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Time and Again
Thesen, Fragen und Feedback zum Thema „Zeit“
2024:November //
Studierende der Kunstakademie Münster
Time and Again / 2024:November
von Chu Chun Hsu, Ernesto Kettner, Jakob Mönch, Leah Morawe, Lisa Nachtmans, Jan Prahm Miró, Jacks Richtering und Malin
Johanna Schlebusch
Die folgende experimentelle Textcollage, die aus Künstle-
r*innen-Sicht ganz verschiedene Perspektiven und Ideen zum Thema „Zeit“ und zur Art des Darüber-Schreibens aufgreift, entstand bzw. entwickelte sich in den Semesterferien im Herbst 2024 in freier (Zusammen-)Arbeit und in vier Online-Meetings der Gruppe mit der Dozentin Barbara Buchmaier im Anschluss an das Seminar „Über mich. Schreiben über die eigene Arbeit“ an der Kunstakademie Münster. Acht Studierende aus unterschiedlichen Semestern und künstlerischen Klassen: Chu Chun Hsu, Ernesto Kettner, Jakob Mönch, Leah Morawe, Lisa Nachtmans, Jan Prahm Miró, Jacks Richtering und Malin Johanna Schlebusch formulierten jeweils ganz individuell eine These oder Frage zum Thema Zeit. Anschließend entstand dazu Feedback. Jede*r Mitschreiber*in sollte auf ein bis drei der Ausgangs-Thesen/-Fragen reagieren.
Zeit ist abstrakt und wird begreifbar, indem man sie misst und das dokumentiert. Das kann man dann zum Beispiel Geschichte nennen. Je öfter eine bestimmte Zeit in die Geschichte eingeht, desto mehr dehnt sie sich aus und weicht möglicherweise von ihrer tatsächlichen Dauer ab. (Jan Prahm Miró)
Antworten:
Tatsächlich kann die subjektive Wahrnehmung historischer Ereignisse deren gefühlte Dauer beeinflussen. In Zeiten großer Veränderungen passiert oft mehr als in einer kürzeren Spanne. Aber auch abseits der großen historischen Bühne kennt jede Person wahrscheinlich das Gefühl, dass eine Rückfahrt sich kürzer anfühlt als eine Hinfahrt. Einfach, weil man die Dauer und die Strecke der Reise schon kennt. Oft scheint durch die reine Fülle an Informationen ein Ereignis in unserer Erinnerung länger anzudauern als die tatsächliche, messbare Zeitspanne. Doch auch die wiederholte Erzählung trägt dazu bei: Je öfter Geschichten über bestimmte Zeiträume erzählt und wiederholt werden, desto mehr verändert sich die Erinnerung, und um so mehr verändert sich auch die Zeit, die das Erlebte oder Verlebte andauert. (Jakob Mönch)
Deine These bringt mich gedanklich ein bisschen zu einem Dilemma, das mich in letzter Zeit beschäftigt. Irgendwie brauchen wir das Nachdenken über eine Erinnerung ja, das Einkategorisieren von Eindrücken, das Definieren von Beziehungen und das Abklären von Fragen. Manchmal bin ich mir aber nicht so sicher, ob mir dieses Nachdenken wirklich Klarheit gibt.
Ja, wenn Geschichten über Erfahrenes erzählt werden, befinden wir uns in einer statischen Form, in der Erzähltes Geglaubtes ist, aber im Kopf sind Gedanken häufig viel freier. Ich weiß gar nicht, wohin ich da komme und wie ich Sachen wirklich ordne und definiere, erst recht viel später nicht. Es ist viel assoziativer. Es geht ganz schnell, aber es muss auch ausgehalten werden. (Lisa Nachtmans)
In Schulbüchern wird die Geschichte meist linear mit vorhergehenden und nachfolgenden Beziehungen dargestellt. Diese Art der Darstellung von Geschichte ist der größte gemeinsame Nenner im Gedächtnis der Menschen, die in einer Region leben.
Die Beobachtung von Geschichte und das Schreiben von Geschichte(n) im Kunstschaffen sind eine Rekonstruktion des Pfads zurück in die Vergangenheit und eine Ausarbeitung einer Denkschrift der Geschichte. Dieser Pfad ist immer „zwischen“ einer Zeit und einer anderen Zeit, besteht aus mehreren Perspektiven und Räumen und hat eine Art von Gleichzeitigkeit.
Die Räume und Ereignisse, die in diesen rekonstruierten Pfaden erwähnt werden, finden zwar oft im realen Raum statt, sie sind aber nicht räumlich begrenzt und haben eine durchdringende Qualität. (Chu Chun Hsu)
Ein Geburtstag wurde schon 22 Mal gefeiert; inzwischen ist er auf mindestens 22 Tage angewachsen. Ein Geburtstag wurde schon 22 Mal vergessen; er schrumpft jedes Mal ein wenig. Ein Geburtstag wurde schon 22 Mal geplant; er dehnt sich jedes Jahr ein Stück weiter aus.
