„Walden ist eine Skulptur“

Über den Projektraum „Walden Kunstausstellungen“

2024:Mai // Christoph Bannat und Reinhold Gottwald

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05-2024

Christoph Bannat: Lieber Reinhold Gottwald, wann bist Du aus Hamburg weg ?
Reinhold Gottwald: 1986.

Bannat: Wo bist Du eigentlich aufgewachsen?

Gottwald: In der Nähe der Nordsee. In den Gemeinden Albersdorf und Heide, in Schleswig-Holstein. Das Buch „Dorfpunks“ von Rocko Schamoni endet auf dem Bahnsteig in Heide so sinngemäß mit: „Alles, was vorher war, war besser als das hier!“ Ich fahre aber durchaus sehr gerne ab und zu dorthin. Da ist Heimat, Kindheit, Jugend und Erinnerung. Heide ist gerade wegen der neuen Batteriefabrik „Northvolt“ in den Medien präsent und aus der Gegend kommen die meisten Kohlköpfe, ca. 80 Millionen.

Bannat: Bei wem hast Du in Hamburg studiert, oder besser, wer hat Dich dort am stärksten beeinflusst?

Gottwald: Studiert habe ich bei Franz Erhard Walther und der hat mich auch am meisten beeinflusst. Walther vertritt einen eigenen erweiterten Kunstbegriff. Partizipativ und interaktiv bereits seit den 1960er Jahren. Walther ist ein Wegbereiter der immateriellen Kunst: „Handlung als Werkform!“
Die Hfbk Hamburg hat damals gerne Leute genommen, die noch formbar waren. Wenn man schon alles weiß, braucht man ja nicht mehr zu studieren. Ich war damals herrlich naiv, aber auch sehr neugierig. Nach einem Umweg über eine freie Klasse war ich dann bei Walther in der Bildhauerklasse. Rechts neben mir war die Klasse des Bildhauers Ulrich Rückriem, links das Büro von Jochen Hiltmann, der konsequente Kunstverweigerung betrieb. Kurz kennen lernen durfte ich u.a. Joseph Kosuth, Sigmar Polke, K.P. Bremer, Thomas Schütte, Laurence Weiner und Stanley Brouwn. Zu der Zeit öffnete der Künstler Jörg Immendorff seine Kneipe „La Paloma“ am Hans-Albers-Platz, dort hat man dann z.B. mit Martin Kippenberger, Bernd Koberling, A.R. Penck und den Oehlen-Brüdern nebeneinander am Tresen gestanden.
Die Hamburger Kunstschule pflegte eine moderne, nahezu libertäre Attitüde, aber die ganze Professorenschaft bestand in den 1980er-Jahren nur aus Männern. Da war selbst die CDU-geführte Kleinstadt Heide schon in den 1970er-Jahren weiter, die immerhin eine Frauenetage im Jugendzentrum zugelassen hat. Nach einer Menge Rabatz konnte das dann aber auch in Hamburg geändert werden.
Für mich prägende Ausstellungen waren 1982 die unter künstlerischer Leitung von Christos M. Joachimides initiierte „Zeitgeist“ im Berliner Martin-Gropius-Bau und die von Kasper König geleitete „Von hier aus“ in Düsseldorf 1984. Und natürlich auch die jeweilige „documenta“. Bei Hans Hermann Stober, einem der Kuratoren der „Zeitgeist“, durfte ich 1985 in seinem „Kutscherhaus“ am Tempelhofer Ufer einmal ausstellen.

Bannat: Kannst Du diesen Einfluss heute noch erkennen?

Gottwald: Für sinnliche Erfahrungen braucht es manchmal das Wissen anderer Menschen, die einem auf die Sprünge helfen und neue Sichtweisen ermöglichen. Bei Walther empfinde ich vor allem den Prozess- und mehr noch den Materialbegriff für meine Kunst prägend.
Ehrlich gesagt, hörte vor meinem Studium die Kunstgeschichte mit der klassischen Moderne auf. Seit meinem Studium schaue ich einen Barnett Newman, das deutsche Informel, aber auch einen Francisco de Goya völlig anders an.

Bannat: Du bist ausgebildet als Einzelkünstler, oder hast Du immer schon in Gruppenzusammenhängen gearbeitet?

