Onkomoderne

RRR und der Sumpf-Wolf

2023:November // Christina Zück

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11-2023

An einem warmen Septembertag besuchte ich das Freilichtmuseum „Slawen- und Wikingersiedlung“ in Wolin, zufällig war es auf Google-Maps aufgepoppt, markiert als Sehenswürdigkeit mit einem roten Punkt. Es liegt auf einer kleinen Insel in einem Mündungsarm der Oder, der das Stettiner Haff mit der Ostsee verbindet. Die Insel ist mit ein paar Brücken an die Stadt angekoppelt und wird von der Hochtrasse einer Schnellstraße überragt. Auf dem Parkplatz lagen ein paar Tiere um eine Pfütze herum, Ziegen oder eine besondere, historische Schafsart. In einer spärlich beleuchteten Blockhütte befanden sich der Museumsshop mit der Kasse, dort staunte ich über die große Auswahl an Kettenanhängern und Armbändern mit Runen und Sigillen, die vermutlich das kulturelle Erbe der Slaw:innen und Wikinger:innen verbreiten sollen. Um es zu dokumentieren, ich konnte den Shop nicht einfach so fotografieren, kaufte ich ein geflochtenes Armband mit einem Plastikamulett, auf dem ein achtspeichiger Stern eingraviert war. Die Speichen wurden von kleinen Querlinien und Halbkreisen gekreuzt und endeten in unterschiedlichen Vergabelungen. Ich kannte mich mit so etwas nicht aus, Google würde mir später sagen, was ich da für ein Zeichen am Handgelenk trug. Die schwarze Sonne, ein Kreis, aus dem hakenartige SS-Runen als Strahlen hervorgehen, gab es auch in dem von der EU geförderten archäologischen Museumsprojekt als Anhänger zu erwerben, und die waren in Deutschland als Variation des Hakenkreuzes verboten, nahm ich an. Es irritierte mich, die Symbole nicht einordnen zu können, und unmittelbar legte sich Rechtsextremismusalarm als Filter über meine Wahrnehmung.

Hinter dem Wehrturm und den Palisaden lag unter einem hohen Dach, das von ein paar Holzstämmen gehalten wurde, die Schmiede, in der zwei Männer in Mittelalteroutfits arbeiteten. Gerne dürfe ich sie fotografieren. Die Hand des Mannes, der mit dem Hammer ein Stück Metall bearbeitete, war mit einem Tattoo des Zeichens bedeckt, das ich gerade gekauft hatte. Sie waren in ihre Arbeit vertieft und beachteten mich nicht weiter. Später lernte ich, dass das Symbol Vegvísir heißt, Wegweiser auf Isländisch, und als Wikingerkompass bekannt ist – obwohl es erst im 19. Jahrhundert in einem isländischen Manuskript über christlich geprägte Magie auftauchte. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden nordische Kulturen, Wikinger:innen, Slaw:innen, German:innen, von der völkischen Bewegung, rechter Esoterik, den Nationalsozialisten und heutigen rechten Gruppierungen in Beschlag genommen, um ihre politischen Ziele zu propagieren. Sie wurden als weiße, „arische“, zähe und kampfbereite „Völker“ geframed. Der Vegvísir, und auch das sehr ähnliche, ebenfalls im 19. Jahrhundert aufgetauchte Siegel für den Œgishjalmr, einen Schreckenshelm aus der Edda, wird als Symbol aus der nordischen Mythologie verwendet, ja, auch von Rechtsextremen. Björk trage auch ein Vegvísir-Tattoo, schreibt Wikipedia. Als ich zu recherchieren beginne, eröffnet sich mir ein uferloses wissenschaftliches Forschungsfeld über experimentelle Archäologie und den seit 200 Jahren fortlaufenden Missbrauch der nordischen Geschichte und Mythologie durch rechte Bewegungen.

