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Kinder, wie die Zeit vergeht!
2024:November //
Chat
Kinder, wie die Zeit vergeht! / 2024:November
Vor acht Jahren feierte die von hundert ihr zehnjähriges
Jubiläum mit einem Spezial. Unsere Autorin Chat hatte damals die Idee, zehnjährige Kinder aus dem Freundeskreis ihrer Tochter nach ihrem bisherigen, recht kurzen
Leben zu befragen. Es war natürlich für die Kinder nicht kurz, sondern alles. Jetzt acht Jahre später reflektieren die damaligen Autorinnen, zumindest vier von ihnen,
noch mal über das Phänomen Zeit. Die Kinder sind jetzt erwachsen, volljährig. Bei der von hundert dauert das noch, zumindest ökonomisch. AK
Mit achtzehn bin ich also erwachsen. Im Laufe der Zeit erlöschen meine Erinnerungen. Kriegen sie einen neuen Sinn als zeitlose Reflexion oder veralten sie? Und wie sehr hat mich mein Umfeld geprägt, was habe ich bis heute noch mitgenommen? Gedächtnislücken von der Zeit als Kind, oft als infantile Amnesie bezeichnet, vernebeln meine Erinnerungen. Wie die Welt sich gewandelt hat, habe ich nicht richtig wahrgenommen. Alles war simpel. Entscheidungen zu treffen unwichtig. Nun ist jede leiseste Entscheidung wichtig. Doch was verbindet mich noch mit meiner Zeit als Kind? Sind es die Kinderfotos, die verstaubt im Schrank liegen und nur darauf warten, wieder angeschaut zu werden? Oder die, die im hintersten Ordner des Computers oder auf der Cloud hochgeladen sind? Ist alles, woran ich mich noch erinnere, woanders gespeichert, festgehalten? Nah und doch so fern. Unabhängig von einem selbst verewigt. Andauernd aufrufbar sind sie vielleicht eine Entschuldigung für unsere verblassende Erinnerung. Es scheint, als würden die Bilder meine Erinnerung anregen. Obwohl ich den Moment vergessen hab, werde ich getäuscht und die Erinnerung ist eigentlich eine Vorstellung. Die noch präsenten Erinnerungen und Eindrücke verschmelzen so mithilfe von Bildern wie Farben bei der optischen Mischung: Erinnerungslücken werden wie Farblücken mithilfe von Bildern in der Vorstellung vervollständigt. So entsteht aus Fragmenten ein zwar verschwommenes, aber, aus der Ferne betrachtet, einheitliches Bild. Eine neu (?) zusammengesetzte Erinnerung. Selma
¶
Die letzten sieben Jahre, vom 11. bis zum 18. Lebensjahr. Kurz zusammengefasst würde ich meinen, dass die ich diese Jahre in meinem Leben als „Veränderung pur“ beschreiben würde. Angefangen vom Schulwechsel der Grundschule aufs Gymnasium und nun vom Abitur ins weitere Leben. Am liebsten würde ich hier gerne zurückblickend im Detail über diese Schulzeit reden, da trotz der Freiheit, die mir inzwischen zur Verfügung steht, doch langsam auch die Sehnsucht nach der Struktur, die ich vor ein paar Monaten noch hatte, eintritt. Eingeschlossen der vielen Gespräche mit unterschiedlichen Menschen und dem Lachen mit den Engsten in den Pausen. Diese Zeit hat mich wirklich sehr stark geprägt und hat mir viel über zwischenmenschliche Beziehungen beibringen können. Alte Kontakte verlieren, neue aufbauen.
Dieses Prozedere wiederholt sich nun, jeder geht irgendwie seinen eigenen Weg. Freunde oder Liebende ziehen weg, fangen an zu studieren, fangen eine Ausbildung an, reisen, leisten soziale Arbeit oder finden erst einmal zu sich selbst. Traurig oder spannend? Beides. Man merkt jetzt erst so richtig, wie erwachsen man wird.
