Eintritt in die hohe Schule der Lüste

2024:Mai // Christoph Bannat

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05-2024

Meine dritte Bewerbung an der Berliner Hochschule der Künste war entschieden. Kunstanwärter konnten sich 1987 noch zwei Mal im Jahr für den Bereich Freie Kunst mit einer Arbeitsmappe bewerben. Es sollte hier mein letzter Gang zur Mappenausgabe sein. Doch das wusste ich damals noch nicht. Als ich die Hochschule erreichte, saßen die Prüflinge, die es in die Vorprüfung geschafft hatten, auf dem Gehweg der Hardenbergstraße und zeichneten Fahrradspeichen. Ich war entsetzt. Welch Demütigung, dachte ich. Und welch Hilflosigkeit der Kunst-Mensch-Findungskommission. Auch wenn ich nur eine verschwommen Vorstellung von „freier Kunst“ hatte (ich wusste bereits von Joseph Beuys’ Freier Klasse), so sah sie nicht aus. Aber wahrscheinlich war diese rituelle Erniedrigung einfach nur der Tatsache geschuldet, dass das Prüfungspersonal in Ruhe einen Kaffee trinken wollte.
Ich war aus Fulda nach Berlin gekommen. Dort war ich beim Trampen hängengeblieben. Zwei Jahre später stellte ich bei Deisenroth aus und verkaufte an die Ärzte des örtlichen Krankenhauses. So viel wie nie wieder. Deisenroth war eigentlich eine legendäre Galerie – hier hatten Gerhard Richter, Sigmar Polke, Manfred Kuttner in den 60ern ihre erste gemeinsame Gruppenausstellung – das aber erfuhr ich erst Jahrzehnte später. Alexander Deisenroth erzählte mir von Franz Erhard Walther, mit dem er befreundet war und der aus Fulda stammt. Über Künzell, aus Heidelberg kommend, war ich zu Fuß ins Fuldatal gewandert, als mir die Füße versagten und ich trampen musste. Ein erster, ernster Eindruck in Fulda war eine Predigt von Johannes Dyba, der später zum Bischof ernannt wurde. Von der Kanzel aus predigte er gegen Homosexuelle, den Osten und Abtreibung. Danach dröhnte mir der Kopf wie verkatert. Das Ganze nur einen Steinwurf entfernt von Alfred Dreggers Wohnhaus, gut sichtbar gekennzeichnet durch einen dauergeparkten Panzerwagen. Ich war ein Jahr unterwegs und kurierte bei Kurt, er hatte mich beim Trampen mitgenommen, in Rommerz meine entzündeten Füße aus. Wieder auf den Beinen half ich ihm beim Ausbau seiner Dorfschule, bevor ich meinen Zivildienst in Fulda antrat.
In Berlin-Neukölln (Jonasstraße) angekommen, war ich einer von jenen, die sich in der westdeutschen Provinz mit dem Authentizitätsvirus infiziert hatten. Sofort suchte ich nach gleichgesinnten, freien Künstlern. (Später, auf dem Kiez in St. Pauli wohnend, zeichnete ich Männer in aufwendigen Umhängen, die Mehr Freier, in Spiegelschrift, auf einem Banner forderten – soviel zum Thema freier/Freier.) Doch nach einigen Treffen im TON TON (Boddinstraße) hatte ich das Gejammer, dass nicht sie, sondern Rainer Fetting, Salomé und Helmut Middendorf vom Erfolg überholt wurden, satt. Dabei liefen sie dem Erfolg nicht gerade dermaßen hinterher, dass sie diesem keine Chance gelassen hätten.
Ich wollte mich noch einmal an der Kunsthochschule bewerben. In Berlin hatte ich zeigen wollen, was ich zeichnerisch drauf habe. Bei meiner Bewerbung in Hamburg wollte ich nur noch schlau sein. Ich war doch mehr Gottfried Kellers Grüner Heinrich, als ich dachte (mal sehen wie das Ende der Geschichte aussieht). Den Heinrich hatte mir meine Deutschlehrerin geschenkt, kurz bevor ich für ein Jahr verschwand. Jene Lehrerin, in deren Apartment in Winterhude wir Schüler rauchen durften (im Possmoorweg – in dem ich später eine Lehre als Verlagskaufmann beginnen sollte). Jene Lehrerin, die ich, wiederum zehn Jahre später, jetzt in Hoheluft, in einer der legendären Hamburger Zwanziger-Jahre-Backsteinsiedlungen besuchte. Jetzt arbeitete sie beim Hamburger Senat und bot mir an, meiner Bewerbung wegen, mit Carl Vogel, dem damaligen Kunsthochschulpräsidenten, zu sprechen. Was für ein Angebot für einen Vorstadtklugscheißer aus Hamburg-Langenhorn. Ich hatte den Ruf, unverständlich, aber nicht uninteressant zu sein. (Das Unverständliche interessant zu gestalten war eigentlich kein schlechter Treibstoff für den Willen zur Kunst.) Ob ich die Gene meiner Zeit hatte? Vielleicht, eine Zeit lang. Ihr Angebot lehnte ich ab und musste es sofort wieder vergessen. Doch die Begegnungen hatten etwas gemacht mit mir und der Stadt.