Zu irgendeinem Zeitpunkt, weit zurück in der Vergangenheit, vor unbestimmt vielen Jahren, hatten Menschen, die man erst viel später speziellen, neu erstellten Kategorien zuordnen würde, auf der Plageinsel am Stettiner Haff gelebt, und hier wurde ihre Lebensweise von Leuten aus der zerfallenden Spätmoderne aus verschiedensten Gründen als bedeungsvoll erachtet und performativ neu zum Leben erweckt. Es war meine erste Begegnung mit der RRR-Kultur: Reconstruction, Replication, Reenactment, experimentelle Archäologie, Living History, Live Action Role Playing. Im Museumsdorf waren an diesem Nachmittag nur wenige Besucher:innen unterwegs, aber umso mehr mittelalterlich gewandete Personen, die auf Holzbänken herumsaßen oder an etwas arbeiteten, Fladenbrote, Met-Amphoren oder selbstgeschnitzte Runensäulen verkauften, und zu betriebsam für ein Ausstellungs-Setting wirkten. Sie wohnten dort. Die Holzhäuser waren gemäß historischer Techniken gebaut, die Wohnräume vollständig ausgestattet mit Holzmöbeln, noch rauchenden Feuerstellen, getöpfertem und geschnitztem Geschirr, getrockneten Kräuterbündeln und herumliegenden, selbstgewebten Klamotten. Es war toll. Ich betrat museale Räume, die gleichzeitig Privaträume waren, in denen mir das Atmen wegen des Rauchs und des Staubs schwer fiel. In der Nacht noch hatten Leute dort auf löchrigen Tierfellen geschlafen. An einer Feuerstelle saßen zwei junge Frauen und flochten Kränze aus Gräsern und Blattwerk. „You can sit here with us.“ Was sind das für Kränze, fragte ich. Die beiden Reenactors sind Teil einer Community, die sich dort meist am Wochenende trifft und in den Häusern übernachtet, Objekte nachbaut und Handwerkstechniken übt. Die meisten von ihnen arbeiten ehrenamtlich, aus Engagement und Freude, sie sind nicht vom Museum angestellt. Am Abend sollte ein Herbstsonnenwendfest stattfinden, die Kränze waren für ein Ritual vorgesehen. Als Museumsbesucherin könne ich am Ritual leider nicht teilnehmen, es sei nur für die Community. Wie schade. „Are you pagans?“ „Well that’s what our ancestors were, they lived here.“ „Like Wicca or something?“ „Not really, we’re just a group of friends.“

Die Ehrenamtlichen und Hobby-Reenactors bauen in Zusammenarbeit mit Archäolog:innen und Historiker:innen am Museum und seinen Ausstellungsobjekten weiter, alle partizipieren am Wissen und an den gelebten Erfahrungen der anderen, die einen haben befristete Jobs an der Uni oder am Museum selbst, die anderen eine besondere Leidenschaft fürs Frühmittelalter und die Mythen der heidnischen nordischen Völker – eine Win-Win-Situation für alle, neoliberal ausgedrückt. Mir gefällt dieses Museumskonzept, und ich fand es ganz schön übel von mir, Leute, die ihre Faszination für ein Themenfeld liebevoll gestalten und andere daran teilhaben lassen, mit dem Verdacht rechter Undercurrents zu belegen. Ich wünschte mir, das Living-History-Konzept würde auch für den Bereich der bildenden Kunst adaptiert werden: Museale Ausstellungsräume könnten in Ateliers umgewandelt werden, und die Besucher:innen könnten am Produktionsprozess der Künstler:innen teilnehmen und mit ihnen über die entstehende Arbeit diskutieren; die Künstler:innen hätten eine Festanstellung, die Besucher:innen zahlten Eintritt, und es gäbe Gratiskaffee aus French-Press-Kannen für alle; insgesamt würde sich das auch positiv auf den Ateliermangel auswirken. Oder eine Galerie könnte Wolfgang Beltracchi engagieren, um den Atelieralltag und den Bildgestaltungsprozess von Max Ernst zu reenacten. Letztendlich werden in der künstlerischen Produktion ja auch nur Vorgaben und Normen der Vergangenheit wiederholt, nur etwas der Vergangenheit und dem normativen Habitus einer Insidergruppe Ähnliches kann heute als bildende Kunst erkannt und verwertet werden. Bei durchschnittlicher Kreativkraft können Künstler:innen auch nichts anderes erreichen, als Modelle zu replizieren und geringfügige Variationen einzubauen. Durch Living-History-Performances ihres jetzigen Arbeitsprozesses könnten sie direktere und intensivere Experiences mit dem Publikum herbeiführen. Die destabilisierenden und „Normen hinterfragenden“ Praktiken aus dem Kunstbereich sind inzwischen selbst zur Norm geworden, und somit auch repetitiv und oft auch langweilig, während das Rekonstruieren von imaginierten Traditionen und „Völkern“ von meiner gesellschaftlichen Blase aus gesehen als problematisch geframed wird.

