Bericht zur Lage der Palliativen Wende*

2025:Juni // Olav Westphalen

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06-2025

*Basierend auf einer Ansprache anlässlich der ‚End Expo‘, der ersten Verbrauchermesse für Sterbliche, im Bauhaus Museum Dessau im Mai 2024

Die moderne westliche Medizin lässt sich in zwei Kategorien einteilen: kurative und palliative Medizin. Die kurative Medizin macht zirka 98 % des Feldes aus. Sie löst Probleme, lässt sie verschwinden (auch wenn sie diese manchmal nur verschiebt). Die Palliativmedizin tritt auf den Plan, wenn die kurative Behandlung am Ende ist. Sie akzeptiert unlösbare Probleme als unlösbar. Sie versucht, sich ihnen anzupassen, Leid zu lindern und Wege zu finden, auch unter schwierigen Umständen bis zum Ende so gut wie möglich zu leben. Angesichts der vielfältigen existenziellen Risiken, die uns in den kommenden Jahrzehnten weltweit ebensolche, schwierigen Umstände bescheren werden, scheinen Anpassung und Linderung auch als gesellschaftliche Strategien nützlich zu sein.
Ein erheblicher Teil der zeitgenössischen Kunst, besonders solche, die sich auf institutionelle Förderung und Stipendien stützt, möchte dazu beitragen, die Probleme der Welt zu lösen. Und das wird auch explizit von ihr erwartet. Eine solche Kunst könnte man daher als kurativ bezeichnen. Ob sie diesen Einspruch einlösen kann, wird selten gefragt. Die Palliative Wende schlägt einen anderen Weg vor. Sie ist ein Gedankenexperiment, eine Was-wäre-wenn-Frage. Was wäre, wenn die Kunst ihren Heilungsanspruch aussetzen würde? Wenn die Produktion von Kunst und Kultur nach palliativen anstelle von kurativen Prinzipien geschehen könnte? Der ‚Palliative Turn‘ ist also eine Aufforderung an Kunstschaffende, mit dem aufzuhören, was ihnen zur Gewohnheit geworden ist. Oder wie es der Komödiant Will Rogers vor rund hundert Jahren ausdrückte: „Wenn man in einem tiefen Loch festsitzt, sollte man zuerst einmal aufhören, zu graben.“ Der Rat, mit dem Graben aufzuhören, ist natürlich keine Lösung, aber er ist eben auch kein falsches Versprechen.
Die lose Gruppe von Personen, die die Palliative Wende vor einigen Jahren formuliert hat, ist sich über vieles uneins. Was sie verbindet, ist ein Unbehagen gegenüber der Scheinheiligkeit in der Kunstwelt, gegenüber der Leichtigkeit, mit der Kulturtourismus, Art-Washing, Finanzgeschäfte als ‚Gutes tun‘ verbrämt werden. Überall können wir beobachten, wie die Kunstwelt reflexhaft immer wieder auf ihre erprobten Standards zurückfällt. Wenn etwas nicht funktioniert, ist die Antwort in der Regel „More of the same!“. Anstatt das, was man macht, infrage zu stellen, fordert man sich und andere auf, die Anstrengung zu verdoppeln. Dieses Phänomen gibt es natürlich nicht nur in der Kunst. Das gut gemeinte ‚More of the same‘ gibt es zum Beispiel auch in der Naturwissenschaft.

(Bild 01) Dies ist die Keeling-Kurve, benannt nach dem Klimaforscher Charles David Keeling. Sie bildet die kontinuierlich zunehmende Kohlendioxidkonzentration in der Erdatmosphäre von den späten 50er-Jahren bis in die Gegenwart ab. Ihre temporären Schwankungen oszillieren um eine Achse, die diagonal aufwärtsführt.

(Bild 02) Hier sieht man die Anzahl der wissenschaftlichen Arbeiten, die in den verschiedenen UN-Berichten zum Klimawandel zitiert wurden. Für den ersten Bericht, der 1993 herauskam, wurden 1.697 Arbeiten zitiert. Im aktuellen Bericht, der 2025 fertiggestellt werden soll, werden zwischen 270.000 und 330.000 wissenschaftliche Arbeiten zitiert, eine kaum vorstellbare menschliche und intellektuelle Leistung und einzigartige zivilisatorische Anstrengung, das Dilemma, in dem wir uns befinden, besser zu verstehen.

(Bild 03) In der dritten Illustration habe ich die beiden Diagramme ohne jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit über­einandergelegt. Das ist ein vollkommen unzulässiger Umgang mit Daten, der aber dennoch zeigt, dass diese monumentale Forschungsleistung die Zunahme der Kohlendioxidkonzentration nicht im Geringsten beeinträchtigt hat. Trotzdem ist anzunehmen, dass viele der verantwortlichen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fest daran glauben, etwas Gutes zu bewirken. Die Palliative Wende macht mit solchen schmeichelhaften Illusionen Schluss. In diesem Sinne ist sie grausam. Aber natürlich fordert sie nicht, dass wir aufhören zu forschen. Sie will bloß die selbstgenügsame Behauptung untergraben, dass solche Forschung automatisch Gutes tut. Es gibt genügend andere Gründe weiterzuforschen, wie z. B. Wissensdurst, die Freude an elegant konzipierten Experimenten, Entdeckerstolz, Liebe zu Laborgeräten usw.