Gottwald: Ich wurde als Einzelkünstler behandelt und somit auch so ausgebildet. Wir haben als Studierende mal eine Gruppe gebildet, um 1985 eine Ausstellung auf St. Pauli in einer Nebenstraße der Reeperbahn zu organisieren. Danach bekamen wir Ausstellungen in Köln und Berlin. Die Gruppe war aber keine richtige Gruppe, sondern eine Ansammlung von befreundeten Individualisten, die einen Synergieeffekt nutzten und einfach eine selbstorganisierte Gruppenausstellung realisierten.
Demgegenüber sind beispielhaft drei Gruppen zu nennen, mit denen wir bei Walden zusammengearbeitet haben. Die Gruppe „Kartenrecht“ aus Berlin, die anonymisiert in Erscheinung tritt und eventuell auftretenden Individualismus innerhalb der Gruppe korrigiert, notfalls mit Zerstörung. Die Hongkonger Medienkunstgruppe „…Ex’d…“ hingegen nutzt Anonymisierung aus politischen Gründen. Die in Dresden gegründete „Bewegung Nurr“ vertritt einen dezidiert politischen Ansatz und verschmilzt die besonderen Fähigkeiten der einzelnen Beteiligten zu etwas Neuem.
Überlegungen, meine Individualität oder sogar Identität zurückzunehmen, gab und gibt es schon. Ich habe lange in Kollektiven gelebt und mich politisch und gesellschaftlich engagiert. Aber das war Privatsache. Ich habe gute künstlerische Gründe, das von meiner Arbeit zu trennen. Das war ja der „Clou“ an unserem ersten Standort in der Kastanienallee, einem Projekthaus, das auf jeden Fall dem linken Spektrum zuzurechnen ist, dass wir dort sozusagen mit akademischer Kunst und überwiegend mit professionellen KünstlerInnen gearbeitet haben, von denen niemand ein politisches Bekenntnis ablegen musste. Wir haben gesellschaftlich entpolarisierend gewirkt. Das empfinde ich sowieso spannender als Gruppen, in denen alle die gleiche Meinung oder Sozialisation haben.
In der Projektarbeit wiederum ist es eh schöner, mit Menschen zusammenzuarbeiten und gegebenenfalls etwas im Hintergrund zu bleiben, aber in meiner Kunst habe ich größtenteils meinem Individualismus gefrönt.

Bannat: Kannst Du Deine Arbeiten kurz beschreiben?

Gottwald: Ich realisiere Rauminstallationen, in den letzten Jahren oft kombiniert mit Video auf lichtdurchlässigen Mesh-Materialien, um Bewegungen und eine zusätzliche Dimension zu generieren. Hinzu kommen Wandbilder in Innenräumen. Alles begann mit dem Zeichnen, das bis heute etwas Fundamentales für mich hat.

Bannat: Wann bist Du nach Berlin gezogen und wie kam es, dass Du hier zum Kurator, Galerist oder „Ich stelle meinen Raum zur Verfügung“-Macher wurdest?

Gottwald: Seit Januar 1987 bin ich offiziell ein Berliner und … ganz einfach, weil es machbar war! Nein, etwas komplexer war es dann doch.
Den „Weg zum braven Erfolg“1 hatte ich bereits verlassen, als ich Hamburg verlassen habe. Zu dem Zeitpunkt waren meine Kontakte in den Kunstbetrieb sehr bescheiden, aber noch existent. Ich war in Hausprojekten unterwegs, denn im Nachwende-Berlin entstandenen viele Freiräume.
Im Souterrain der Kastanienallee 86 befand sich der legendäre RAT PUB (das A natürlich im Kreis), der ab und zu mal an sich selbst scheiterte und 1993/94 in das Nachbarhaus zog. Das war der Moment, in dem mir die Räume angeboten wurden. Das Konzept, eine Projektgalerie zu machen, wurde von der Hausgemeinschaft akzeptiert.
In der Nähe entwickelte sich ein neuer Galerien-Standort im Scheunenviertel und 1991 wurden die „Kunstwerke“ in der Auguststraße gegründet. Aber: Galerien arbeiten im Wesentlichen mit einem festgelegten und überschaubaren Stamm an KünstlerInnen. Große Institutionen mit internationalem Wirkungskreis sind eher elitär ausgerichtet, um ihrem eigenen Metropolen-Anspruch gerecht zu werden. Wo andere Möglichkeiten angeboten werden, stehen diese oft in Verbindung mit einer gesellschaftspolitischen Agenda. Es gab in Berlin und an Berlin interessierte spannende und gute Künstlerinnen und Künstler, die sich weder bei den einen, noch in den anderen wiederfanden und das teilweise auch gar nicht wollten. Die Club-Kultur federte einiges ab, aber es gab einen immensen Bedarf an alternativen Ausstellungsmöglichkeiten. Das Stadtmagazin „zitty“ berichtete 1996 gerade einmal über 6 relevante Projektgalerien. Heute sind es wohl über 100. Wir waren sozusagen ein Nischenprodukt.
Schließlich war es auch nie so mein Ding, darauf zu warten, dass etwas von außen auf mich zukommt. Es ging darum, selbst etwas in Bewegung zu setzen!
Dadurch erhält man eine umfassende, intensive Kommunikation und letztendlich ging es genau um diese Kommunikation. Walden Kunstausstellungen (WK) war in erster Linie ein Projekt von KünstlerInnen, mit KünstlerInnnen, für KünstlerInnen und natürlich für die Öffentlichkeit.

