- /11-2024
- /05-2024
- /11-2023
- /02-2023
- Abend im Abendland
- Final Days
- Noisy Leaks! (1)
- Noisy Leaks! (2)
- Die (leere) gescholtene Mitte
- Misk Art
- EUROCITY
- Klasse-Spezial
- „Alle, die nichts anderes haben, als ihre Arbeitskraft zu verkaufen, sind Arbeiter“
- Natürlich wollen wir alle flexibel, nachhaltig und inklusiv woke sein – die letzte Generation der neuen (kreativen) Klasse als Kratzer im Screen 1
- Klassenfragen
- Klassenfragen im Kulturkontext
- Vom Auf- und vom Absteigen
- Bitte, danke, bitte, danke, bitte, danke ...
- Die post-dramatische Klasse
- Über Klassen und alle anderen Identitäten
- Marx und meine Widersprüche
- Wo ich war
- Eine Liste von hundert
- Berlin Art Week
- KÜNSTLER/IN, LEBENSLANG
- Eine/r von hundert
- Vanity Fairytales Tours
- Onkomoderne
- /Archiv
- /Impressum
Zeit
Ein alphabetischer Versuch
2024:November //
J. G. Wilms
Aequidistanz
Irgendwo habe ich gelesen, dass die Zeit, die Menschen täglich unterwegs sind, historisch gleich geblieben sei. Nur ist der Radius, die Reichweite enorm gestiegen. Gingen Bäuerin und Bauer früher, sage: ½ Stunde zu Fuß zur Arbeit aufs Feld, also etwa in 3 km Entfernung von ihrer Wohnstätte, benötigt heute eine Pendlerin oder ein Pendler, sage: in Italien mit dem Hochgeschwindigkeitszug 38 Minuten von der Renaissancestadt Florenz zur Hochburg der Gegenreformation, Bologna. (s.a. → Museum)
Brecht
Dichter, die es heute kaum noch gibt, hatten es in dem Land, das es nicht mehr gibt, selten leicht. Fritz Cremer, dem Bildhauer des Buchenwalddenkmals, erging es nicht anders. Cremer hatte 1956 bereits Brechts Totenmaske abgenommen und 1972 damit begonnen, eine in den Maßen überlebensgroße, in der Erscheinung sehr menschliche Skulptur des Dichters zu fertigen. Im Material des Bestands, antikischer Dauer: Bronze. Entsprechend umfangreich die Planungen und Skizzen, die Ent- und Verwürfe. Die Momente von Dauer und Ringen sollten dem gesamten Projekt eigen bleiben. Aufschübe, politische Intrigen, Einsprüche, vermiedene (weil in den Künsten notwendig falsche) Kompromisse säumten den jahrzehntelangen Weg vom Auftrag bis zum Aufstellen der Skulptur vor dem Berliner Ensemble im Februar 1988, zum 90. Geburtstag des Dichters.
Carpe diem
Wir hatten einen Lateinlehrer an unserer Schule, der als übellaunig und streng galt. Vor dem ersten Unterricht bei ihm, einer Vertretungsstunde, warb unser Klassenlehrer um Verständnis. Sein Kollege habe als junger Mann im Krieg eine Granate abbekommen, deren Splitter noch überall in seinem Körper steckten und von Zeit zu Zeit höllisch schmerzten. Darum sei er manchmal vielleicht etwas streng. Wegen der Schmerzen. Die wir nicht einmal unseren Feinden wünschten. Ungewöhnlich freundlich gestimmt, waren wir dann erstaunt, wie freundlich dieser ältere Herr war, der zu uns in die Klasse kam, aus dem Horaz vorlas und uns im Laufe der Stunde darauf brachte, dass dem Verb carpere im Deutschen pflücken oder ernten entsprächen und carpe diem daher niemals bedeute, den Tag zu genießen, sondern dass es nach Horaz einem jeden neuen Tag gegenüber einer kleinen aktiven Geste bedürfe, wie sie dem Pflücken eigen sei – er griff in die Luft, hielt kurz inne, vollführte mit der Hand eine kaum merkliche Drehung, bevor er die Hand langsam wieder senkte.
Datum
Mittwoch, 13. November 2019. Ein Einbrecher versucht erfolglos, zwei Bilder Rembrandts aus der Dulwich Picture Gallery in London zu stehlen. Darunter das „Portrait von Jacob de Gheyn III“. Es zählt mit nur 29,9 × 24,9 cm zu den kleineren Bildern Rembrandts und wird im Guiness-Buch der Rekorde mit vier zwischen 1966 und 1983 erfolgten Diebstählen als das am meisten gestohlene Bild der Kunstgeschichte gelistet. (en.wikipedia.org / aus der dreisatzchronik) vgl. → Museum
Erbe
Vererben geht eigentlich immer, also jedenfalls seit es Zellteilung gibt. Und vielleicht ist unser Sonnensystem auch nur ein Erbfolger des Urknalls, so wie KI eine Erbin der Schrift und somit des in Schrift dargelegten Wissens der Menschheit. Wer wollte da noch Erbschaft besteuern?
