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Clemens von Wedemeyer
Gespräch
2024:November //
Chat, Clemens von Wedemeyer
Clemens von Wedemeyer / 2024:November
Chat: Lieber Clemens, war das bei euch auch so: die erste Theateraufführung der Kleinsten in der Kita und alle Eltern halten ihre Kameras in die Luft, um das aufzuzeichnen? Das Licht ist schummrig, später wird man im Video kaum was erkennen. Sie sehen die Aufführung auf dem Display, zweidimensional, während sie sie in der Unmittelbarkeit des Raumes verpassen. 2024 laufen die Jugendlichen beim Abi-Ball professionell ausgeleuchtet ins Bild wie Prominente, die die Bühne eines Fernseh-Studios betreten. Das wird dann für die an runden Tischen sitzenden Eltern gebeamt, damit sie sich nicht umdrehen brauchen, um ihre Kinder zu sehen und natürlich damit sie das kaufen, mittlerweile als file, wie praktisch. Besonders die erste Hälfte dieses Abends, als die Eltern noch dabei waren, war der Bild-Produktion untergeordnet. Wir hatten pro Person fast 100 Euro zahlen müssen, um dabei zu sein. Zirka 600 Leute saßen an runden, klassisch gedeckten Tischen, während nervöse Kameras um uns herum düsten, die uns (ungefragt) filmten bzw. uns die Gesichter an den anderen Tischen gigantisch aufgeblasen auf der Wand vorführten. Als es endlich Essen gab, wurden die Abiturient:innen plötzlich abgezogen. Sie hatten noch den Foto-Termin für das Gruppenbild. Also aßen wir alleine. Als sie wieder da waren, wurden im Akkord Familien-Fotos produziert usw. Dann der Kommerz.
Ich würde mit dir gerne darüber reden, was das bedeutet.
Clemens von Wedemeyer: Das Leben in Bildern. Da bist du ja anscheinend in ein Bildgewitter historischen Ausmaßes gekommen, wo die Volljährigkeit mit einem Ritual der optischen Vergrößerung und Bilderexplosion zelebriert wurde. Das Abitur als Eintritt in die Pixeloberflächen der Jpgs und mp4s … Auf Abi-Feiern, Familienfeiern und Hochzeiten werden ja eigentlich Bilder produziert, um eine Normalität herzustellen. Wer bildscheu ist, wirkt heute unnormal, auch wer ohne Social-Media-Profil auskommt. Gleichzeitig sprechen Privatbilder vor allem zu den Privaten selbst. Als ich begann Fotografie zu studieren, wollte ich erstmal die Kategorie Privatbilder aus meinem Bewusstsein bekommen, um mich zunächst durch das Studium auf eine neue Art der Fotografie zu konzentrieren. Dazu habe ich Bilder und Negative von bestimmten, mir wichtigen Ereignissen in Konservendosen eingelegt und sie verschlossen, mit dem Titel Engramme. Auf die Dosen schrieb ich den Hinweis darauf, dass die Bilder in der Dose beim späteren Öffnen bei mir bestimmte Erinnerungen auslösen würden. Ich hatte immer Zweifel daran, ob das wirklich geschehen würde, aber glaube jetzt schon, dass es passieren kann, die Wirkung ist aber abhängig von der jeweiligen Zeit, in der die Neubetrachtung passiert. Die Dosen hatte ich teilweise verschenkt und eine letztens wiedergefunden. Leider waren es nicht die Bilder, die ich gerne noch einmal anschauen würde.
Ch: Time in the box. Die Zeit in der Dose ist gebannt, eingelegt, wie du sagst, weggesperrt oder sogar weggegeben. In einem befreienden Akt hast du dich von etwas entledigt. Theoretisch ist Zeit in Bildern auf Festplatten genauso in eine Box gesperrt. Vermutlich verbietet einem aber die schiere Menge an Bildmaterial, das auf eine Festplatte passt, die Festplatte aus der Hand zu geben. So eine Festplatte verlangt Respekt, gerade weil man auch immer nicht so genau weiß, was da alles drauf ist. Je größer die Datenmenge ist, desto weniger kann man sich ihrer entledigen. Wenn man das weiter denkt, wird die Ansammlung von Daten zu einem physischen Problem. Datenspeicher, die mit sehr viel Energie am Laufen gehalten werden müssen. Ein ganzer Windpark für die Foto-Alben. In mecklenburgischen Dörfern kämpft man jetzt um den Horizont.