Der Musiker und Autor Sebastian Meissner hat für Deutschlandfunk Kultur zwei interessante Features über Phänomene kultureller Aneignung in Polen produziert. In „Zwischen Natur und Nationalismus“ berichtet er über neopagane Bewegungen, die eine Anknüpfung an die ursprüngliche Religion ihrer Vorfahren suchen – an ihre Ahnen, die irgendwann genau auf dem Territorium lebten, auf dem sie als Nachfahren sich jetzt nicht mehr vollständig zu Hause fühlen. Die slawischen Neuheiden sehen sich als Opfer der Kolonisierung durch das Christentum und wenden sich gegen eine Religion, deren Oberhaupt, ein Ausländer, seinen Heiligen Stuhl in einem fremden Land stehen hat. Eine homogene, abgegrenzte Nation und ein gemeinsamer, ortsbezogener Ursprung haben für sie einen hohen Stellenwert, und im Radiofeature distanzieren sich die Interviewten immer wieder von rechtem Gedankengut. Sie praktizieren schamanische oder polytheistische Rituale, für deren Authentizität es für die Zeit des frühen Mittelalters wenig wissenschaftliche Nachweise gibt. Rekonstruiert und reenactet entsteht so eine neuartige Kultur, eine partikulare Identität, die die erwünschte Form von Stabilisierung und transzendenter Verbundenheit mit den Kräften der Natur in Aussicht stellt. Dabei vermischt sich eine archäologisch abgesicherte Vergangenheitserzählung mit Fantasyliteratur und auch mit den Fantasien, die von einer völkischen und nationalsozialistischen Esoterik lanciert wurden.

In „Die Vodou-Ikone“ erzählt Sebastian Meissner die Geschichte des Kulturtransfers der schwarzen Madonna von Częstochowa in die haitianische Voodoo-Religion. Die Ikone, das Nationalsymbol der Polen, wandelte sich in Haiti zum Vorbild für die Darstellungen der Loa Erzulie Dantor. Polnische Söldner, die um 1804 von Napoleon Bonaparte nach Haiti gesandt wurden, um die Haitianische Revolution niederzuschlagen, trugen das Bild ihrer Schutzheiligen mit sich. Nachdem die Versklavten den Krieg gewonnen und ihre Freiheit erkämpft hatten, ließen sich die wenigen überlebenden polnischen Söldner in Haiti nieder. Im Bild der Hodegetria (altgriechisch für Wegweiserin), deren Wangen mit zwei Furchen oder Narben verletzt sind, erkannten die Voodoo-Praktizierenden ihre Heilige, die zürnende Kriegerin Erzulie Dantor, wieder. Seitdem gleicht ihr Bild dem der Madonna von Częstochowa, und ihr Vevé, die Sigille, die sie repräsentiert, ist ein von einem Schwert durchbohrtes Herz, das Symbol für das unbefleckte Herz Mariens.

Den Versklavten in Haiti wurde der Katholizismus von der Kolonialmacht aufgezwungen, ihre eigene westafrikanische Religion konnten sie nur im Verborgenen praktizieren. In die Neubelebung ihrer Religion flochten sie nach und nach Bilder und Themen aus der christlichen Kultur mit ein. Während der kommunistischen Herrschaft in Polen hingegen wurde der Katholizismus unterdrückt, erst in der Zeit nach 1989 konnte er seinen gesellschaftlichen Einfluss wiedererlangen. Heute steht der polnische Katholizismus für Nationalismus und Restauration, die slawische neopagane Bewegungen gerne für sich beanspruchen möchten. Zeichen, Dinge und Glaubenssysteme können immer wieder ihre Bedeutung wandeln und sich von konkurrierenden Gruppierungen kapern lassen. Obwohl sie das Denken, verschiedenste Ängste und Identitäten stabilisieren und verankern sollen, sind sie unzuverlässig und volatil.

