort nun aus Zink gefertigte, nach oben in einen Grat zulaufende Hauben angebracht, die jeden Versuch, Platz zu nehmen, in eine Art akutes Hämorrhoidalleiden verwandeln würden. Jahre – wenn nicht jahrzehntelang – hatte sich hier eine altwestberliner, latent weltoffene Trinkerszene getroffen. Am Wochenende lief, wenn Hertha spielte, ein batteriebetriebenes Radio. Mittlerweile ist mit dem Getränkeladen auch die kleine Edeka-Filiale verschwunden. Begegnung und Verweilen gibt es nur noch für zahlende Kunden beim Back-Shop.
(s.a. → Quartier, wahrscheinlich)
„Nach dem Orient muß man reisen,
um die Ackerstraße zu verstehen.“
https://www.projekt-gutenberg.org/benjamin/selbstze/chap006.html
E
Ethnopluralismus → Raum-Zeitstelle
F
Falsche Freunde
Falsche Freunde figurieren sozusagen als die wahren einer jeden pragmatischen (→) Linguistik – wie in art und Art, oder in: undertaker und Bestatter. (s.a. → Nirwana)
G
Google
Irgendwann gab es einen kulturellen flash namens Google Earth: Den Blick auf die blaue Murmel nicht mehr exklusiv für Weltraumreisende oder als Poster im Jugendzimmer, sondern: performativ, und für alle, die auf ihrer PC-Mouse ein Scroll-Rad vorfanden und sich nun, wie im Schwarm der Adler des Prometheus, aus dem Himmel auf irgendeine Straßenkreuzung, meinetwegen im Kaukasus, stürzen konnten; irgendwann kam dann noch Google Street View dazu; und irgendwo dazwischen begann ein Smartphone-User nach dem anderen seinen Orientierungssinn zu verlieren.
H
Horizont
Eine Art X-Achse (→ X) mit Erdkrümmung; immer wieder gern gesehen bei Sonnenauf- oder untergängen. Penelope Umbricos radikal akkumulative Arbeit „suns from sunsets from flickr“ (2006, ongoing) erhellt jedoch, dass die Zahl der Sonnenuntergänge auch ohne erkennbare Horizontlinie in sozialen Netzwerken (→ Google) exponentiell wachsen kann. http://penelopeumbrico.net/index.php/project/
suns-from-sunsets-from-flickr/
I
Industrienorm
Trostloser als Kinderspielplätze, die hierzulande nach einer deutschen Industrienorm (DIN) errichtet wurden, sind allein Kinderspielplätze, die hierzulande nach einer deutschen Industrienorm errichtet wurden und leer stehen.
J
Jargon
Hier: jargon militaire, s.a. → Quartier
K
Klassizismus
War Peis Erweiterungsbau des Deutschen Historischen Museums (90er) noch offen, verspielt, komplex, und mag auch der viel besungene Architekturschlager der Reichstagskuppel (Norman Foster, auch 90er) noch in diesen Formenkreis passen – auf der Museumsinsel ist es vorbei mit Postmoderne, hier zählt auch Moderne schon gar nicht mehr, hier wird seit der Errichtung der James-Simon-Galerie (10er) das topische, katastrophale Missverständnis, der Klassizismus sei nicht modern, von Grund auf gespielt und widerlich bedient. Kein Anschluss an bestehende Bauten, kein Einklang; stattdessen wie bei den meisten Repräsentationsbauten der letzten Jahre (BND, Innenministerium, Ausbau Kanzleramt, you name it) der Zug zu einer Architektur, deren Formensprache sich an den autoritären 30ern orientiert.
L
Linguistik
Ein idealerweise mehrdimensionales Koordinatensystem des sozialen Systems Sprache; s.a. → Cartesius, X, Y
M
Maps
Find local businesses, view maps and get driving directions in (→) Google Maps. (s.a. → Uber)
N
Nirwana.
