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05-2024

Der April 2024 war kühl und regnerisch, aber unter den profanen Bedürfnissen nach einem Ende des Winters schlummert die Erleichterung darüber, dass das Gras wachsen kann, solange es feucht bleibt.
Brutal und bedrohlich, obszön, absurd, lächerlich und kleinkariert ist unsere Welt in den Augen des sensiblen Beobachters im Film It Must be Heaven von Elia Suleiman, der 2019 in Cannes lief und nun auf dem arabischen Filmfestival ALFILM in Berlin. Was machen die Künstler:innen in so einer Welt?
In der großen Halle des Hamburger Bahnhofs versucht die Rumänin Alexandra Pirici, dem Lauten, Grellen, Heißen unserer Gegenwart mit einer performativen Installation etwas entgegenzusetzen. Sie bietet farbenfrohe chemische Prozesse in riesigen Reagenzgläsern und eine hohe Sanddüne, auf der und um die herum sich ein Dutzend Tänzer:innen bewegen, als seien sie nicht Angehörige der Tod und Verderben bringenden Spezies Mensch, sondern genügsame Kreaturen wie andere auch. Sie haben keine Probleme. Sie stoßen nirgends an. Sie fallen nicht übereinander her. Eine Demonstration der Sanftheit ist das, getanzte Harmonie mit der Umgebung. Das Ensemble ist gleichsam ein Chor, der sich selbst mit abstrakten Tönen und Rhythmen begleitet. “when the earth changes, when you break apart, when you don’t live anymore spricht es auf einmal zu uns, “we will be dancing, we will be shining”, und es fordert uns auf: “when I’m not in this place, praise the sunshine for me.” Trotz einiger kitschiger Schwächen gelingt es Pirici, das Publikum zu entführen und aus seiner Zeit herauszureißen. Täglich von 13–17 Uhr.
Eine Vertreterin derselben Generation ist die amerikanische Öko-Aktivistin und Malerin Haley Mellin, die wenige Gemälde „unberührter Wildnis“ bei Dittrich & Schlechtriem zeigt. Steht man nur einen Meter entfernt, denkt man noch, das sei ein Foto. Tatsächlich saß sie dafür im Regenwald wie ein Van Gogh im Garten. Zwei großformatige Kohlezeichnungen auf ungerahmter Leinwand und ein Skizzenbuch ergänzen den Blick in die Natur.
In großem Maßstab hat Haley Mellin dafür gesorgt, dass Ökosysteme unter Schutz gestellt werden. Flächen von insgesamt 30 Millionen Hektar (Größe Belgiens) wurden bisher allein von „Art into Acres“, ihrer gemeinnützigen Organisation, in Naturschutzgebiete umgewandelt. Sie bringt internationale Institutionen, Galerien und Künstler:innen dazu, finanziell in die Rettung von Öko-Systemen zu investieren. Sich die Natur kaufen, um sie zu schützen, das ist ihr Ding. Darüber hinaus veranlasst sie Museen und andere Institutionen der Kunstwelt, jeweils die CO2-Emissionen ihrer Ausstellungen berechnen zu lassen und offenzulegen. Letzten Sommer wurde auf ihre Initiative hin in der Nationalgalerie der Verein Gallery Climate Coalition Berlin zur Reduzierung der Umweltbelastung im Kunstbetrieb gegründet. Dittrich & Schlechtriem laden begleitend mit Publikationen aus Privatbesitz dezent zum Lesen ein. Sogar ein illustriertes Bändchen aus der Kindheit des Galeristen ist dabei, vom Stadtflüchtling „Fabian, der Bohnen pflanzt“. In einem offenen Brief zwischen der Künstlerin und einer Kolumnistin der Financial Times, Enuma Okoro, wird Achtsamkeit bzw. die demonstrative Berücksichtigung der persönlichen Gefühle zu einer ­nachhaltigen Methode. Das Aushängeschild an einem Hauseingang in meinem Kiez „Akademie der Achtsamkeit“ hatte mich bisher immer schmunzeln lassen. Gilt das denn: je mehr Zerstreuung durchs Internet, desto mehr spirituelle Sammlung ist nötig?
In der Galerie Alexander Levy steht man dafür staunend vor einer Komposition aus den tierischen Überresten der Automobilitätsopfer. Vögel und andere Kleintiere sammelt Julius von Bismarck auf ebay, um dann noch eins draufzusetzen. Er quetscht sie richtig platt. Danach dürfen sie in seinen neuen Bildkompositionen unverhofft noch mal auftreten. Federn, Krallen, Schnäbel sind so neben floralen Fundstücken plastisch erfahrbar. In der Dimension eines Altarbildes wird das Erhabene dekonstruiert und auf die Empirie umgelenkt. Das gleiche Unbehagen wie beim Anblick ausgestopfter Tiere stellt sich ein. Gestört wird die Andacht zudem durch das regelmäßige Flackern der Neon­röhren. Esther Schipper präsentiert von Bismarck mit der Arbeit Zwei Wölfinnen. Wie in der Berlinischen Galerie die Giraffe und der Urahn als Reiterstandbild, fällt hier eine Wölfin nach der anderen in sich zusammen und richtet sich von alleine wieder auf. Eine davon war mal ein lebendiges Tier. Das teure Spielzeug wird zum Highlight des Gallery-Weekends in den Videoarchiven der Smartphones. Vielleicht könnte es ein neuer Qualitätsmaßstab sein, dass Kunst nicht fotografiert/gefilmt/gestreamt wird. Pirici hat das durch ihre Entschleunigung wundersamerweise geschafft.
