Preview Tag 1, Dienstag, 16. 4. 2024, Israels Beitrag zur 60. Venedig Biennale bleibt hinter verschlossenen Glastüren: „Die Künstlerin und die Kuratorinnen des israelischen Pavillons werden die Ausstellung eröffnen, wenn ein Abkommen über einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln erreicht ist“, steht auf einem Schild am Eingang. Die Künstlerin Ruth Patir möchte sich auf diese Weise mit den Menschen solidarisieren, die in Israel für Veränderung stehen. „(M)otherland“ nennt sie ihre Ausstellung. Mutterland – Ein anderes Land. Die israelische Regierung wurde nicht über den Entschluss des Teams informiert, die Ohnmacht dieser folgerichtigen Geste zeigt jedoch das ständige Paradox, Künstler*innen bzw. Kunst mit Nationen gleichzusetzen, denn der Pavillon wäre bestimmt gestürmt oder angegriffen worden, wenn er geöffnet hätte. Tausende von Künstler*innen hatten bereits vergeblich versucht, per offenem Brief dessen Schließung zu erzwingen. Nun bleibt er erst mal geschlossen. Die „Art Not Genocide Alliance“ war trotzdem nicht zufrieden und erklärte auf Instagram, dass Patirs Protest eine leere und opportunistische Geste sei, die „auf maximale Presseberichterstattung abzielt“. Patir solle keine Videoarbeit als Teaser hinter den verschlossenen Glastüren zeigen, so ANGA weiter. Am Mittwoch, 17.6.2024, wird dennoch „Shut it down“ in ANGAs Demonstrationszug durch die Giardini skandiert, es wirkt so absurd deplatziert wie das Rufen nach einer neuen Intifada. Der Protestmarsch forderte vor versammelter Journaille und sonstigen Akkreditierten, die die Hassrufe zwischen Spritz, Pizza und Schlangestehen wenig beachteten, lautstark die Auslöschung des Staates Israels, ohne dass jemand eingriff. Eine Kunstperformance war das nicht.
In den letzten Jahrzehnten war die Biennale von Venedig mehrmals Spiegel der angespannten politischen Beziehungen Israels. 1982, nach dem Einmarsch Israels in den Libanon, zündete eine italienisch-kommunistische Organisation eine Bombe vor dem Pavillon und beschädigte einige der ausgestellten Kunstwerke. Im Jahr 2015 besetzten pro-palästinensische Aktivisten kurzzeitig den israelischen Pavillon und die Peggy Guggenheim Collection. Die Aufregung um den Pavillon in diesem Jahr begann im Februar, als benannte Aktivistengruppe ANGA einen Brief veröffentlichte, in dem sie ein Verbot wegen der „anhaltenden Gräueltaten“ Israels in Gaza forderte. Im Schreiben zog die Gruppe historische Parallelen zu einem Verbot der Teilnahme Südafrikas, das wegen seiner Apartheidspolitik von der italienischen Regierung ausgeschlossen wurde. Und zu Russland, das 2022 den Angriffskrieg gegen die Ukraine begann. Hier zogen sich die russischen Künstler*innen, die ihr Land vertreten sollten, selbst zurück. Auch dieses Jahr nimmt Russland nicht teil, der Krieg dauert weiter an, den großen Pavillon in bester Lage hat das Land nun an Bolivien vermietet. An den Previewtagen war er trotzdem geschlossen.
ANGA fordert nun, dass auch der deutsche Pavillon geschlossen bzw. boykottiert werden soll, weil deutsche Waffen, Schuldbewusstsein und Staatsräson den israelischen Staat bei seinem Krieg unterstützen. Sie klagen „Germany“ an, als wären die Ausstellungsbauten tatsächlich Botschaftsgebäude der jeweiligen Regierungen. Sie sehen nicht, dass Deutschland sich durchaus selbstkritisch, hinter anatolischer Erde, mit seiner, nicht nur Asbest verseuchten, Vergangenheit redlich auseinandersetzt. Tatsächlich ist das nichts Neues im deutschen Pavillon: der Deutsche Hans Haacke tat das genial brutal mit seiner Zerhackung der marmornen Naziböden Gemanias schon 1993 nach der Wiedervereinigung.
Kuratiert wurde alles von der in Istanbul geborenen Çagla Ilk, die mit dem in West-Berlin geborenen, türkisch stämmigen Ersan Mondtag und – nicht zufällig – mit der israelischen Künstlerin Yael Bartana, die sich schon lange nationalkritisch in ihren Arbeiten von ihrem Heimatland entfremdet hat, zwei Positionen für den Pavillon ausgewählt hat, die Deutschland als ausbeuterisches Einwanderungsland, dem man in einem Raumschiff nur für Juden ins All entkommen kann, nicht gerade sympathisch aussehen lässt.