Im Jahr 2020 verfasste eine mehr oder weniger zufällig in Berlin zusammengekommene Gruppe von Personen, die sich als ‚palliatively curious‘ bezeichneten, gemeinsam ein Manifest. Es geistert seither durch die Randbezirke der zeitgenössischen Kunst

Kurz darauf gründeten wir gemeinsam die Association for the Palliative Turn (APT). Viele, die seitdem daran mitgewirkt haben (circa 75 Personen), kommen aus dem Kunst- und Kulturbereich, sind KünstlerInnen, DesignerInnen, KuratorInnen. Allerdings waren von Anfang an auch WissenschaftlerInnen, PalliativmedizinerInnen, eine holistische Naturheilerin, ein Stand-up-Comedian und ein Philosoph dabei. Seit fast vier Jahren arrangieren wir Ausstellungen, Symposien und Performances. Wir haben die erste Nummer einer eigenen Zeitschrift herausgegeben und an Biennalen und internationalen Gruppenausstellungen teilgenommen. Einzelne von uns haben, sowohl im Kunstkontext als auch vor wissenschaftlichem Publikum, Vorträge über die Palliative Wende gehalten. Kasia Fudakowski und John-Luke Roberts haben für das Edinburgh Fringe Festival palliative Comedy-Shows inszeniert, Lydia Roeder ist mit ihren therapeutischen Klangkörpern in Theatern und Konzerten aufgetreten. Die APT bietet palliative Evaluationen für Firmen, Kulturinstitutionen, aber auch für Kunstwerke und Alltagsobjekte an. Und zuletzt haben wir eine dreitägige Verbrauchermesse zur Palliativen Wende organisiert. Es gibt mittlerweile APT-Gruppen in Berlin, Stockholm, London, Bremen. Abgesehen von unserem Manifest haben wir nie ein Programm oder Richtlinien für die APT formuliert. Wahrscheinlich gibt es so viele unterschiedliche Interpretationen des Palliative Turn, wie wir Mitwirkende haben. Wir sind auch keine formalisierte Organisation, es gibt keine offizielle Mitgliedschaft. Aus juristischer Sicht ist die APT bloß ein Spiel.
Aber was haben wir aus diesen gemeinsamen Aktivitäten gelernt? Zum einen wohl, dass es alles andere als einfach ist, eine wirklich palliative Haltung einzunehmen, anstatt sie bloß zu thematisieren. Es gibt reale – externe wie interne – Widerstände dagegen. Einer der zentralen Sätze unseres Manifests ist: Business as usual has nothing to ­offer ­anymore. Trotzdem hat es sich genau wie Business angefühlt, sobald wir uns mit institutionellen Zeitplänen und Budgets befassen mussten. Hört die palliative Haltung plötzlich auf, wenn die Arbeit beginnt?
Für manche Mitglieder war die organische Art, in der die APT gewachsen ist, über Freundschaften, zufällige Begegnungen, Mundpropaganda, zu undurchsichtig. Wir haben daher versucht, transparente Strukturen für Entscheidungsfindungen und Kommunikation zu entwickeln. Da die meisten von uns keine Erfahrung im Aufbau von Künstlervereinigungen haben, gingen wir so vor, wie alle anderen: bürokratisch. Wir bildeten Arbeitsgruppen, erstellten Excel-Tabellen, die keiner las, und versuchten Arbeitsabläufe zu formalisieren. Für eine Gruppe von (vorwiegend) KünstlerInnen ohne große Organisationserfahrung haben wir das einigermaßen hinbekommen. Aber es hatte seinen Preis. Einige haben sich zurückgezogen, weil sie sich nicht mit dem neuen, administrativen Ton anfreunden konnten. Sind dies normale Wachstumsschmerzen oder Irrwege? Sind es Schritte auf dem Weg zu Organisationsformen, die mit palliativen Kriterien übereinstimmen? Oder lassen sich bestimmte Dinge und Qualitäten nicht skalieren und vereinfachen, und man sollte es daher gar nicht erst versuchen? Ist es möglich, eine Institution zu spielen, ohne dabei wirklich eine zu werden? Das versuchen wir gerade zu verstehen.
Trotzdem gab es viele Situationen, die sich positiv vom Kunstbetrieb, wie die meisten von uns ihn vorher erlebt hatten, abhoben. Bei den APT-Gruppenausstellungen, fehlte etwas, das eigentlich zu allen Gruppenausstellungen fest dazugehört. Es gab kein territoriales Gedrängel, kein Reviermarkieren unter den TeilehmerInnen. Und es fand ein Austausch zwischen KünstlerInnen und Nicht-Künst­lerInnen statt, bei dem die Beiträge aller, d.h. Gemälde, Videos, Skulpturen, Klimaforschung, palliative Pflege, Bestattungsberatung usw. als Arbeit von gleicher Bedeutung behandelt wurden. Das eine war nicht das Material oder die Illustration für das andere. Infolgedessen hatten unsere Gespräche eine andere Qualität. Sie waren thematisch schwierig („deathy“ war ein wiederkehrender Ausdruck für die vorherrschende Stimmung), aber auch sehr aufrichtig. Generell herrschen innerhalb der Gruppe eine Großzügigkeit und Kooperationswilligkeit, die nicht hoch genug eingeschätzt werden können. Auch das keine Selbstverständlichkeit in der Kunstwelt.