(Malin Johanna Schlebusch)
Meinen morgendlich-frischen Ingwertee gieße ich immer wieder auf. Die allmähliche Geschmacksreduzierung bestimmt meine tägliche Zeitwahrnehmung.
Wie würde ich in Minz-Zeit leben; oder in Lavendel-, Kamille- oder Süßholz-Zeit?
(Malin Johanna Schlebusch)
Antwort:
Wohin man immer geht. Früher bin ich die meiste Zeit zur Schule gegangen, jeden Tag einen Berg heruntergelaufen, an der Tankstelle und am Krankenhaus vorbei zu dem roten Gebäude.
Vielleicht ähnlich zu deinem Tee-Trinken.
(Leah Morawe)
Die beste Zeit hab’ ich beim Rauchen.
(Lisa Nachtmans)
Antworten:
Die Zigarette raubt Luft und verschafft Zeit.
Wie haben sich die Gespräche bei Abendrunden in Lokalen durch die zuverlässig zerschneidenden Raucherpausen („Ich-geh-mal-vor-die-Tür“) verändert?
(Jan Prahm Miró)
Am Anfang, allein und zusammengekauert im Bett. Die allererste Zigarette gerade erst beendet. Kurz davor zu kotzen und der Kreislauf ist am Zusammenbrechen. Aber dann wurde es ganz schnell langsam besser. Jede freie Minute im Automatismus, gefangen, die nächste anzünden. Mittendrin und fast immer in Gesellschaft, entspannte Tage und verplante Nächte. Stille, die nie unangenehm war, gefüllt mit dickem Rauch. Am Ende wider Vorsätze. Verschieben und Drang zu unterdrücken, noch einmal zu fragen. Jetzt wieder mal zwei Monate ohne. Pause vom Stress gibt es bei der Arbeit nicht mehr. Aber ja, ich hatte eine gute, unbeschwerte Zeit. Eine, die so gut war, dass es nicht so leicht ist, damit aufzuhören. (Jacks Richtering)
Ich rauche nicht, aber würde gerne. Deine These lässt mich an den Film Der Rausch (2020) von Thomas Vinterberg denken. Vier Lehrer an einer dänischen Schule beginnen Alkohol zu trinken – ein Versuch, ihre verflogene Lebensfreude wieder zu gewinnen. Der Regisseur sagt, dass der Film das Verlieren von Kontrolle im Leben thematisiert
(unter: https://www.ndr.de/kultur/film/Der-Rausch-Hintergruende-zum-Oscarpreistraegerfilm-aus-Daenemark,
derrausch108.html, Zugriff am 6. Oktober 2024).
Für mich unterstreicht der Film, dass Momente der Einfachheit und Leichtigkeit im Leben manchmal schwer zu erreichen oder zu sehen sind. Mir kommt es vor, als läge die Einfachheit eher in der Zugewandtheit zu den Dingen – in dem durchsichtigen Rosa eines Brillengestells und vor allem in der Teilhabe an den Gefühlen und Ansichten anderer Menschen. (Leah Morawe)
Meine einfachsten Momente habe ich im Rausch.
(Jakob Mönch)
Um der Konfrontation mit ungenutzter Zeit und Langeweile zu entfliehen, haben wir gelernt, uns ständig zu berieseln. In Momenten der Ruhe bleiben Kreativität und Reflexion. (Jacks Richtering)
Antwort:
Ich glaube, dass das einer der wesentlichen Punkte in der Beschäftigung ist, die wir in unserem Kunststudium erfahren. Zeit, Ruhe und Langeweile sind Instanzen, die ausgehalten werden müssen und die ein Maß an Auseinandersetzung und Arbeit einfordern. Sie sind Güter, die man sich leisten können muss; irgendwie suchen wir uns aber auch Wege, damit sie da sind und im Endeffekt ist alles ein großes Spiel. (Lisa Nachtmans)
„Nostalgia is hope pointed backwards.“ Dieses Zitat der Youtuber:in Contrapoints aus dem Video Tangent: Liminal Spaces (16.06.2023) interessiert mich, weil ich abstrakte nostalgische Gefühle in unserer und auch in anderen Gesellschaften zu einem gewissen Teil für die aktuelle konservative bis rechts-radikale Stimmung verantwortlich mache. Anstatt Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu projizieren, wird die Vergangenheit verklärt und als einfacher bzw. schlicht positiver abgestempelt. (Jakob Mönch)
Antwort:
„Hope pointed backwards“ klingt griffig und plausibel. So oder so ähnlich habe ich es auch gelernt; keine Sentimentalitäten, immer vorwärts und noch schneller, weiter, weiter. Also beschleunige ich und nähere mich schließlich der äußersten Spur, die auf Schildern als „für Akzelerationist*innen“ ausgewiesen ist. Ich schaue hinüber und versuche, in den Gesichtern der rasend Fahrenden Zweifel wahrzunehmen. Den scheint es nicht zu geben, nicht bei dem Tempo. Manche kommen flott von links eingelenkt und biegen irgendwann rechts ab, auf eine andere Spur, die unter derselben Bezeichnung läuft. (Jan Prahm Miró)
„Die Bürde des weißen Mannes“! Schon 1899 war sich Rudyard Kipling unserer Pflicht bewusst, uns in den Dienst der Anderen zu stellen. Die Anderen, halb Teufel halb Kind, waren zu bessern und zu schützen. Für unser Opfer können wir keine Dankbarkeit erwarten. Obwohl schon 1911 im Journal of Race Development auf die „Contribution of the Negro to Human Civilization” hingewiesen wurde, fragt sein direkter Nachfolger 2024 trotzdem: „Can America Save the Liberal Order?“ Dieser Nachfolger ist eine der drei einflussreichsten Zeitschriften für westliche Außenpolitik – die Bürde des weißen Mannes währt ewig!