Künstler*innen sind kaum ein Synonym für ihre Nationen, obwohl sie hier in den Haupthallen der Biennale als Fremde der südlichen dritten Welt fast überall auf ihre kunstgeschichtliche Marginalisierung zurückgeworfen werden, indem sie unter sich bleiben. Und obwohl der brasilianische Biennale-Oberkurator Adriano Pedrosa das Gegenteil mit seinem vom italienisch-britischen Kollektiv mit dem französichen Schreibwaren-Namen Claire Fontaine entliehenen Motto: „Foreigners Everywhere“ (2004) erreichen wollte, denn: er wollte gar die gesamte Kunstgeschichte neu schreiben. Das war sein kämpferischer Anspruch. Mit „Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere“, betitelt er die Biennale, was sich im Deutschen in das missverständliche „Ausländer überall“ und „Überall Ausländer“ verschiebt. Problematisch, dass mindestens vier des auch in Dialekten übersetzten Mottos falsch geschrieben oder gar im Jiddischen in falscher Leserichtung ausgeführt wurden.
Pedrosa weitet den Begriff des „Fremden“ – unter Betonung der etymologischen Verwandtschaft von „stranieri“ und „strange“ – auf diverse soziale und sexuelle Minderheiten aus. Man bekommt im Verlauf dieser Ausstellung viele Beispiele queerer Identitäten aus Regionen der Welt zu sehen, die Pedrosa hier dem fragwürdigen Konstrukt eines angeblich globalen Südens zuordnet. Oder ist es einfach nur Frischware für den Kunstmarkt?
Die Geschichte ist ungerecht, die Geschichte der Kunst ist es erst recht, zu dieser Erkenntnis ist nicht erst Pedrosa gelangt. Schon seit zwei, drei Jahrzehnten öffnen sich die Museen für all jene Künstlerinnen und Künstler, die lange vergessen, nicht gewollt oder ungesehen blieben. Die weiblichen, die schwulen, die queeren, vor allem aber die indigenen Künstler bekommen bei Pedrosa einen großen Auftritt. Rund 330 Namen hat er in Venedig versammelt, fast alle waren sie bislang unbekannt, zumindest in europäischen Gefilden, eine „historische Schuld“, sagt Pedrosa. Er tritt an, sie zu tilgen.
Kampf und Kunst können nicht anders, als sich zu überschneiden. Claire Fontaine verweisen auf den schmalen Grat zwischen Ausdruck und transformativer Kraft des Widerstands, sie begeben sich auf die Suche nach der Frage, wie sprachliche Mittel politische Spannungen und Revolutionen artikulieren könnten. So ist das Motto erst mal gut gewählt, dennoch: Der Satz „Foreigners Everywhere“ erscheint in allen Sprachen überall in Venedig auf Plakaten und auf leuchtenden Neonschildern, die machmal etwas wie Weihnachtsbeleuchtung anmuten. Das „Fremde“ könnte sogar Italiens rechter Regierung in die Hände spielen: als naiver Versuch, einen rassistischen Anti-Immigrations-Slogan umzukehren. Aber warum muss das Fremde in unserer durchglobalisieten Welt so betont werden? Warum nimmt man es nicht an und reiht es ein, anstatt es auszustellen wie auf einem Jahrmarkt. Der Vergleich mit den Menschenzoos kolonialzeitlicher Völkerschauen ist nicht weit.
Aber zurück zu den Nationen:
Polen hat seinen Pavillon einem ukrainischen Künstlerkollektiv zur Verfügung gestellt, deren Filminstallation „Repeat after Me II“ zeigt, wie Überlebende und Geflüchtete der Bombardierungen in Kiew, Lemberg und Mariupol einfach direkt in die Kamera schauend versuchen, die Geräusche der schrecklichen Vielfalt des auf sie niederprasselnden Waffenarsenals zu beschreiben, nachzumachen und sie dann in schockierenden Lauten wiederzugeben. Die Arbeit des ukrainischen Künstlerkollektivs Open Group steht für Empathie. „Sprich mir nach“ lässt uns den akustischen Horror des Krieges erleben, den Lärm des heranfliegenden Todes, die Warnungen davor. Auch die Besucher des Pavillons sollen sie an aufgestellten Mikrofonen nachmachen.
„Du musst die Geräusche der Front tatsächlich lernen, um zu überleben, du musst wissen, was sie bedeuten, um zu wissen, was auf dich zufliegt. Und du kannst dieses Wissen an andere weitergeben. Es geht also nicht nur um bloße Wiederholung der Sounds, es geht darum, zu überleben,“ sagt Anton Varga von Open Group. Eine wahrhaft erschütternde Erfahrung, sehr einfach, ohne jeden Pomp oder Animation inszeniert. Sehr berührend.
