Von der Kultur des Collagierens

2012:Dec // Katharina Schlüter

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12-2012

















Texturen
/ Von der Kultur des Collagierens

Textur ist ein doppeldeutiger Begriff, er steht für „Gewebe“ wie auch für die Qualität einer „Oberfläche“. Als Terminus scheint er dienlich, um das Verhältnis der narrativen Struktur eines Kunstwerkes, die auf bestimmte Referenzen und Themen verweist, zu dessen ästhetischer Hülle zu fassen, welche sich aus Motiven, Materialien und Formen zusammensetzt. Der Begriff der Textur ist damit zentral für ein zeitgenössisches künstlerisches Vorgehen: das Collagieren (im Film eher Montieren) – gemeint als das Ineinanderweben von Motiven, Materialien, Objekten und inhaltlichen Referenzen auf Basis eines individuellen Interessensmusters zu einem Werk. So entwickeln sich seit geraumer Zeit Gruppen künstlerischer Äußerungsformen, die in ihren Zusammensetzungen so vielgestaltig wie der Kunstbetrieb selbst sind und dabei doch in ihrer ästhetischen Grundstruktur Ähnlichkeiten aufweisen. Diese Situation der Kunstproduktion scheint darin unser aktuelles Gesellschaftsgefüge zu spiegeln, in dem sich ähnelnde Gruppen bewegen und offensichtlich radikale oder kritische Positionen scheinbar selten geworden sind.

Die Begriffe „radikal“ und „kritisch“ werden in unserer Gesellschaft und auch in Bezug auf die aktuelle Kunstproduktion jedoch immer noch oft im Sinne der Moderne mit „neu“ oder „oppositionell“ übersetzt. Jene modernen Formen kritischer Äußerungen konnten jedoch vor allem solange entstehen, wie die bestehende Meinungslandschaft durch Traditionen noch klar strukturiert war und gesellschaftliche Gruppen eindeutige Positionen vertraten. Dies ist nun aber gerade heute nicht mehr beobachtbar – weder gesamtgesellschaftlich noch im spezifischen System des Kunstbetriebes. Vielmehr hat vor allem der mittlerweile ausgeprägte Individualismus unserer Zeit mit seinem emanzipatorischen Impetus und der gleichzeitige Verlust von gesellschaftlichen Traditionen und Normen (in Familie, Religion und Beruf) das Phänomen schier endloser Ausdifferenzierung von Lebensstilen und Anschauungen ausgebildet, deren Orientierungsmaßstäbe sich vor allem aus medial kommunizierten Gesellschaftsnormen speisen und darin tendenziell „in der Mitte“ pendeln und nicht „ausschlagen“. Kritik kann heute weniger als oppositionell, denn vielmehr als relational und zusammengesetzt bezeichnet werden. Neues entsteht nicht mehr unbedingt in Opposition zu Bestehendem, sondern durch die Integration und das Zusammenfügen (sprich hier auch Collagieren) verschiedener Positionen in einer eigenen Stellungnahme. Diese Situation spiegelt sich im Kunstbetrieb eben in jener Vielgestaltigkeit von Gruppen künstlerischer Ausdrucksformen, die weniger radikal auftreten und deren Oberflächenstrukturen sich angleichen, die aber dennoch sehr individuell zusammengesetzte Narrationen und Inhalte in oftmals komplexen und differenzierten Werken vermitteln.

In den klassischen Medien wie Malerei und Bildhauerei ist seit einiger Zeit eine größere Gruppe künstlerischer Ausdrucksformen auszumachen, in der Künstler mit Motiven und Formen der Avantgarden des 20. Jahrhunderts, in der Malerei oft in Kombination mit Zeichen und Symbolen aus der aktuellen Alltagskultur, arbeiten. Der Bezug auf das 20. Jahrhundert mit seinen Avantgarden könnte in diesem Zusammenhang eine Reaktion auf die Situation sein, dass eine (vielleicht ersehnte) Entstehung von ebensolchen Avantgarden im aktuellen, globalisierten Kunstbetrieb schwierig oder gar unmöglich geworden ist. In der Fotografie hingegen fällt die Tendenz zum Dokumentarischen auf und reflektiert in oft montierten Bildstrecken die Auseinandersetzung mit sozialen Themen. Die Film- und Videokunst bringt z.B. Äußerungen hervor, die in Montagen kultur(historische) Themen verarbeiten und darin Vergangenes in Beziehung zu Aktuellem setzen.

In der Malerei kann man vor allem unter den jüngeren Positionen diejenigen in einer „Gruppe“ zusammenfassen, die das Formenvokabular moderner Avantgarden (Konstruktivismus, klassische Moderne) mit Erscheinungsformen unserer Medienlandschaft (computergenerierte Formen) oder Motiven aus der Alltagskultur (Sticker, Magazine) verbinden. Es entstehen ästhetische Gewebe, deren Oberflächen zum einen durch die Verwendung von Motiven des 20. Jahrhunderts eine Patina des Vergangenen evozieren – und zum anderen eben diese Patina zugleich mit Aktuellem konterkarieren: So zu begutachten in den Werken von Kerstin Brätsch, Clara Brörmann oder Anne Neukamp.
Besonders zahlreich entstehen mit ähnlichem Formenvokabular aus Motiven der Moderne und Alltagskultur Werke im erweiterten Bereich der Skulptur zum Beispiel bei Stef Heidhues, Roseline Rannoch, Juliane Solmsdorf oder Natalia Stachon, die man auch als „räumliche Assemblagen“ bezeichnen könnte. In diesen Werken werden verschiedene Objekte und skulpturale Arbeiten im Raum installativ angeordnet. Formal und materialästhetisch werden kunsthistorische Bezüge zum 20. Jahrhundert (Minimal Art, Konstruktivismus) in zeitgenössisches Vokabular eingewebt, so dass auch die Oberflächen dieser Werke zwischen Vergangenem und Aktuellem changieren, während die Ausdrucksform der räumlichen Assemblage die Idee des Collagierens spiegelt.