Immer noch in Berlin druckte ich für eine letzte Bewerbung. Danach sollte mein Weg einen anderen Verlauf nehmen, das hatte ich meinem inneren Trotz-Troll geschworen. Der sagte „wenn ihr (der große Andere, der Staat, die Hochschule) mich so nicht wollt, dann eben nicht“. Ich druckte mit eingefärbten Feuerhaken, Union- und Rekord-Briketts, mit Obstkisten, Linolresten und Sixpack-Verpackungen auf rosa Fleischereipapier, Esst- mehr-Obst-Tüten und vergilbten Tapetenbahnen. Ich kreuzte die Feuerhaken und Kohlen; Union-West, Rekord-Ost. Ich wollte meinen Berliner Alltag erhöhen, zu dem ein Kachelofen gehörte. In Hamburg gab es pro Jahr nur eine Mappeneinreichung und keine Aufnahmeprüfung. Und im Vorfeld der Bewerbung konnte jedermann/frau die Möglichkeit einer „Korrektur“ (so hieß das damals) nutzen. Und warum nicht bei Franz Erhard Walther, dachte ich.
Ende der Achtziger gab es über 800 Bewerbungen auf 30 Studienplätze, inklusive Kunst als Lehramt. Ich weiß nicht mehr, wann, ich dran war. Gleich nach der Korrektur hatte sich ein leichter Nebel, der sich erst mit den Jahren lichtete, über die ganze Szene gelegt. Ich war von Berlin mit meinen Tapetenrollen angereist und hockte nun am Boden der Walther-Klasse, umringt von 30 bis 40 Studierenden und Interessierten, die in Dreier-Reihen ein Oval um mich bildeten. Je länger meine Präsentation dauerte, desto mehr wurde aus den nach hinten aufsteigenden Reihen fachgepöbelt. Stimmen, die mich nur gedämpft, wie durch Watte, erreichten. Franz Erhard Walther saß auf einem Stuhl, am kurzen Halbrund des Ovals, der menschlichen Arena. Rechts, neben Walther, eine Frau – Anna, warst Du das? –, die einen Plastikbecher hielt, links eine mit seiner Cognac-Flasche. Er selbst, in einer Art dunkelgrünem Tarnanzug, weite Hosen mit aufgesetzten Taschen, eine Zigarre rauchend. Eine Kunstmesse der anderen Art. Cognac-Dunst anstelle von Weihrauch, und eine gegenderte Dreifaltigkeit. (Vater, Sohn und heiliger Geist – eigentlich ein schönes Bild für den sich selbst gebärende Künstler.) Untermalt vom pöbelnden Hochschulchor. So ging die Messe ihrem Höhepunkt, der Prüfung des Glaubensbekenntnisses, entgegen und gipfelte in Walthers Frage; wie ist Dein Bezug zum Raumbegriff? Ich war sprachlos und begann innerlich zu schwimmen. Raumbegriff. Ich hatte, außer im Zusammenhang mit Albert Einstein, nie etwas davon gehört und folgerichtig mir auch keine Gedanken dazu gemacht. Ich hatte meine Kommunion (oder Taufe oder Kielholen?) vermasselt, dafür aber eine weitere Lektion in Sachen Kunstbetrieb erhalten. Hätte ich doch einfach den Nagel in der Wand als meine wichtigste Installation mit Raumbezug nennen können. Als Carl Andre vor einigen Tagen starb, hieß es, dass er nicht nur die Kunst vom Sockel geholt, sondern auch den Betrachter zwischen Himmel und Erde gestellt hat. Die Beobachtung gefiel mir. Ich rollte meine Tapetenbahnen also wieder zusammen. Um eine Antwort verlegen. Betäubt und verwirrt wie ich war, wurde ich im Gang von einigen Frauen getröstet – ich hatte wohl doch die Gene meiner Zeit, jedenfalls eine Zeit lang. Hätte ich mich sprachlich vorbereitet, vielleicht hätte ich mich dem Jargon angepasst, doch dagegen rebellierte mein Trotz-Troll, der mir sagte, dass der nicht zu mir passe. Untergründig hat mich diese Korrektur noch lange beschäftigt. Und nach der Hochschulgrundklasse wusste ich, dass ich kein Papi-Problem wollte, so landete ich bei K. P. Brehmer.
Papi-Walther. Ein echter Standpunktprofi. Von Beuys als Klein-Franz abgekanzelt, wollte er immer als Lehrer nach Düsseldorf an die Akademie, schaffte es aber nie. In den Neunzigern machte er dann doch noch Karriere. Heute gilt er als ein Klassiker der Konzeptkunst. Als Jonathan Meese aus seiner Klasse erfolgreich in den Kunstbetrieb startete, wurde Papi-Walther milde. Papi-Walther, der einem sagt, wo es langgeht und wie man es richtig macht. Einer, der einem vermittelt, dass man Kunst lernen kann. Einer, der sehr schöne formale Lösungen gefunden hat. Ein anderer an der Kunsthochschule (Kai Sudeck, kennt heute keiner mehr) war der heimliche Gegenpol. Er fragte in bis zu dreistündigen Sitzungen (ich sah Studenten tränenverschmiert aus seiner Klasse kommen), wie man Kunst mit seinem Leben zu verbinden vermochte.
Eine gute Kunsthochschule braucht solche Pole, denke ich. Erst diese unterschiedlichen Ästhetiken und die dahinterliegenden Lebensentwürfe geben ihr die nötige Spannung. Wohl wissend, dass es in einer Kunsthochschule um den Gebrauch der Sinne (mach das, was dir leicht fällt, schwierig wird es von allein) geht und dass sie im besten Fall eine Schule der Lüste, der kultivierten Lüste ist.
Franz Erhard Walther: „Sieben Orte für Hamburg“ (1970–1989, Bodenplatten aus Cortenstahl, je 180 x 180 cm)