Ein weiteres Highlight, das zurecht mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet wurde, war der Film „Machine Boys“ von Karimah Ashadu, geboren 1985 in London. Die nigerianische Videokünstlerin zeigt einen Film über die Männlichkeitsrituale unter den Motorrad-Taxifahrern in Lagos, Nigeria.
Aufgrund zahlreicher Unfälle, an denen die Taxifahrer, auch Okada genannt, beteiligt waren, und der Unmöglichkeit, die informelle Wirtschaft zu regulieren, wurde 2022 ein Verbot verhängt, das Fahrgäste und Fahrer zu Haftstrafen verurteilt. In „Machine Boys“ setzt sich Ashadu mit den Folgen dieses Verbots auseinander und schildert die täglichen Rituale und Herausforderungen der Okada-Fahrer. Durch diese Erkundung nigerianischer patriarchalischer Ideale setzt Ashadu die Darstellung von Männlichkeit mit der Verletzlichkeit einer prekären Klasse von Arbeitern in Beziehung.
Im monumentalen, gar nicht prekären, keinen Aufwand und Kosten scheuenden, kollateralen Beitrag der Fondazione Prada bearbeitet der Schweizer Künstler Christoph Büchel die Finanz- und Kunstgeschichte von Venedig und kritisiert wenig subtil das Kunstmarktsystem und die Biennale an sich. Für „Monte di Pietà“ – der Titel verweist auf eine historische Funktion des Palasts Ca’ Corner della Regina, Sitz einer Stiftung, die als katholische Pfandleihanstalt und Kreditinstitut für Arme fungierte – hat der Künstler das ganze Haus in eine riesige Installation mit maximaler Liebe zum Detail verwandelt. „House of Diamonds: Queen of Pawns“ steht auf Plakaten, hier wird alles abverkauft. Und selbst der Palazzo wird zum Verkauf angeboten: Eine mysteriöse Immobilienfirma, so erklärt ein Plakat am Canal Grande, will das schöne Venedig noch schöner machen.
Während der Eingangsbereich im Erdgeschoss den Eindruck vermittelt, dass hier ein Gebäude einfach großflächig ausgeräumt werden soll, jeder Schrott raus muss, wirkt der erste Stock zuerst wie ein typischer Ramschladen mit Billigware, aber auch Hochpreisigerem. Das Angebot ist verdächtig breit gefächert – Shishapfeifen, Fahrräder, Waschmaschinen, Klomuscheln, Altkleider, Pornoheftchen, Kunst, Kitsch, Brillanten, Marx-Büsten und selbst Gewehre.
Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass im Ramsch viel Exklusives versteckt ist und sich hinter der gänzlich unbeschrifteten Ware große Geschichten verbergen. So hängt das von Tizian gemalte und aus den Uffizien in Florenz entlehnte Porträt einer Ahnherrin der ehemaligen Hausbesitzer an einer schmucklosen Wand oder steht eine beschriebene Tafel anscheinend zum Verkauf, bei der es sich um ein von der Galerie Thaddaeus Ropac zur Verfügung gestelltes Werk von Joseph Beuys handelt. Zu entdecken gibt es Unzähliges: In den Pressematerialien werden die wichtigsten Kunstwerke und Objekte der Ausstellung auf 25 Seiten gelistet.
Im Zwischengeschoss wird der ganze Betrieb des fiktiven Abverkaufs überwacht sowie das Mining einer Kryptowährung betrieben, die aus einem improvisierten Studio im Internet beworben werden kann. Zudem finden sich hier ein illegales Spielcasino und geeignete Räumlichkeiten für Striptease. Neben viel konkreten Sujets hält Büchel in dieser Installation, die in den letzten zwei Monaten aufwändigst aufgebaut worden war, insbesondere Venedig als einem zentralen Ort der Kommerzialisierung von Kunst und damit auch dem Kunstsystem insgesamt einen Spiegel vor. Alles scheint sich hier dem Markt unterzuordnen, auch die politischen Einstellungen. Dies gilt selbst – so suggeriert der Künstler mit konkreten Exponaten – auch für die Solidarität mit dem palästinensischen Volk: Im Rahmen des totalen Abverkaufs im großen Ramschladen der Welt sind ein Hamas-Tunnel sowie Trikots des palästinensischen Fußballnationalteams zu haben.
Viel zu viel Aufwand für Kapitalismuskritik, nicht nur ein bisschen Fremdschämen stellt sich hier ein, doch dann steht man plötzlich vor einer verschlossenen Tür, die den Namen des großartigen David Graeber trägt. Der amerikanische Kulturantropologe ist 2020 in Venedig gestorben, seine letzten zwei Bücher bringen alles, was auf dieser Biennale aufwändigst verhandelt wird, auf den Punkt: „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“, zusammen mit David Wengrow und „Einen Westen hat es nie gegeben, Fragmente einer anarchistischen Anthropologie“.
Yael Bartana „Light to the Nations“; Courtesy the artist und LAS Art Foundation