Beim Recherchieren finde ich ein Beispiel aus der Zeit des DDR-Sozialismus, wo Reenactment-Fans eine sehr weit entfernte Kultur neu performten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in Deutschland ein großes Interesse an der Westernkultur und den First Nations Nordamerikas. Karl Mays Romane, die ein fiktives und klischeehaftes Bild über „edle Wilde“ und durch „Zivilisation“ unverdorbene „Naturvölker“ zeichnen, waren im Nationalsozialismus sehr beliebt, May galt als Adolf Hitlers Lieblingsautor. Trotz des anfänglichen Widerstandes des SED-Regimes gründeten sich in der DDR Indianistik-Vereine, die das Leben der indigenen Völker Nordamerikas in detailgenauen Kleidungstücken, Regalien und Riten reenacteten, Powwows veranstalteten und die „Indianerkultur“ erforschten. Ein paar dieser Vereine bestehen bis heute. Die Indianist:innen fühlten sich den Ureinwohner:innen Nordamerikas eng verbunden – zunächst als Fans des völkischen Exotismus Karl Mays, später als Gemeinschaft der Opfer des amerikanischen Imperialismus. Das Reenactment gab ihnen innerhalb der engen und reizarmen DDR-Gesellschaft eine besondere Lebendigkeit zurück. Sie übten eine ganz andere Art zu leben ein und versuchten, eine detailgenau genaue Replik der exotischen Welt zu gestalten, in die sie keine Reisen unternehmen konnten.

Warum richten Leute ihre Sehnsucht auf einen bestimmten, eigentlich völlig beliebigen Punkt in 300.000 Jahren menschlicher Vergangenheit? Oder auf das Leben in einer nach Ziegen und Kohlenmonoxid stinkenden Holzhütte ohne Heizung und Badewanne? Warum auf die Natur, die doch überhaupt nichts mit uns Menschen zu tun haben möchte? Wird dabei die neuronale Überbelastung heruntergefahren, weil Landschaften und Pflanzen sowie kon­trollierte Gesellschaftsszenarien sehr angenehm, ästhetisch und beruhigend sind? Bin ich da ganz bei mir selbst, also bei dem, was mir während der lebenslangen Zurichtung auf diese Gesellschaftsform hin erzählt wurde, dass es einen irgendwo aufzufindenden authentischen Wesenskern geben solle? Frei und nur mir selbst unterworfen, keinem Finanzamt, keinem S-Bahn-Pendelverkehr? Und warum sollte ich nicht eine kleine idyllische Insel für mein Leben finden, ein bisschen Schönheit und Andersartigkeit? Warum will ich als Touristin mit vorgefasster Meinung und Wissen aus dem Internet die Motivationen und Lebensziele der Bewohner:innen des Freilichtmuseums beurteilen? Unterdessen läuft die ausufernde Moderne wahlweise auf Ragnarök, die Apokalypse, die Versteppung und Überschwemmung großer Teile der Erdoberfläche oder einfach nur auf ein Aus ohne sich selbst neu gebärende Gött:innen hinaus.