Bannat: Wen hast Du ausgestellt?

Gottwald: Bei WK ging es nicht um die Präsentation eines festgelegten KünstlerInnen-Kreises, sondern um die Resultate der jeweiligen Projekte. Deswegen unser Namenszusatz „Kunstausstellungen“. Das Überraschende war uns wichtig, keine Wiederholungen. Trotzdem entwickelten sich ebenso langjährige Kontakte, wobei die besonderen Persönlichkeiten klar in den Vordergrund traten, und das war auch gut so. Zum weitaus größten Teil waren das natürlich ProtagonistInnen aus der bildenden Gegenwartskunst, aber wir waren auch interdisziplinär. Literatur, Wissenschaft, DIY-Workshops, Musik2

Bannat: Wie kam es zu den Kontakten?

Gottwald: Es gab gute existierende Kontakte, vornehmlich aus Berlin, Hamburg und Köln. Irgendwie vibrierte Berlin vor Kreativität und wirkte international anziehend. Es gab viele Räume zu entdecken und Ateliers waren noch bezahlbar.
Mein damaliger Kollege Thomas Rudolph war ein sehr guter Multiplikator und überhaupt wurde viel miteinander geredet. Danach „kickte“ sich das so gegenseitig an, quasi bei jedem Projekt lernte man neue Leute und neue Ideen kennen. Das klingt jetzt alles so schwerelos, aber es gibt keinen Grund, die Vergangenheit zu verklären, es war auch ganz schön anstrengend. Keine Zeit für Jobs, deswegen kein Geld, also brauchten wir für die erste Sanierung über ein Jahr. Trotzdem waren die Rahmenbedingungen fantastisch. Die fünf kleinen, labyrinthischen Ausstellungsräume im Souterrain hatten etwas Magisches, man konnte eine Möbius-Schleife darin laufen. Das führte dazu, dass auch KünstlerInnen bei uns ausstellen wollten, die ihren Platz im Gegenwartsdiskurs bereits gefunden hatten, was wiederum den Projekten der vielen noch unbekannteren KünstlerInnen zugutekam.

Bannat: Gab es ein Programm, einen Charakter, eine Ideenwelt, die umrissen werden sollten?