In deinem Film Esiod 2015 (2016) hast du dich schon der Problematik der persönlichen Daten-Speicherung gewidmet. Er spielt in einer nahen Zukunft, in der die Menschen ihre Erinnerungen wie Geld auf die Bank legen. Das erschien mir total plausibel, als ich das zum ersten Mal gesehen habe. Heute muss ich sehr oft daran denken. Man gibt sein gelebtes Leben ab, wie du es getan hast mit der Dose. Dann aber geht es zumindest im Film nicht so einfach weiter. Du schneidest schon an, dass dieses Material stigmatisierend sein kann, je nachdem, wie sich die politische Landschaft entwickelt.
Cl: In welche Hände wollen wir unsere Daten geben, damit sie lange durchhalten (wenn wir das wollen)? Das ist tatsächlich eine wichtige Frage, nicht nur für Filmemacher*innen – Festplatten halten auch nicht ewig. In Zukunft werden vermutlich Sparkassen und Datenbanken fusionieren und eine Datenbank gründen, in der nicht nur materielle Werte, sondern auch private Erinnerungen gespeichert werden können, regional und nachhaltig, mit gesichertem globalen Zugang. In Esiod 2015 spiele ich mit dem Gedanken, dass man bei Verlust des Passwortes nur Zugang zu seinen Erinnerungen bekommt, wenn man einen Memory-Check absolvieren kann: also die eigenen emotionalen Reaktionen auch zum eigenen historischen Material passen. Unsere Erinnerungen definieren unsere Persönlichkeit, je nach emotionaler „Bewertung“. Im Film gibt es auch eine Andeutung auf „historische Schulden“, die über eine prekäre Erinnerungseinlage entstanden seien. Was es auch ist: Videos, Fotos, Texte und andere Medien oder digitale Objekte enthalten noch ganz anders Wissen, was über ihre Privatheit hinausgeht, wenn sie in der Masse automatisch statistisch erfasst und in der Zeit Muster erkennbar werden. Das ist das, was wir nicht haben, was nur in großen Archiven sichtbar wird: dass unsere Erinnerungen vergleichbar sind mit anderen unserer Zeit. In diesem Sinne ist das Fotoritual vom Abitur eine soziale Vergewisserung, zur gleichen Zeit am gleichen Ort gewesen zu sein, als Zeitgenossin … im Erinnerungskapitalismus … welche Erinnerungen willst du speichern?
Ch: Das ist eine schwierige Frage. Kann man private Erinnerungen wegschmeißen?
Bei mir gibt es einen Koffer mit sentimentalen Reliquien auf Papier. Er lagert seit Jahren zwischen verstaubten Schuhen. Die Sachen, die da drin sind, haben nur Bedeutung für mich. In Kunstwerken ist gelebtes Leben mit enthalten. In der von hundert kommen wir immer wieder auf das Thema zu sprechen: ‚Wohin mit dem Nachlass?‘
Der Künstler*innen-Nachlass, das Werk als Heiligtum und Identität, das nach dem Tod für die Nachkommen schnell zu einem unlösbaren Problem wird, zu einer Zumutung und letzten Endes Müll. Die Vorstellung ist natürlich für viele von uns grausam.
Ich lagere die Bild-Nachlässe von drei Verwandten, die keine Künstler waren. Da sie aus dem 20. Jahrhundert sind, sind sie nicht sehr umfangreich. Hier muss ich eine Anekdote erzählen. Einmal wollte mir eine Berberin im Hohen Atlas eines der 15 Fotos schenken, die es aus ihrem Leben gab. Sie war darauf als junge Frau zu sehen. Ich konnte dieses große Geschenk nicht annehmen. Aber ich hatte längst verstanden und konnte es immer noch sehen: Sie war die schönste Frau der Welt. Im Grunde braucht es keine Bilder. Wertvolle Momente lassen sich nicht abbilden. Sie lagern in unserem diffusen menschlichen Gedächtnis und fließen bei einem, der künstlerisch tätig ist, in das Werk ein. Insofern ist das richtig: Eine Generation oder eine Epoche besitzt ähnliche Erinnerungen, die zu ähnlichem individuellen Output führen, was wir Kultur nennen.