Bei KOW führt Clemens von Wedemeyer in seinem neuen Film Surface Composition vor, wie sich heutzutage die Zentren der Macht, die wir normalerweise nicht sehen, physisch präsentieren: quasi incognito. In einem entschleunigenden Rhythmus zeigt er Großaufnahmen von Gebäuden wie Landschaften, die antithetisch zum überfordernden Bilderkosmos des Internets stehen, den diese Firmensitze verwalten.
Der andere Film, Social Geometry, erzeugt ein Unbehagen in der puren Abstraktion, denn hier handelt es sich um die Übertragung von Handydaten in tanzende weiße Punkte auf schwarzem Grund. Eine Stimme aus dem Off (Anne Clark) erklärt, was die jeweiligen Formationen bedeuten. Die Ansichten von Menschenmengen und -massen, die jeweiligen Qualitäten der Kommunikation, die Artikulation der Inhalte, aber besonders das, was es bedeuten kann von allumfassenden Überwachungssystemen ausgewertet zu sein, das muss sich hier der/die Betrachter/in selbst vorstellen. Wenn sich das Publikum in dem völlig abgedunkelten Showroom darauf einlässt, hat die Arbeit das Potenzial zu einer dringend notwendigen Sensibilisierung.
Der schlicht HOUSE genannte, edle Ausstellungsraum im Hinterhof der ehemaligen King Size Bar am ­Oranienburger Tor sorgt in diesem April für den größten Verfremdungseffekt. Einer Zeitreise gleich schweben wir auf einem sonoren Soundteppich durch die finsteren Hallen dieser mystischen Unterwelt, um Werke zu entdecken, die uns in einem anderen Leben in einem anderen Jahrhundert einmal wichtig waren. 100 Jahre nach dem Aufkommen surrealistischer Ideen konfrontiert uns Juliet Kothe, ehemalige Leiterin der Sammlung Boros, in dem Séance genannten Rundgang mit einem Drift aus der Eindeutigkeit in die Sphäre des Ungenauen, nicht Greifbaren, der Ahnung und des Wahns. Die Ferne zur Gegenwart macht diese Entdeckung zu einem schmerzhaften Erlebnis. Sehnsucht macht sich breit, die besonders in den theatralen Gesten eines von Eifersucht zerfressenen und mit dem Wahnsinn ringenden Antonin Artaud (Drehbuch) in dem Stumm-Film La coquille et le ­clergyman von 1927 ihre Dopplung erfährt (Regie: Germaine Dulac). Wir sind verzaubert, das ist wahr.
Oder einfach Ausstellungen machen, die keinen Strom brauchen: Um es gleich vorneweg zu sagen, der Rasen und Sand auf dem Boden der Galerie Mountains am Rosa-Luxemburg-Platz, das war die Idee des Galeristenpaars Klaus Voss und Markus Summerer. Sie setzen mit sicherer Hand einen kraftvollen Akzent in einen Raum, wo es vor gezeichneten Tieren nur so wimmelt und bereiten so die Bühne für ihren neuen Liebling, den kleinen Prinzen Edi Dubien. Na so klein ist er nicht mehr, mit dem Jahrgang 1963 würde er auf dem von-hundert-Dancefloor zu den alten Freunden gehören. Seine Transition zum Mann hat er allerdings erst vor zehn Jahren vollzogen, was ihm erlaubte, nicht nur als Künstler noch mal neu zu beginnen. In Frankreich hat er sich seitdem mit seinen zarten sinnlichen Darstellungen von sehnsuchtsvollen Wesen in die Herzen der Betrachtenden hineingemalt. Ausstellungen im Centre Pompidou Paris, Metz und Lyon bestätigen den Erfolg einer ganz auf dem Gefühl basierenden Malerei im Land der Liebe.
Gleich daneben bei NagelDraxler bleibt das Gefühl ein geheimer Urheber. Kein geringerer als Mike Kelley habe 1994 seine Einsamkeit zwischen den Jahren in eine Serie gebannt, die er „Paintings in Time“ nannte. „Finde den Unterschied heraus!“, scheint die kindlich-praktische Aufgabe zu sein bei den sechseinhalb ovalen Zeichnungen in Schwarz-Weiß mit „Cartoon-artigen Figuren, die menschlichen Eingeweiden nachempfunden sind“ (Pressetext der Galerie). Die auf den 31. Dezember datierte letzte Tafel bestehe nur aus einer halben Leinwand, denn das sei für Kelley der Tag gewesen, an dem das Leben wieder beginne.
Jochen Lempert bei BQ, der seine Präsentation mit der Ankunft der Mauersegler aus dem Süden abstimmen wollte, oder auch Ingar Krauss bei Jaeger Art in der Brunnenstraße sorgten mit ganz unterschiedlichen s/w-Fotoarbeiten für Einhalt und Nachdenklichkeit. Wolfgang Tillmans zog allerdings seine weltweite Community nach Berlin. Nichts schien an diesem Gallery Weekend so unwiderstehlich, hip und sexy wie scheinbar einfache Fotos von Menschen und Dingen, mit Tesafilm an die Wand geklebt. It was so Nineties and it was fantastic!

Alle Ausstellungen in den Galerien laufen bis Juni. Alexandra Pirici hat sich vorgenommen, bis 6. Oktober durchzutanzen.

Ausstellungsansicht: Julius von Bismarck, „Zwei Wölfinnen“, Esther Schipper, Berlin, 2024 Courtesy the artist and Esther Schipper © The artist / VG Bild-Kunst, Bonn 2024, Foto: Andrea Rossetti
Clemens von Wedemeyer, „Social Geometry“, 2024, video installation, animated, b&w, sound, 19 min, installation view KOW 2024, Foto: Ladislav Zajac