(vgl. → Museum; → Oheim)
Flaschenpost
Der Vorplatz eines Bahnhofs. Der schmale Flaschensammler, der seit dem Morgen seine Runden dreht wie ein Wartungsarbeiter, der aus dem Pensum, aus seinem Arbeitsrhythmus geraten ist, und nun, wütend und gehetzt, versucht, die verpasste Zeit wieder einzuholen. (vgl. → Latenz)
Gespenstisch
„Die Zeit“, schrieb F. A. Trendelenburg 1862 in der 2. Auflage seiner Logischen Untersuchungen, „die sich selbst gebiert und selbst verzehrt, die sich setzt und zugleich wieder aufhebt, ist ein Wesen, das vor seinem eigenen Dasein gespenstisch flieht …“ F.A. Trendelenburg, Logische Untersuchungen, Leipzig 1862 (2), S. 156 (vgl. → Zeit)
Hindenburgdamm
Noch so eine Altlast, die sich nur sehr langsam im Geschichtsverlauf verklappen lässt (vgl. → Erbe) – sozusagen als Mikroplastik großer Geschichte. #Tannenberg #ObersteHeeresleitung #totalerKrieg #ImWestennichtsNeues #Militärdiktatur #Reichspräsidentschaftswahlen #GarnisonkirchePotsdam #derGefreite #derAnstreicher (vgl. → Brecht) #derFührer #Sellner – und allerorten Straßen, die Hindenburg im Namen führen.
Internet
Es gab eine Zeit vor dem Internet. Im realen Erleben war sie weit weniger und im medialen Erleben ungleich mehr:
linear. (s.a. → Nachbild)
Jubiläum
Du kennst das aus der Provinz. Im Lokalteil erscheint auf einem grobgerasterten Foto der/die Bürgermeister/in einer mittleren Kleinstadt, wie er/sie in die Kamera schaut und mit einer leichten Beugung einem sichtlich betagten Herrn oder einer sichtlich betagten Dame herzhaft die Hand schüttelt. Der Begleittext nennt zudem „die Jubilarin“ oder den „rüstigen Jubilar“ beim Namen. Meistens sind weitere Personen im Bild, Angehörige vor allem, zunehmend auch Pflegepersonal. Alle Beteiligten strahlen, der/die Bürgermeister/in will niemandem nachstehen und strahlt, sei es aus Übung, sei es von Amts wegen, besonders nachdrücklich. Der Bildhintergrund lässt dann manchmal eine Zahl sehen, eine 100 vielleicht sogar, oder eine wie aus Bauschaum errichtete Torte, auf der findige Bäcker/innen allerhand Schriftwerk (→ Erbe) hinterlegt haben.
Kairós
Vom Moment, der keiner war, oder der Tür, die zwar offen stand, die aber niemand sah, zum Buchtitel des aktuellen Bestsellers von Jenny Erpenbeck reicht die Karriere dieses Wortes, das die gesamte griechische Literatur der Antiken durchzieht, und das mit „rechtes Maaß oder Verhältniß … bes. rechter Zeitpunkt“ wiederzugeben wäre.
(s.a. → Gespenstisch; → Schicksal)
Latenz
Sich vorzustellen, Fortschritt oder überhaupt nur ein Fortschreiten des Gegenwärtigen erfolge nach Kausalitäten, war spätestens der Aufklärung die Erfindung eines freien Willens wert. Besser wäre vielleicht, von Latenzen zu sprechen. Flaschenpost, die, unerledigt, im Geschichtsprozess treibt. In den Künsten sind solche Latenzen wahrscheinlich noch häufiger und wohl weit wirkmächtiger als in den Wissenschaften. (vgl. → Erbe; → Flaschenpost;→ Vivian)
Museum
Donnerstag, 20. Mai 2010: Es war eine Nacht-und-Nebel-Aktion: Aus dem … Musée d’art moderne de la Ville de Paris ... sind fünf Meisterwerke im geschätzten Wert von 500 Millionen Euro gestohlen worden, teilte … die Polizei in der französischen Hauptstadt mit. Damit handelt es sich um einen der größten Kunstdiebstähle aller Zeiten.
(sueddeutsche.de / aus der dreisatzchronik) (vgl.→ Datum)
Nachbild
Obertöne, Nachbilder, Interferenzen.