Unser erstes Symposium in Berlin fand 2020 unter Maskenpflicht statt. Das machte es in praktischer Hinsicht schwieriger, aber es bedeutete auch, dass wir unser Manifest in eine Kunstwelt entließen, in der Begriffe wie Fürsorge und Pflege plötzlich eine zentrale Rolle spielten, und die entsprechend offen war für unsere Fragen. Es gab eine kleine Welle von Ausstellungen mit palliativem Thema, die aber bei genauerem Hinsehen etwas anderes wollten als wir. Der APT geht es vor allem darum, palliative Werte und Prinzipien auf unser eigenes, kurativ dominiertes Metier, das Kulturschaffen, zu übertragen. Und wir sind weniger daran interessiert, das Palliative als Thema, als Material in die Kunst zu importieren.
Die Palliative Wende wurde vor dem Hintergrund der Klimazerstörung konzipiert. Dieser Hintergrund ist komplexer geworden. Andere existenzielle Risiken – die nach wie vor gigantischen Atomwaffenarsenale, kommende Pandemien, auf die wir noch schlechter vorbereitet sind als auf Corona, oder die gerade explodierende KI-Revolution – sind in den Vordergrund getreten und erscheinen zurzeit als die wahrscheinlicheren und schnelleren Auslöser für ein nicht mehr ganz unwahrscheinliches, baldiges Ende menschlicher Zivilisation. Was bedeutet es, zu einer palliativen Wende aufzurufen, während um uns herum Krieg herrscht und unsere eigene Kultur durch extreme Polarisierungen zerrissen wird? Wir sind noch nicht dazu gekommen, das zu für uns zu klären (vielleicht wegen der Excel-Tabellen).
Ob die APT als Gruppe weiterwächst oder nicht, wird sich zeigen. Sollte sie langsam entschlafen, wäre das ja auch nur passend und etwas, gegen das man sich nicht groß stemmen sollte. Davon abgesehen scheint mir eine palliative Wende im Allgemeinen, ein Abwenden von Wachstums- und Machbarkeitsformeln noch wichtiger als vor vier Jahren.
Lassen Sie mich diese Ausführungen mit einem Zitat aus einem Text meines engen Freundes, des amerikanischen Künstlers und Autors Peter Rostovsky, beenden. In seinem „Letter to a Traveler“, den er in der Hoffnung schrieb, dass er eines Tages von einem Bewohner der fernen Zukunft gefunden wird, sagt er:
„Was kann ich Ihnen über unsere Zeit und die Welt, in der wir leben, sagen? Es ist eine merkwürdige Zeit, und noch merkwürdiger für uns, die wir uns mit der speziellen Frage der Kultur abmühen. Vielleicht hat dieses Wort für Sie keine Bedeutung. Aber für uns ist es immer noch eine große Verantwortung … die Sorge um den subtilen Körper der Gesellschaft … Viele sehen diesen als gefährdet, bedrängt von Machtgier und dem Streben nach Geld … falls es das in Ihrer Zeit noch gibt. Unser Zeitalter ist schwierig und aufregend. Wir sind zerrissen von Kriegen, wirtschaftlichen und ökologischen Krisen und einem allgemeinen Gefühl des Zusammenbruchs. Die Welt geht unter, die Natur endet und verlässt uns. Doch gleichzeitig gibt es große und beschleunigte Erfindungen. Wir sind mitei­nander verwoben, miteinander verbunden, wir sind uns der Kämpfe der anderen bewusst. Wir teilen die Menschheit in zwei Gruppen, in diejenigen, die die Mittel haben, sich an dieser Erde zu erfreuen … sogar in ihrem Niedergang … und diejenigen, die dazu verdammt sind, bis zum Ende zu leiden. Etwas scheint unmittelbar bevorzustehen … eine soziale Katastrophe … und doch wird sie in Schach gehalten. Wir sind eine Zivilisation, die zu träumen wagt, die aber so sehr an ihrem Schlaf hängt, dass wir uns nur selten entscheiden aufzuwachen.“






Foto: Nadine Dinter, Dreifaltigkeitsfriedhof, Berlin, 2023
APT-Manifest, Simon Blanck, Kasia Fudakowski, Annemarie Goldschmidt, Lars-Erik Hjärtström-Lappaleinen, Nina Katchadourian, Keith Larson, Mathias Lempart, Marit Neeb, Dafna Maimon, John-Luke Roberts, Lydia Roeder, Olav Westphalen; Design: Shortnotice, Berlin