Gottwald: Wir sagten in dem zitty-Bericht von 1996: „Wir haben das Konzept, kein Konzept zu haben“, oder: „Konzept des Nicht-Konzepts!“ Das war natürlich etwas „hemds­ärmelig“ ausgedrückt, um der ganzen Konzept-Lastigkeit der damaligen Zeit etwas entgegen zu setzen. Wir hatten eine Vorliebe für Rauminstallationen! Nicht nur, weil wir selbst aus diesem Bereich kamen, sondern auch, weil die Räume das regelrecht herausforderten. Wider jeder ökonomischen Vernunft bevorzugten wir Einzelausstellungen, weil die Einzelausstellung die künstlerische Haltung, Handschrift und Intention am klarsten herausarbeitet. Aber dogmatisch waren wir dabei nicht …
Ich denke, wir hatten immer ein gutes Gespür für Tendenzen und Inhalte der Gegenwartskunst, bei gleichzeitigem Bewusstsein, dass Kunst noch etwas anders funktioniert als Pop-Kultur, eine längere Halbwertszeit bzw. Wertigkeit darf schon mal mit gedacht werden. Wie weiter oben schon mal angedeutet, wir hatten von Anfang an einen partizipativen Charakter, hier traf Ex-DDR-Heimkind-Punkerin auf Geschäftsleute, die vorher gerade im Pratergarten essen waren und alle haben sich prächtig verstanden. Wir waren offen für alle Gesellschafts- und Altersgruppen. 2005 hatten wir z.B. die alten Video- und Fluxus-Leute Ira Schneider, Emmett Williams, Ann Noël und Willoughby Sharp zu Gast3, um gleich danach ein Projekt mit ganz jungen Streetart-KünstlerInnen4 zu starten.
Es ging darum, einen offenen unabhängigen Raum zu schaffen, zur Präsentation spannender Positionen der Gegenwartskunst, für die es woanders keine Plattform gab. An die Wahl der Medien waren die Projekte nicht gebunden.

Bannat: Ich hab Dich/Euch immer als eine Art Off-Galerie, oder Off-Space gesehen – kannst Du Dich in der Bezeichnung wiederfinden?

Gottwald: Anfangs sagten wir: „Wir sind nicht ‚Off‘ wenn schon denn schon sind wir ‚Off Off Off.‘ Jede Zeit, jede Generation schafft sich ja ihre eigenen Begriffe, aber irgendwann taugen diese Begriffe nicht mehr, um die damit gemeinten Inhalte zu beschreiben. Wenn ich beim Theatervergleich, also Off- oder Off-Off-Broadway bleibe, dann treffen einige Kriterien auf uns zu. Gegründet im Keller eines ehemals besetzten Hauses, nicht direkt im Galerienviertel, aber gleich nebenan und mit nicht-kommerziellen Produktionen. Die darstellenden Künste verwenden gegenwärtig eher den Begriff „Freie Szene“, da die organisierten bzw. vernetzten Projekträume mit der „Freien-Szene-Koalition“ kooperieren, kann ich da mitgehen. Als alter Walther-Schüler könnte ich aber auch pathetisch sagen: „Walden ist eine Skulptur!“

Bannat: Wie habt ihr Euch finanziert?

Gottwald: Die Räume in der Kastanienallee wurden durch die Hausgemeinschaft ermöglicht! Wenn man so möchte, ein leuchtendes Beispiel bürgerlichen Engagements. Ansonsten haben wir gejobbt, das Übliche: Bau, Messebau, Events usw., während der Zeit in der Potsdamer Straße hatte ich einen festen Job im Kulturbereich. Die KünstlerInnen haben eine Menge investiert. Manchmal hatten sie eine Finanzierung, meistens nicht. Vielen ist gar nicht bewusst: Bis 2012 gab es keinerlei Förderung für Projekträume! Erst dann wurde der Preis zur Auszeichnung künstlerischer Projekträume und Initiativen eingeführt, den wir 2013 auch gewonnen haben. Danach war natürlich wieder Selbstfinanzierung angesagt. Die Fuldastraße in Neukölln war nur möglich, weil andere private Mittel hineinflossen, allein hätte ich das nicht mehr geschafft. Philipp Koch schrieb dann einen Bericht über uns im „Tip“-Magazin mit der folgerichtigen Überschrift: „Ein Raumwunder in Neukölln!“
Inzwischen hatte der Berliner Senat die Zwei-jährige Basisförderung eingeführt. Es hat etwas gedauert, aber für 2022/23 haben wir die dann bekommen. Die letzten zwei Jahre waren damit für alle Beteiligten schon reichlich entspannter. Dahinter wollen wir jetzt nicht mehr zurück! Man sieht es mir zwar kaum an, aber ich bin auch etwas älter geworden.5

Bannat: Die Finanzierung fällt jetzt aus – gab es eine Begründung?

Gottwald: Das ist eine geheime Jury-Entscheidung!
Eine Jury-Entscheidung ist eine Jury-Entscheidung, ist eine Jury-Entscheidung … Wir wissen über die tolle Wertschätzung, die uns international viele Menschen in den letzten 30 Jahren entgegengebracht haben.