Immer mehr Slaw:innen- und Wikinger:innen-Reenactors in bräunlich-ockerfarbenen Sackkleidern kamen in der Siedlung an und wurden von ihren Freunden begrüßt, die Besucher:innen schlenderten in ihren Funktionsjacken wie bunte Farbtupfer zwischen der Holz- und Lehmarchitektur herum und machten Handyfotos. Ein Hahn, der mit einem Bein an einem Pflock festgebunden war, wurde davon sehr gestresst und versuchte vergeblich wegzurennnen. An der Anlegestelle ging ein am ganzen Körper mit Sigillen und Runen tätowierter junger Mann in einer zeitgenössischen Badehose schwimmen, es standen kleine Käfige aus Ästen herum, die wohl für Fische oder Kleintiere vorgesehen waren. Vor dem mit einem Tierschädel dekorierten Eingang einer Hütte fand ein Fotoshooting statt. Ein bärtiger Wikingerdarsteller hatte eine Auswahl an Kostümen, Helmen, Schwertern und Schildern mitgebracht und einen professionellen Fotografen, der ihn vor verschiedene Hintergründe platzierte. Sie erlaubten mir, auch ein paar Fotos von der Inszenierung zu machen. Ich mochte die Atmosphäre aus bürokratisch-museumspädagogischem Vermittlungsanspruch und dessen Sabotage durch die irgendwie unkontrollierbaren, verdruckst völkisch-rechte Fantasien evozierenden Mittelalter-People, eine irritierende Spannung. Das Inkorporieren der Wikinger-Energie erlaubte es, in geordneten Settings mal richtig böse und gewalttätig auszusehen. Ich sprach einen der Runenamulettschnitzer an. Er kommt jedes Wochenende von Stettin aus ins Dorf und baut an verschiedenen Projekten weiter. Ganz großartig sei das Wikingerfestival Anfang August, bei dem sich die internationale Reconstruction-Szene trifft, Leute reisten dafür aus Australien und Asien an. Die ganze Insel sei dann ein großes Zeltlager, aufwändige Kämpfe würden choreographiert, sogar Seeschlachten in originalgetreuen Booten. Ich kaufte ihm einen geschnitzen Wolf-Anhänger ab; es könnte Fenris, der Sumpf-Wolf sein, sagte später die Suchmaschine.
Besonders an der Woliner Ausgrabungsstätte ist ihre doppelte Mythenkraft. Aufgrund von archäologischen Forschungergebnissen, die sich mit sagenhaften Erzählungen vermischen, wird angenommen, dass auf dieser Insel die versunkene Stadt Vineta lag. Ihr wird eine vergleichbare mythische Aufladung wie Atlantis zugesprochen. Gleichzeitig soll dort ebenfalls die legendäre Jomsburg gelegen haben, wo ein brutaler Söldnertrupp seine Headquarters hatte. Wikinger:innen waren während des Frühmittelalters Küstenbewohner:innen und Seefahrer:innen, die ihren Lebensunterhalt mit Raubzügen und Piraterie bestritten. Eine genetische Studie fand heraus, dass ihre Vorfahren nicht ausschließlich Bewohner:innen der skandinavischen Region gewesen waren, sondern ein vielfältiger ethnischer Haufen, der keiner sortenreinen Kategorie zugeordnet werden konnte. Der Name geht auf ein altnordisches Wort für Kaperfahrt oder Raubzug zurück, eventuell waren es ausgehungerte Gewaltverbrecher:innen, die jetzt für weißes männliches Heldentum und gnadenlose Härte herhalten müssen.

Nachdem die Vergangenheit archäologisch-historisch erschlossen, repliziert und sich rückwirkend angeeignet wurde, bleibt dann noch Energie übrig, um Szenarien für die Zukunft zu entwickeln? Werden wir irgendwann in vielfältigen Bubbles, Enklaven, Flüchtlingscamps, Baugruppen, Gated Communities, Mikronationen, Ahnendörfern oder Demenz-WGs leben, in Milieus der Einschließung, hinter mehr oder weniger eng gezogenen Grenzen? Ist unsere Gesellschaft zu pluriversal und zu komplex geworden, um so viele Epistemologien neuronal zu verarbeiten, sodass der Glaube an ein gemeinsames Zusammenleben am Ende aufgegeben werden muss? Werden wir dann die Staatsform, die individuell am besten zu uns passt, frei wählen können? Warum soll eine Bevölkerung, von der 50% Donald Trump und 50% Joe Biden wählt, gezwungen werden, gemeinsam in einem Land zu leben? Es wäre doch interessanter, das Land zu teilen. Geoffroy de Lagasnerie schlägt dies in einem Youtube-Gespräch mit dem Passagen-Verlag vor – als ein radikal-libertäres Gedankenexperiment, das von dem Philosophen Robert Nozick entwickelt wurde: Jeder Mensch sollte frei sein, das Gesetzessystem zu wählen, dem sie oder er sich unterwerfen möchte, und es sollte jederzeit möglich sein, es wieder zu verlassen. Niemand sollte der Utopie der anderen unterworfen sein. Superreiche Libertäre aus dem Silicon Valley planen bereits den Ausstieg aus dem Hoheitsrecht der Staaten mit extraterritorialen künstlichen High-Tech-Inseln auf hoher See, sogenannten Seasteds. Zurück zu Grafschaften, Herzogtümern und Fürstentümern oder auch hin zu Anarchien, deren Dienstleistungen dann gebucht und auf Bewertungsportalen verglichen werden können. So müssten dann auch aufwändige Bewerbungs- und Selektionsprozesse durchlaufen werden, um als Mitglied oder Untertan:in zugelassen zu werden. Für die überlebenden Generationen wäre unsere Epoche dann die erste, in der endlich „artgerechte“ Lebenswelten etabliert wurden.

Alle Fotos: Christina Zück