(Ernesto Kettner)
(Keine Antwort)
„Wir alle sind unterschiedlich gestimmte Stimmgabeln, auf sich selbst gestimmt, aber ohne bekannte Frequenz.“ (Eva Meyer, 2023, mit Bezug auf J.-L. Nancy) Wie stimmen wir unseren Lebensrhythmus aus der subjektiven Zeit und aus der gesellschaftlichen Zeit?
(Chu Chun Hsu)
Antworten:
Hey danke für die These, ich antworte dir später in Ruhe! Wie stimmen wir eigentlich unseren Gesprächsrhythmus aufeinander ab? Während einige Gedanken Umwege nehmen, wollen andere bereits am Ziel sein. So führen wir Gespräche mit einer Art Zeitverschiebung. Doch warum erkennen wir diese nur im geografischen Kontext an? Schriftliche Kommunikation wählen wir als mögliche Lösung, um immer wieder einen gemeinsamen Rhythmus des Austausches zu komponieren. (Malin Johanna Schlebusch)
Wenn wir miteinander eingestimmt sind, überein-stimmen, auf gleicher Frequenz laufen – sind wir dann zur richtigen Zeit (am richtigen Ort)? Und bündeln sich dann an bestimmten Orten gewisse Frequenzbereiche (eine Art Magnetismus)? Interessant kann es an den Stellen der Berührungen/Überschneidungen werden, wenn sich das asynchrone Stolpern in einen tanzbaren Rhythmus eingliedert. (Jan Prahm Miró)
Unser persönlicher Rhythmus und die gesellschaftlichen Zeitstrukturen sind oft nicht synchron. Der Takt, der uns ausmacht, geprägt von privaten Zyklen und individuellen Vorlieben, steht oft im Konflikt mit den Zeitstrukturen unseres Umfelds, Arbeitszeiten, sozialen Verpflichtungen und kulturellen Erwartungen. Vielleicht liegt die Kunst darin, dennoch beides behutsam aufeinander abzustimmen, ohne die eigene Frequenz zu verlieren (wenn man diese überhaupt kennt). Mit den Menschen um uns – und insbesondere mit uns selbst – zu harmonieren und in Resonanz mit der Umwelt zu bleiben, ist eine Aufgabe, die, so denke ich, ein Leben lang andauert. (Jakob Mönch)
Arbeit – Geld – Freizeit
Sterben
Nicht genug Zeit haben
Zeit gibt es auch ohne
Unsere Messung
Wie kann man Zeit umformulieren?
Angst vorm schnell Alt-Werden
Merkspruch: Alt sein ist nicht Hässlich-Sein!
Meine Eltern werden wahrscheinlich vor mir gehen
Ich werde sie vermissen (Leah Morawe)
Antworten:
Arbeit – Geld – Freizeit
Freizeit ist teuer
Sterben
Wiederbeleben
Nicht genug Zeit haben
Nicht genug Geld haben
Zeit gibt es auch ohne
Unsere Messung
Ein Zeithalter ist eine Zigarette, ein Apfel, Sonnenblumenkerne, eine Tasse Tee, ein Musikstück
Wie kann man Zeit umformulieren?
Formulierung 1: kontinuierliche Aktionen (für Menschen)
Formulierung 2: Zusammenhaltung des Geschehenen
Angst vorm schnell Alt-Werden
Angst davor, in der Erinnerung zu leben
Merkspruch: Alt sein ist nicht Hässlich-Sein!
Merkspruch: Alt sein ist nicht Hässlich-Sein!
Meine Eltern werden wahrscheinlich vor mir gehen
Ich werde sie vermissen
Ich werde die Erinnerung an sie vermissen
Vermissen – der Zustand einer Gegenwart der
Vergangenheit (Chu Chun Hsu)
Listen to: Birth, School, Work, Death, The Godfathers, 1988 ;-) (Lisa Nachtmans)
Christian Schwarzwald