Gibt’s eigentlich irgendwo eine Abhandlung über den etymologischen Zusammenhang von nirgends und nirwana? Gibt es den überhaupt? Oder spielt hier die Metaphysik der Sprache mal wieder das Spiel der (→) falschen Freunde? (s.a. → Linguistik)
O
Orient
zu Orient s. → defensive architecture oder auch: Orientierung (→ Google)
P
Poller
Zwar hätte dieser Eintrag zum Buchstaben P auch zum: Phänomen sein können, aber wie erst, wenn das Phänomen Poller heißt, zu dem es wiederum ein so bemerkens- wie empfehlenswertes Projekt gibt: Helmut Höge: „Pollerforschung“, Hamburg (adocs) 2018; ISBN: 9783943253207
Q
Quartier
Als das „Viertel“ in der Urbanistik unspektakulär wurde und „Kiez“ noch zu anrüchig, oder bestenfalls nach lebendigem Lokalkolorit klang, wurde, ohne Rücksicht auf Verluste, direkt aus der Motten-Kiste eines (→) jargon militaire das „Quartier“ gekramt und im weiteren Vorgehen erfolgreich zu einem tragenden Konzept versuppt: Der Quartiersentwicklung folgte das Quartiersmanagement auf den Fuß; und in der Stadt des Hohenzollernschlosses finden wir inzwischen sogar eine gemeinnützige Biermarke namens Quartiermeister vor. (→ Linguistik, wahrscheinlich)
R
Raum-Zeitstelle
„Die Entdeckung einer Wahrheit geschieht stets an einer bestimmten Raum-Zeitstelle; aber die entdeckte Wahrheit gilt immer und überall.“ Diesen Satz von Ortega y Gasset, den er 1924 in „Las Atlántidas“ formuliert, könnte ich, so schön gemeißelt er klingt, hier als Kalenderspruch stehen lassen. Aber im Kontext wird er noch viel klarer, denn er steht im Zusammenhang mit seinen Überlegungen zum „kulturellen Relativismus“ eines Oswald Spenglers, dessen „Untergang des Abendlandes“ seinerzeit einen wesentlichen Beitrag zum ideologischen Futtertrog der damals noch nicht so genannten Neuen Rechten bot. Heute erlebt dieser kulturelle Relativismus im protofaschistischen Konzept des Ethnopluralismus seine Wiederkehr. Auf vermeintlich links gedreht, übt sich hier inzwischen auch eine sog. Identitätspolitik. Da war, vor 100 Jahren, Ortega y Gasset weiter: „Spenglers Werk erwürgt sich selbst, da er nicht bedenkt, daß der Nachweis der Relativität der Kulturen – der historischen menschlichen Handlungen – seinerseits ein Geschäft absoluter Art ist. Indem die Geschichte die Relativität der menschlichen Formen aufdeckt, spricht sie eine nicht mehr relative Erkenntnis aus. Daß diese innerhalb einer bestimmten Kultur erscheint und eine Art der Weltbetrachtung ist, die sich im westlichen Menschen bildet, hebt ihre Absolutheit nicht auf.“ Soweit die Dialektik. Dann erst folgt der eingangs zitierte Satz.
S
Sichtachse
Das Gegenteil einer Raum-Zeit-Spirale; schon der vielen Windungen halber, die einer Sichtachse, qua Definition, erspart bleiben. Sichtachsen sind wie Schneisen Ergebnis von Rodung.
T
Träume
Träume – reimt nicht nur auf Räume, in ihnen sind auch, wie nirgends (vlg. → Nirwana) sonst, die Gesetze von Raum und Zeit suspendiert oder wenigstens, wenn das zu gewagt erscheint, die ihrer Kontinuitäten. Eben hier – jetzt dort; und wann das ganze war, wüsste auch wieder nur das Unbewusste.