Cl: In diesem Jahr habe ich an einer Ausstellung des Künstlerduos M+M teilgenommen: Mein Letzter Wille in den Kunstsammlungen Chemnitz und dem Casino Luxemburg. Die Ausstellung beschäftigte sich mit der Frage von Nachlässen und dem, was bleibt. Eine mir eigentlich etwas unangenehme Frage, da ich mich mit meinem eigenen Nachleben noch nicht beschäftigen wollte. So bin ich der Frage aus dem Weg gegangen und zeige dort eine Arbeit, die sich mit einer anderen Form von Zeitzyklus beschäftigt: in Against Death (2008) ist ein Mensch unsterblich geworden und ist nun mit der Realität konfrontiert, dass seine Freunde sterben werden, er aber für immer leben muss. Der Nachlass ist mit dem eigenen Nicht-Sterben-Können unerheblich … Aber bleibt es interessant, oder wird man depressiv, während um einen herum die Zukunft vergeht?
Ch: Der Nachlass bleibt im Falle der Unsterblichkeit einfach der Hausstand und zwar ein Hausstand, der ins Unendliche wächst. Da muss man dann immer anbauen. Wo kann ich den Film sehen?
Cl: https://vimeo.com/filmmaterial/againstdeath
(password: 333)
Ch: Du erwähntest im Gespräch mit der Kulturwissenschaftlerin Marie-France Rafael, dass Nietzsche so was wie eine Algorithmisierung der Geschichte vorweggenommen hat. Welche Visionen hast du vor Augen, wenn eine KI den Verlauf der Geschichte voraussieht?
Cl: Algorithmen, die für Voraussagen entwickelt wurden, stützen sich auf vergangene Daten, und zwar möglichst viele Datensätze (Big Data), nur so können sie z.B. Kaufverhalten bei amazon vorhersagen. Die Algorithmen ähneln sich. So hat man versucht, die Verteilung von Verbrechen in Los Angeles anhand von Algorithmen zu errechnen, die ansonsten für Wettervorhersagen entwickelt wurden – wie es z.B. Matteo Pasquinelli in seinem Vortrag über die „Metadata Society“ 2015 erwähnt. In jedem Fall werden durch die verwendeten Daten bestehende historische Verzerrungen und Vorurteile, auch bekannt als Bias, in die Zukunft projiziert. Diese Verzerrungen entstehen oft aus historischen Ungleichheiten und können unbewusst in die Datensätze einfließen. Wenn Algorithmen diese Daten verarbeiten, werden Vorurteile verstärkt. Nietzsche schreibt in seinem Text „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ von Kultur als Ergebnis von Geschichte, von Kultur als einem Konstrukt aus vergangenen Vorurteilen, in altem Denken verhaftet .
Ch: Geschichte setzt sich zusammen aus individuellen Narrativen. Das menschliche Gedächtnis filtert das Erlebte.
Etwas zu vergessen, kann unter Umständen heilend sein oder sogar die Voraussetzung dafür, weiter zu leben. Damit es dem Kopf nicht zu viel wird, speichert das Gedächtnis selektiv. Vieles wird im Schlaf und in Träumen „verarbeitet“. Als ich deinen Film Esiod 2015 sah, bekam ich Angst, dass diese natürliche Resilienz nicht mehr möglich sein würde, wenn systematisch „alles“ aufgezeichnet wird. Du schaust dann auf dein Leben wie in einen Horror-Film.
So eine Aufzeichnung ist erbarmungslos. Sowohl für einen selber als auch als Beweismaterial für die Justiz.
Cl: Ich mache ja ständig Bilder, auch als Gedächtnisstütze, denn ich kann später meine Sammlung nach Orten, nach Zeit oder sogar nach bestimmten Objekten durchsuchen. Auf dem eigenen Smartphone werden allerdings Tools eingesetzt, die aus der Tradition von policing (Polizeimethoden) kommen: Gesichtserkennung, Metadaten: Ort und Zeit, etc. – jetzt auch auf dem eigenen Device.
