Après

2025:Juni // Nine Budde

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06-2025

Möchte ich das festhalten? Was möchte ich festhalten? Welche Erinnerungen möchte ich an mich festzurren, die Bilder einmachen, konservieren. Welches Etikett auf die Dose kleben?

Es ist der erste Sonntag nach deinem Tod. Dich anzusprechen fühlt sich falsch, fatal und unvernünftig an. Bei dir zu sein, ist etwas anderes. Bei dir ist in mir. Du hast mir an deinem letzten Tag deine warme Hand gegeben. Zur Verfügung gestellt. So lag ich da, einen halben Tag, meine Kinderhand in deiner warmen Papi-Hand. Wir haben transferiert. Ich habe dich gebeten, mir deine Löwenherz-Energie zu transferieren, aus diesem Herzschlag, der dich immer warme Hände und Füße haben ließ.

War das ein Sprechen?

Du wurdest auf jeden Fall endlich ruhig. Und warst schon dabei, dich energetisch auszubreiten. In meine Hand und auch in meinen Körper.

Nicht festhalten. Weitergehen. So wie du. Im Tod.

Ich liebe dich. Wir liebten uns. Wir haben uns immer geliebt. And that’s it.
In meinen Erinnerungen ewiglich. In deinen Büchern auch.

Du ewiger Student, ich ewige Studentin.

Die Bücher tun nicht weh. Die Konserven in der Küche schon. Die Zeugnisse von mir hier in deinem Leben. Die Zärtlichkeit in deiner Liebe zu mir. Überall tauchen sie hier auf. Leicht versteckt, nicht direkt sichtbar, aber für dich überall.
Du hast dich mit mir umgeben. Mich ganz still und zärtlich in unserer lebenslangen Fernbeziehung geliebt. Ohne, dass ich es mitbekam. Stattdessen habe ich dich immer mit flinker Stimme angeschwatzt, dir was erzählt, um weiterzufliegen. Erst in deinem Tod kam mir die Erkenntnis von der Form deiner Liebe. Und ich schäme mich, wie schlecht ich sie verstand.
Du hast mich verstanden. Du kanntest mich. Und hast mich entlassen mit den Worten: „Du bist eine eigenständige Person. Das warst du schon immer und das wirst du auch bleiben.“

In der Nacht vor deinem letzten Tag musste ich bitterlich weinen. Laut weinte ich in den Raum. Du warst schon halbtod und doch gabst du mit aller Kraft drei Fiebtöne von dir. Wie ein Seehund klangst du durch mein Ohropax.

Ich habe dich in den Tod begleitet, bis zur letzten Pforte deines Atemzugs. Du bist innerlich vergurgelt und vertrocknet, am Tropf der heutigen Medizin. Dem palliativen Tod auf Raten. Schmerzlos haben sie gesagt, aber du hast trotzdem gestöhnt, deine Psyche war in Aufruhr, nach dem Verstand suchend, zu sediert, um zu sterben.
Du bist als Patient gestorben und nicht als Ich.
Dein Ich wurde chemisch zerbröselt und wie die Maschinen, die dich umgaben, stetig abgeschaltet.

Ohne Ich zu sterben.

Du sprachst immer davon, dass du „dann“ mal abkratzen wirst. Nun war das dann und ich wünschte, du hättest ein anderes Wort gewählt.

Sterben.

Du bist sehr langsam, aber stetig gestorben.
Ich musste daran denken, wie du gegessen hast. Immer mehr als die anderen und dann ganz langsam. Nie routiniert. Es wurde nie zum Essen getrunken.

Drei Tage vor deinem Tod wurde die Wasserzufuhr gestoppt. Deine Zunge verwandelte sich in einen Lederstrumpf. Drei Tage und fast drei Nächte lauschte ich deinen Atemzügen. Stoßhaft, tief, keuchender, hechelnd, seufzend, pausierend. Auch in dieser Phase schliefst du noch.

Entschlafen bist du nicht. Du wurdest vom Tod überwältigt. Hingegeben hast du dich nicht, weil sie dir sechs Stunden vorher nochmal den Katheter zogen. Ich habe Einspruch erhoben, denn immer noch, selbst in diesem Moment, zucktest du vor Schmerzen mit deinem total entzündeten Genital. Ich wurde ausdiskutiert mit meinen Einwänden gegen diesen Eingriff. Ein Extrastoß Morphium wurde verabreicht und die „Pfleger“ machten sich ans Werk. Routiniert, kühl, in professioneller Distanz.
Danach warst du erledigt. Die Ruhe, in die du zuvor gekommen warst, hatte sich in eine totale Versteifung verformt. Die Nachtschwester sagte einige Stunden später: „Schlafen sie ruhig nochmal, ich glaube nicht, dass er so schnell stirbt.“ Ich drehte mich auf die Seite und dachte, „Lügenschwester“. So wie die meisten hier.

Ich schlummerte ein, um eine Stunde später zu erwachen. Du wusstest, dass ich nicht neben dir aufwachen wollte, mit dir als totem Mann. Du hast mich also geweckt und ich pulte mir das Ohropax aus den Ohren und merkte, dass es kein rechtes Atmen mehr neben mir gab.
Es war die Kapitulation, die ich da im diffusen Licht der Geräte sah und hörte. Vergurgelt und vertrocknet mit einem Seufzer und einem Äh, äh danach.

Wie so oft in meinem Leben legte ich mein rechtes Ohr auf deine Brust. Und statt deinem wilden starken Löwenherz herrschte nun an diesem Ort Totenstille.

Ich schob mein Bett weg, um dir und dem Tod Raum zu geben.

In diesen Raum füllte sich die zärtlichste Liebe, die ich je empfand. Da war sie nun auch für mich endlich greifbar und ich war vollkommen erstaunt. So hast du mich geliebt, Papi? So warst du? So zart, so sanft und so süß? So vollkommen liebevoll. Versteckt in deinem Leben.

Ich setzte mich auf die Bettkante meines weggeschobenen Bettes und dankte dir. Ich sprach es laut in den Raum.

Dann packte ich meine Sachen, deine hatte ich schon am Vortag gepackt, sagte der Schwester Bescheid, legte dir die Jakobsmuschel auf den Bauch und verließ den Raum mit deinem roten Rollkoffer, deinem Stock, meinen drei Taschen, um mit deinem Auto zu dir nach Hause zu fahren.

Die Nacht war dunkel und ruhig.