Bannat: Wie geht es jetzt für Dich weiter?

Gottwald: Nachdem wir die Fuldastraße schließen mussten, schrieb uns Peter Hermann aus Togo: „Ich freue mich für euch. Wenn die etwas schwierige Zeit der Mischung von abgeworfenem Ballast und Trauer über Verlorenes vorbei ist, fängt was Schönes, Neues an.“
In diesen Sinne, ich lasse mir erst mal etwas Zeit, die Schublade mit den Unerledigten ist ziemlich voll. Dieses Interview ist ein willkommener Anlass zum Reflektieren! Vor Kurzem hat uns die Directors Lounge, als solidarische Reaktion auf unser Ende, auf die C.A.R. (Contemporary Art Ruhr) im Welterbe Zollverein, eingeladen. Dort war ich dann auch mal wieder als Künstler vertreten. Also es geht weiter, nur leider nicht mehr am eigenen Ort.

Bannat: Gibt es ein erweitertes Ich. Ein Du oder Wir ?

Gottwald: Die „Ich-Form“ nutze ich sowieso ungern. In den letzten fünf Jahren habe ich die Galerie gemeinsam mit ­Gisela Wrede betrieben, die ja schon davor das Projekt unterstützte. Davor waren Maike Sander, Ute Haarkötter, Hendrik Lehmann und Asim Chughtai dabei. Mit Werner Kernebeck realisierte ich Reiseprojekte mit unserer Zeichnungsreihe, usw …
Auch in den Jahren, in denen ich Walden Kunstausstellungen allein leitete, habe ich die Realisierung der einzelnen Projekte immer als Gemeinschaftsarbeit verstanden. Allein schon, weil wir als No/low-budget-Ausstellungsraum ganz andere Produktionsbedingungen hatten als die Institutionen oder Galerien. In knapp 30 Jahren ist es selten mal vorgekommen, dass uns ein Künstler als Dienstleister missverstanden hat, ansonsten war da während der laufenden Projekte immer ein WIR!

Bannat: Betrachtet man die Orte Deiner Räume, so liest sich die Verbindung wie die der Gentrifizierung Berlins. Kastanienallee, Potsdamer Straße, Fuldastraße. Fühlst Du Dich als Opfer oder Avantgardist – also einer, der vorausgeht?

Gottwald: Opfer geht ja gar nicht, ich habe alles aus freien Stücken gemacht. Ein gewisses Risiko ist beim Leben nun mal dabei. Gentrifiziert wurde ich nur in der Kastanienallee, aber erst nach immerhin 15 Jahren. Avantgardist geht auch nicht, weil das Projekt doch eher post-postmodern daherkommt. Einer der vorausgeht … ? Wenn schon, denn schon … ich habe mich sehr intensiv auf Berlin eingelassen, was mich an die Orte führte, an denen ich dann stattfand. In der Kastanienallee wurde ich mit einer Gruppe von Leuten im Dezember 1990 aufgenommen, vorher waren wir in einem Projekt in Friedrichshain. Die Kastanienallee war allerdings schon zu DDR-Zeiten etwas Besonderes. Dann kam die Dynamik der Nachwendezeit, aber schon 2008 schrieb Rudi Moser von den „Einstürzenden Neubauten“ in einer Walden-Veröffentlichung: „Es hätte eine schöne Straße werden können!“
Danach fielen wir die Leiter ja fast eine Stufe nach oben, als uns das Angebot gemacht wurde, mit in die Potsdamer Straße zu kommen. Das Angebot kam, weil die betreffenden Leute unsere Arbeit schätzten. Kurz danach wurde dort das ehemalige Tagesspiegel-Gelände zu einem Galerien-Standort entwickelt. In den Zeitungen wurden wir dann gleichzeitig mit den ganz großen Namen erwähnt, cool und lässig damals von der Berliner Presse.
Von vornherein war das allerdings eine Zwischennutzung in einem unsanierten entkernten Gewerbehof mit Verträgen über jeweils ein Jahr. Es hätte nach einem Jahr Schluss sein können, fünf Jahre wären sehr gut gewesen, es wurden drei.
Wenn ich als Jugendlicher aus Norddeutschland früher über die Bundesstraße 5 nach Berlin kam und in der Potsdamer Straße den großen „Tagesspiegel“ Schriftzug sah, dachte ich: „Jetzt bin ich in der Großstadt.“ Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Potsdamer eine große, immens bedeutsame Magistrale6, auch für Kultur und Medien. Mit dem Umzug des „Tagesspiegels“ fielen mal eben 600 Arbeitsplätze weg. Daher würde ich die Veränderungen hier ganz anders bewerten als die durch u.a. Rückübertragungsansprüche forcierte Gentrifizierung in Prenzlauer Berg, oder das was Heimstaden in Neukölln veranstaltet.
Sehr schade ist es einfach um den sehr speziellen, schönen Ort an der Ideal-Passage in Neukölln. Mit fairen Mietbedingungen und wo wir noch ewig hätten bleiben können. Neukölln hat zwar so einiges an Kunsträumen zu bieten, aber durch unsere zwei großen Schaufenster fand die gezeigte Gegenwartskunst in diesem wirklich „tough-­authentischen“ Neuköllner Kiez zwischen Sonnenallee und Karl-Marx-Straße quasi wie auf der Straße statt und nicht in der Blase. Nicht nur temporär, sondern permanent. Mit etwas Phantasie kann man sich ja ausmalen, dass zukünftige gesellschaftliche Veränderungen hier besonders deutlich zu Tage treten werden.
Wir haben dann noch darum gekämpft, den Ort als öffentlichen Kunstort zu erhalten. Das hat leider nicht geklappt.