Was die Algorithmisierung der Bilder angeht: Mit jedem Foto, das ich mache, versucht die smarte Kamera ein gutes Bild zu produzieren und nutzt dafür nun auch die Hilfe von KI. Durch die Farben oder das Hinzurechnen von Bildinhalten wird alles chic, damit du es magst und dich gerne daran erinnerst – um dann das noch bessere Telefon zu kaufen. In Zukunft braucht es kaum noch ein Objektiv, um Bilder zu machen, den Rest macht die KI. Für die Firmen, wie auch möglicherweise für die Polizei, sind die Metadaten interessanter als die Bilder: Ort, Zeitstempel, Richtung der Bewegung etc. sagen viel über das Nutzerverhalten aus, wenn man es mit der Masse vergleicht … Fällt die Person aus der Reihe oder zeigt sie ein Bewegungsmuster? In Esiod 2015 hatte ich weniger die Frage nach zu vielen Bildern im Kopf als die Frage: Was passiert, wenn du deine Bilder brauchst, weil du dich erinnern willst, du aber nicht mehr rankommst? Du bist von deiner Erinnerung enteignet, weil du sie eingelagert hast, aber den Code nicht mehr weißt, oder die Gebühren nicht mehr bezahlen kannst.
Ch: Wir können beobachten, wie sich der Mensch der Maschine unterordnet. Er gesteht sich ein, dass er nicht so gut Deutsch kann wie Google, von rechnen ganz zu schweigen, dass er sich nicht mehr zurechtfindet, selbständig niemanden mehr kennenlernen kann und auch beim Marathon nicht merkt, wann der Kollaps droht.
Cl: Diese Unterordnung findet freiwillig statt und ist mit einem Gewinn verbunden: bessere Bilder, mehr Bilder – aber oberflächlich oder verstörend. So wie man Filter über die eigenen Bilder legen kann, um sie hübsch zu machen, wird man auf der anderen Seite im digitalen Raum mit einer Masse an Bildern konfrontiert, die versuchen, diese Oberflächlichkeit zu durchbrechen und zu verstören.
Ch: Daten werden gesammelt, weil man sie verwerten kann, meist kommerziell und auch für die Geschichtsschreibung.
Wenn der soziale Druck immer größer wird, dir Teilhabe und Zugänge verwehrt werden, wenn du bei Verzicht auf die Tools indirekt bestraft wirst, kann man nicht mehr von Freiwilligkeit sprechen. Wie sollen wir das System nennen? Big Data? Big Data sammelt ja nicht nur Bilddateien, sondern bald jede Bewegung von dir. Dann haben wir also das aufgezeichnete Leben von acht Milliarden Nutzer:innen. Eine Lebenszeit als digitale Datei in einem Datenbunker z. B. in der Schorfheide. Sieht aus wie IKEA. Wie viele Daten sind das in 20 Jahren? Zeit wird zu Raum.
Cl: Zum Wissen über die Freiwilligkeit: Das System heißt „Wir“, und dazu gibt es die Möglichkeit der Steuerung. Im sogenannten Überwachungskapitalismus geht es darum, Regeln zu finden, die das Nutzen und Speichern von Daten regulieren. Europa ist da vermutlich weiter als z.B. die USA, in denen die meisten der beeinflussenden Cloud-Firmen sitzen.
Ch: Ich würde gern auch die Bilder ansprechen, die die Hamas als psychologische Waffe eingesetzt hat. Sie sind in der Welt. Sie werden nicht gelöscht und richten weiter Schaden an, verletzen Seelen. Sie können praktisch gar nicht mehr gelöscht werden, weil sie sich weltweit verbreitet haben. Jedesmal, wenn eine/r draufguckt, tut es weh. So wirkt der Terror der Hamas unendlich und auf praktische Weise fort.
Sie sind Beweismaterial. In den Augen der Täter Beweise für Heldentaten, in den Augen der Opfer Beweise der erlittenen Grausamkeit und dafür, dass man angegriffen wurde. Bilder, die Gefahr laufen, geleugnet zu werden.