In meinem kleinen Text von 2017 beschrieb ich das Leben an einem Apfel. Die braunen Stellen seien Krieg und Armut und die reifen Stellen seien der Frieden. Ich bin mir nicht sicher, wie ich das Leben heute beschreiben würde, aber es gäbe definitiv mehr als nur zwei „Stellen“ vom Apfel. Vielleicht würde ich ihn auch nicht mehr anhand des Lebens, sondern anhand des Menschen selbst beschreiben. Emotionen, Gefühle, Charakterzüge, Lebenswege, es gibt immer mehr als nur gut und schlecht. Ophelia
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Bin ich Kunst oder bin ich richtig? Ich bin ungeduldig. Noch wenige Wochen und ich verlasse Berlin. Das wird mir das Herz zerreißen und es befreien. Ich glaube, ich habe mich selbst verloren in den letzten Jahren. Manchmal erleide ich Krisen, weil mir die Kleider aus meinem Schrank nicht gefallen, sie sind nicht ich. Und trotzdem ziehe ich das an. Farben reduziert, modisch ist, was Marke hat. Und meine Formen betont. Ich bin traurig, dass das in meinem Kopf nistet. Aber die Mäntel und kniehohen Stiefel, dunkelblauen Röcke und bunten Schals, die ich in meinen Träumen trage, besitze ich nicht. Ich war vor dieser Zeit auf Partys und wollte in die Berliner Clubs, sobald es möglich würde. Ich liebe jemanden und mein Leben könnte schöner nicht sein, aber WER BIN ICH? Ich strahlte, war witzig, war naiv. Ich wurde dann beliebter und damit auch angepasster und zurückhaltender. Mysteriös könnte man sagen. Das ist seit etwa zwei Jahren so. Da entdeckte mein bester Freund mein „Potenzial“. Das mag seltsam klingen, so bedeutungslos, aber plötzlich wuchs seit diesem Augenblick mein Bewusstsein für das, was andere denken. Und ich ertappe mich oft dabei, wie ich mich mit ihren Augen ansehe, wie ich aus mir heraustrete und mich von außen betrachte. Tief in mir weiß ich, dass mich der neugeborene Drang nach Selbstoptimierung und die verführerische Teilnahme am Wettbewerb um die Spitze der Schönen kaputt macht. Ich weiß, dass ich etwas anderes bin. Ich liebe Musik, Singen, geheime Konzerte, Regelbrechen, wildes und chaotisches Styling an anderen, mir selbst und meinen Zimmerwänden und wünsche mir in diesen Leidenschaften zu wachsen. Und nicht mehr nur im Äußerlichen. Aber es bleibt, nachdem Anerkennung und Bewunderung von anderen mein Treibstoff geworden sind, dass ich mich reflektiere, voller Sorgen und Hoffnungen. Nein, ich werde reisen und aufgehen. Ich werde die Individualität wieder lieben lernen und mich in intellektuellen Fähigkeiten messen oder inspirieren. Ich bin noch immer laut und unbefangen und unerschöpflich optimistisch, sage die Dinge furchtlos in die Außenwelt und kritisiere derzeitige Entwicklungen der Jugend. Ich bin Teil davon. Gleichzeitig bin ich Kind geblieben, hasse Ernsthaftigkeit und begeistere mich für jedes Neue in meiner Welt. La vie en rose. Wenn das falsch sein soll, dann komme ich nie wieder zu euch zurück. Dabei hab ich bei all den Verlusten und Entfremdungen meiner Selbst das größte Glück des Lebens erfahren: meinen Freund, den ich im Sekundentakt mit meinen Emotionen und Gedanken bombardieren kann und immer noch küssen und lieben darf. Rosa Baum
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Früher wollte ich nicht groß werden. Ich wollte nicht mit „Erwachsenenproblemen“ konfrontiert werden, mir nicht über alles den Kopf zerbrechen müssen, keine Verantwortung tragen – in meiner eigenen Spielwelt für immer geborgen sein. Erwachsen werden schien so konkret. Aber anders als bei den meisten anderen Dingen ist es genau das Gegenteil: ein fließender Übergang. Mit großen Wellen, kleinen und großen Steinen, die den Fluss manchmal unsicher machen, aber weiterfließen wird er trotzdem – zielstrebig. Niemand kann ihn aufhalten. Und plötzlich war ich 18. Eine Zahl, die sagt, man sei erwachsen. Wie konnte das so schnell passieren? Erst im Nachhinein kann man ein paar Ideen davon bekommen. Es waren die Umstände. Da gibt es die kleinen, privaten Ereignisse, die einen prägen: erste Urlaube alleine mit Freund*innen, Abi, ausziehen. Und dann gibt es noch die großen, politischen Ereignisse, die auch für mich von großer Bedeutung waren. Da war die erste Fridays for Future-Demo. Mir war noch nicht ganz klar, worum es wirklich geht. Es hörte sich aber nach einer guten Sache an, also habe ich zusammen mit einer Freundin unsere gesamte Schulklasse mobilisiert, um dann das Gefühl zu haben, wow, zusammen können wir richtig stark sein und was erreichen. Und als ich tiefer in der Thematik drin war, habe ich gemerkt, wie notwendig das ist. Wir müssen unsere Zukunft gestalten, sonst wird es niemand tun. 2020 kam Corona und so schrecklich es war, nicht in die Schule gehen zu können und dadurch auch viel zu viel Skepsis den Klassenkamerad*innen gegenüber aufzubauen, habe ich so viel aus der Zeit mitgenommen. Selbstständig werden, Prioritäten setzen, sich eine eigene Meinung bilden und lernen, wie unglaublich wichtig gute Freunde sind, die aus schlechten Umständen gute Zeiten machen können. Dann kam der Krieg in Europa, der uns abermals auf die Straßen getrieben hat und später der Krieg in Nahost, der für mich von noch größerer Bedeutung war. Kurz zuvor hatte ich einen Austausch mit Jugendlichen aus Tel Aviv gemacht. Im Sommer waren sie bei uns in Berlin gewesen. Aufgrund des Kriegsbeginns konnten wir Berlinerinnen dann nicht nach Tel Aviv kommen. Diese erschreckende persönliche Nähe zu der Katastrophe hat mich wieder ein Stück erwachsener gemacht. Dieses unaushaltbare Gefühl, nichts dagegen tun zu können, während meine Freund*innen in einer lebensbedrohlichen Situation stecken. Mir wurde klar: Später, wenn ich „groß“ bin, will ich so richtig was gegen diese Missstände und Ungerechtigkeiten machen. Das kann doch nicht so weitergehen. Und jetzt bin ich dem schon einen Schritt näher gekommen. Schon wieder etwas erwachsener geworden. Aber so richtig bin ich es noch nicht. Wann werde ich endgültig erwachsen sein? Wird es diesen Punkt geben? Wie viel muss dafür noch passieren? Gesa
von hundert Ausgabe 29