Bannat: Staatlich gestützter Avantgardist – da wo Du hingehst, steigen demnächst die Mieten?

Gottwald: Ich habe gar keine Lust über Geld zu reden!
Ich denke auch, da muss ich Deiner Art der Fragestellung mal sehr robust widersprechen. Das impliziert, dass wir 30 Jahre Staatsgelder bekommen haben und das ist vollkommen falsch! Richtig ist, die Projektgalerie hatte 2013 einen Kunstpreis und 2023 und 24, also genau nur zwei Jahre, die Basisförderung! Die restlichen 27 Jahre finanzierten wir aus eigener Kraft und manchmal „with a little help of our friends“ wie z.B. drei bis vier Monatsmieten während der Pandemie.
Es muss hier ganz deutlich gesagt werden, dass wir uns von einigen der im Volksmund „Subventionssurfer“ genannten Akteuren ganz klar unterscheiden und abgrenzen.

Bannat: Könntest Du Dir vorstellen, dem Kunstbetrieb vollkommen den Rücken zu zeigen?

Gottwald: Wer oder was ist der Kunstbetrieb? Wer oder was definiert den Kunstbetrieb, und wer definiert, wer dazu gehört und wer nicht. Wir haben unseren eigenen Kunstbetrieb geschaffen, das war ja auch eine ursächliche Motivation für die Gründung der Projektgalerie. Unser Betriebsraum ist jetzt dicht! In der Vergangenheit haben wir viel mit anderen Kunstbetrieben kooperiert. Entscheidend sind ja immer die Menschen in diesen Betrieben, mit einigen, hoffe ich, werde ich weiterhin zusammenarbeiten.

Bannat: Könntest Du Dir Dein leben ohne Kunst, in welcher Form auch immer, vorstellen?

Gottwald: Nein!



1
Das Zitat stammt, glaube ich, von Werner Büttner. Ich bin mir aber nicht mehr ganz sicher
2
„stars on cd-r“ von Falko Teichmann, Hoffeste mit Michelé D’Alessio a.ka. Barox Mix u.v.m.
3
Danke an „Hucky“ Herpel
4
Danke an beat evolution
5
Ein Transformationsprozess (Das Generationenexperiment) war eingeleitet, aber nicht abgeschlossen. Die Bescheide für die Basisförderung 2024/25 kamen extrem spät. Wahrscheinlich lag das am Regierungswechsel. Planungssicherheit für 2024 gab es daher leider keine.
6
In dem Buch: „Die Potsdamer Straße“, von Sibylle Nägele und Joy Markert stehen die ganzen Geschichten über diese Magistrale.
Reinhold Gottwald
Walden Kunstausstellungen in der Kastanienallee 86
Walden Kunstausstellungen in der Fuldastraße
Reinhold Gottwald „RGB für Prolog“