U
Uber
Von Uber, dem Fahrdienst, gilt heute, was Marx bereits für die Vorgeschichte des Kapitals formuliert hatte: „… die Verwandlung der individuellen und zersplitterten Produktionsmittel in gesellschaftlich konzentrierte … des zwerghaften Eigentums vieler in das massenhafte Eigentum weniger.“ Und wenn er weiter von der „Expropriation der großen Volksmasse von Grund und Boden und Lebensmitteln und Arbeitsinstrumenten“ schreibt, dürfen wir heute noch „Daten“ hinzufügen. (Marx-Engels-Werke, Bd. 23, S. 789f)
Und wie gilt das erst für den Fahrdienstleister Uber, den es ohne (→) Google Maps ebenso wenig gäbe wie den Routenplaner von Maps ohne die von Google extrahierten Bewegungsdaten unzähliger Taxifahrten. Mit Google und Uber hat sich also das Taxigewerbe selbst kannibalisiert. Bei Marx liest sich das so: „Das selbsterarbeitete, sozusagen auf Verwachsung des einzelnen, unabhängigen Arbeitsindividuums mit seinen Arbeitsbedingungen beruhende Privateigentum wird verdrängt durch das kapitalistische Privateigentum, welches auf Exploitation fremder, aber formell freier Arbeit beruht.“
V
Verhaltensforschung
Wer die Bibliothek des Grimm-Zentrums der Humboldt-Universität nutzen will, muss zuvor Mantel, Tasche usw. in der Garderobe abgeben. Die Kontrolle dieser Maßgabe erfolgt durch einen privaten Wachschutz. Die Türen der Grimm-Bibliothek sind nun aber noch andere. Sie bestehen aus Schließfächern, die wie Goldstaub limitiert sind. Es lässt sich nicht schöner oder anders sagen. Denn Säle hat die Grimm-Bibliothek keine; gewaltigen Raum verschwendet sie indes an eine Leere, die, über mehrere Etagen, von sogenannten Leseterrassen gesäumt wird – eine Art atrium, aber gedehnt, und entschlossen auf die Seite gekippt. Das Gefäß einer Metaphysik, eine Erfahrung gewordene Metapher, die darum zur Gewissheit wird, weil sich vor den Schließfächern tagein tagaus Warteschlangen erfolgreich vereinzelter Einzelner bilden, die sich hier auf den Kampf ums Dasein vorbereiten. Oder M/W/D macht es sich gleich bequem in der großen Cafeteria des wie eine Lage Wrighleys in die Breite gezogenen Foyers. Manchmal geht hier ja sogar das WLAN; weil, mit print arbeiten ist eh outdated, irgendwie; ein epistemisches Muster, dem hier allerdings die eisige Hand eines vollends entwickelten heimlichen Lehrplans begegnet. (s.a. → Poller)
W
Wahrscheinlich
Wahrscheinlich stellt das „Europaviertel“ (→ Quartier) genannte Areal nördlich des Hauptbahnhofs einen weiteren Höhepunkt eines, nun ja, eher allgemeinen kulturellen Stillstands dar. Endlich mal Häuser, die nicht so aussehen, als wären sie alle von überaus findigen Baumeisterlein mit derselben software gerastert worden, sondern: Die kommen gleich aus der Maschine. Dabei wusste doch schon Marx, dass, wenn auch „eine Biene durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister beschämt, sich auch noch der schlechteste Baumeister vor der besten Biene dadurch auszeichnet, daß er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut.“ (mew 23, 193) In Wachs bauen. Da sind wir heute weiter. Wir haben Silikon.
X
Einunzwanzigster Buchstabe des lateinischen Alphabets der Antike und (horizontale) Koordinate im Koordinatensystem des zweidimensionalen Raums, s.a. → Cartesius, Y
Y
Zwanzigster Buchstabe im griechischen Alphabet und Ordinate im Koordinatensystem des zweidimensionalen Raums, s.a. → Cartesius, X
Z
Zeit
Bedingung der Möglichkeit von Anschauung, wie Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft darlegt, die zweite wäre: Raum.