Oheim
Mein Oheim, der Earl of Nixdorf, geruhte zu sagen: Die intergalaktische Raumfahrt erscheint uns als eine endlose Kette von Kreuzfahrtreisen; alles ist möglich und nichts – auf die gesamte Dauer der Reise berechnet – passiert. Also meistens: passiert nichts. Schon nach wenigen Stunden erscheint den Reisenden der → Raum, der sie umgibt, von geradezu unendlicher Endlichkeit. Alles steht, wie die Oberfläche eines Planeten, in die ein auch schon in die Jahre gekommener, leicht verrußter Laser ein Loch zu brennen sucht. (vgl. → Quasar)
Poesiealben
Poesiealben? Koedukativ erstellte Panini-Alben ohne Panini. Panini-Alben? Synthese aus Zigarettenbildchen und Poesiealben im Zeitalter von Weltnichtrauchertag & Monopolkapital. Fazit: Das ging wieder alles sehr schnell und Poesie war ja im Grunde genommen schon mit dem Aufkommen von Poesiealben erledigt. (vgl. → Carpe diem)
Quasar
„Mit der im Jahr 2010 gemachten Entdeckung, dass der 1,6 Mrd. Lichtjahre entfernte Quasar SDSS J0013+1523 als Gravitationslinse für eine 5,9 Mrd. Lichtjahre dahinterliegende Galaxie wirkt, ergibt sich eine direkte Möglichkeit zur Massenbestimmung eines Quasars.“ (wikipedia)
vgl. → Oheim; → Latenz
Raum
Bedingung der Möglichkeit von Anschauung, wie Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft darlegt, die zweite wäre: → Zeit.
Schicksal
Zeit einzig auf die Dimension ihrer Messbarkeit reduzieren, ist wie nur eine Faser aus den bald festen, bald losen Fäden der Erinyes nehmen, aus den wirrend klaren Gespinsten jener Göttinen, die wir im Deutschen verkürzt Schicksal nennen. Schicksal: eine unmenschliche, unpersönliche Macht, die außerhalb aller Gesellschaft wirkt. - Nichts wäre falscher. Mit dem Mythos der Erinyes wird vielmehr eine zutiefst soziale Erfahrung formuliert, die, als Mutterrecht, noch die Anfänge der tragischen Dichtung bei Aischylos trug, und die →Brecht so formulierte: Das Schicksal des Menschen ist der Mensch.
(vgl. → Kairós; → Uhr; → Vivian Maier)
Tee
Ein sehr altes, aus China stammendes analoges Speichermedium von und für: → Zeit.
Uhr
„Die Uhr ist eindeutig keine prothesenartige Maschine: sie verstärkt weder menschliche Muskelkraft, noch erweitert sie die Fähigkeiten der Sinne. Sie ist eine autonome Maschine.“
(Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, FfM 1978, S. 44)
Vivian Maier (war: verspätet)
Mir vorzustellen, sie wäre vergessen – und dieser extrem unwahrscheinliche Sinn für Rhythmus, Bildwitz, Doppelungen und Spiegelungen, für Beziehungen: von Sprache und Bild, von Symbol und Kontext, von Menschen aller Alter, Geschlechter und Soziologie; dieser ungemeine Sinn für Paare & zufällige Arrangements, für die immer offenen Blicke der Kinder, für Schlafende und Passanten, für Schattenspiele und Silhouetten, für Achsen und Kontraste, dieser ungeheure Sinn für eine historisch wohl beispiellose Variation von Selbstporträts – die Vorstellung, die Kunst der Vivian Maier wäre ohne Madoffs Zufallsfund verloren gegangen und vergessen worden – ist mir unerträglich.
(s.a. → Latenz)
Wein
Ein sehr altes, wohl aus dem Kaukasus stammendes analoges Speichermedium von und für: → Zeit.
Xi
14. Buchstabe im griechischen Alphabet, der aus drei übereinanderliegenden, meist gleichlangen, waagrechten Strichen besteht; als Zahlzeichen mit ’ = 60 oder mit , = 60000; aber Xi kann auch vieles anderes sein, z.B. ein mittleres logarithmisches Energiedekrement in der Reaktorphysik oder: die Schraubungskoordinaten einer Starrkörperbewegung usw.; oft wird Xi aber auch nur mit Sân verwechselt, der chinesischen Darstellung einer arabischen 3 – wie in 33 Sekunden Lesezeit – bei eher langsamer Lektüre dieses Eintrags.
Y
„Das Ypsilon ist einer der jüngsten Buchstaben im lateinischen Alphabet und teilt sich einen Großteil seiner Geschichte mit dem U, dem V und dem W. “
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=
Y&oldid=249519101
Zeit
Bedingung der Möglichkeit von Anschauung, wie Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft darlegt, die zweite wäre: → Raum.
Christian Schwarzwald