In diesem Fall könnte man sich sogar fragen, ob es ohne die Aussicht auf Verbreitung im Internet überhaupt zu solch drastischen Taten gekommen wäre. Digitale Tools verstärken Auswüchse von Gewalt. Das gilt ja auch für sexuellen Missbrauch oder Gewalt an Frauen.
Cl: Ich denke auch, dass hier Bilder als Waffe verwendet wurden und sehe auch eine Einschreibung von Bildern von Gewalt und Demütigung, hier von antisemitischen Pogromen. Inwiefern digitale Tools diese Tendenz noch verstärken, mag ich nicht sagen, vielleicht ist es auch nicht so relevant, da wir in einer Zeit digitaler Tools leben und kein Außen sichtbar ist. Auf jeden Fall werden die Bilder schneller verbreitet als in der Geschichte und sind potenziell sichtbar, also Beweise.
Ch: Man könnte sich auch vorstellen, dass immer eine Kamera mitläuft, wenn die Menschen eines Tages zu vergesslich geworden sein werden. Und dann ist doch die Frage, wer übernimmt die Regie für diesen Film deines Lebens?
Schließlich kommt es immer auf die Perspektive an, auf das Licht, die Blende und die Musik, die im Hintergrund läuft. Sind es die Googles, die die Regie führen werden? Inwieweit führen sie heute schon Regie?
Noch nicht mal auf ein Tor beim Fußball ist Verlass. Ein Tor, das 20 000 Leute gesehen haben.
Die autarken Fähigkeiten schwinden. Wir schrumpfen dahin zur Miniatur-Version unseres Selbst. Ein dämlicher Waschlappen werden wir. Oder ist dir das zu viel Kulturpessimismus, Clemens?
Cl: Ja, ist mir etwas zu pessimistisch, bzw. wäre es gut, bei dem Thema „Zeit“ zu bleiben.
Heißt Zeitgenossenschaft also, aus der Vergangenheit zu lernen, ohne von ihr beherrscht zu werden?
Ch: Du meinst, „Zeitgenossenschaft“ bezeichnet einen Idealzustand?
Cl: Es kommt darauf an, was man darunter versteht, also wenn’s eine Art Genossenschaft zur Zeit ist, sich um die Zeit zu kümmern – mit der Zeit in Verbindung zu stehen und zu versuchen zu verstehen. Das wäre doch nicht schlecht.
Camilla Croce nimmt das Wort „Zeitgenosse“ auseinander, indem sie es als eine spezielle Beziehung zur eigenen Zeit beschreibt, die gleichzeitig Zugehörigkeit und Distanz impliziert. Die Zeitgenossin steht nicht vollständig im Einklang mit ihrer Zeit, sondern nimmt durch einen Anachronismus eine besondere Perspektive ein. Diese „Phasenverschiebung“ ermöglicht es den Zeitgenossen, kritisch auf die Gegenwart zu blicken und eine Verbindung zwischen verschiedenen Zeiten herzustellen, wodurch die Gegenwart neu interpretiert und aktualisiert wird.
Ch: Das ist das Thema der Verantwortung. Die Welt mitzugestalten ist der wesentliche Sinn von Kunst. Das „etwas bewirken“, so abgegriffen es klingt, gehört zum Selbstverständnis der meisten Künstler*innen. „Selbstwirksamkeit“ ist ein Mode-Wort, das, nicht nur für die aus der Kreativwirtschaft etwas bezeichnet, das einem Leben Sinn gibt. Ein Resonanz-Raum, in dem du selbst vorkommst, ist total wichtig. Selbstwirksamkeit brauchen irgendwie alle.
Dieses Wort wird so beansprucht, weil unsere Zeitgenossen im Akkord mit neuen technologischen Instrumenten konfrontiert sind, die sie überflüssig machen. Andreas spricht in seinem jüngsten Film Tatsächlich lese ich gerne Zeitung (2024) von Umbrüchen, die stärker in das Leben eingreifen würden als alle Umbrüche zuvor. Es geht ihm da auch um den Raum, von dem wir quasi getrennt werden, wenn wir auf das Smartphone schauen. Keiner ist mehr wirklich da.
Christian Schwarzwald