Gesellschaftliche Bereiche, die eine Entwicklung von Neuem – vor allem auch im Sinne von Innovation – zum Ziel haben, sind u.a. Wissenschaft und Technik. Mit dieser Welt beschäftigen sich Künstler wie Micol Assaël, Nina Canell oder Attila Csörgö in ihren ebenfalls skulpturalen Arbeiten und rekurrieren in ihrer experimentellen Formensprache auf genau ­diese gesellschaftlichen Bereiche. Oft erinnern die Werke in ihrem Aufbau an wissenschaftliche Versuchsanordnungen. So zu beobachten z. B. an Nina Canells „Anatomy of the Rising Tide“ (2010). Attila Csörgö unternimmt Experimente mit selbstkonstruierten Maschinen und optischen Apparaturen, wie bei seiner Arbeit für die diesjährige documenta 13 „Squaring the Circle“ (2012) und Micol Assaël erforscht für ihre Installationen vergessene Gebiete der Wissensproduktion wie die Forschungen des russischen Wissenschaftlers Alexander Chizhevsky, der Pate für ihre Ausstellung „Chizhevsky Lessons“ in der Kunsthalle Basel 2007 stand. Auch diese Künstler präsentieren ihre Werke oft als räumliche Assemblagen.

Ein dritter wichtiger gesellschaftlicher Themenbereich für die Kunstproduktion im skulpturalen Bereich scheint zudem die Ökologie bzw. die Auseinandersetzung mit Naturphänomen zu sein, wie sie von Künstlern wie Tue Greenfort etwa in seiner aktuellen Ausstellung („Gasag Kunstpreis 2012“) in der Berlinischen Galerie vorgenommen werden.
Die Rückgriffe auf historische Ausdrucksformen wie Readymade und Assemblage sind im Bereich der zeitgenössischen Skulptur besonders auffällig.
Im Gegensatz zu den eher klassischen Medien scheinen im großen Bereich filmischer und fotografischer Ausdrucksfor­men die Möglichkeiten, mehr oder weniger direkte Gesell­schaftsbezüge zu integrieren, häufiger. Hier fallen Fotografen wie Tobias Zielony auf, der für seine Arbeit jugendliche Randgruppen mit der Kamera begleitet und in Fotoanimationen wie „Le Vele di Scampia“ (2009) auch mit dem Prinzip des Collagierens arbeitet: dem Montieren von Einzelbildern.

In ihren filmischen Arbeiten spielen zudem Künstler wie Cyprien Gaillard oder Haris Epaminonda mit kultur­historischen Themen: archäologische Stätten und Architek­turen fungieren hier als Statthalter von Gesellschaft. Es sind Motive, die zugleich Urbanität im speziellen und Menschheitsgeschichte(n) im allgemeinen Sinne versinnbildlichen. Auch hier wird Aktuelles in Bezug auf Vergangenes verhandelt.
Unter den oftmals vergangenheitsbezogenen Oberflächenstrukturen zeitgenössischer Werke tauchen somit durchaus auch gesellschaftlich relevante Themen wie Ökologie, Wissensproduktion, Urbanität oder Sozialkritik auf. Implizite Kritik wird dort jedoch nicht mehr künstlerischen Manifesten oder Utopien folgend gestaltet, sondern in individuellen künstlerischen Produktionen entwickelt, basierend auf spezifischen Interessensmustern. Die auffällige Rückbesinnung auf vergangene Epochen und historische Formensprachen könnte man als Sehnsucht nach einer (alten) Welt interpretieren, in der Ordnungen und Meinungen (wieder) erkennbarer werden. Vielleicht stehen Motive wie die von archäologischen Stätten oder die Referenzen auf die Avantgarden des 20. Jahrhunderts mit seinem Fortschrittsgedanken aber auch nur für Ideen, die dekonstruiert werden wollen und müssen, um Neues entstehen zu lassen.
Die heutigen künstlerischen Äußerungen sind somit zwar scheinbar weniger radikal, aber vielleicht ist das sorgfältige Weben künstlerischer Texturen sogar nachhaltiger als etwaige radikale Gesten – jedoch aber nur dann, wenn über Relevanz und Inhalte auch diskutiert und kommuniziert wird. Hier sind vor allem die Kunstkritik gefragt sowie die Ausstellungsstätten, die konsequenter jene zu Grunde liegenden Referenzen von Kunstwerken erklären und offenlegen sollten, um wirklich fruchtbare und vielleicht auch manchmal schmerzhafte Diskussionen zu ermöglichen. Meinungsbildungsprozesse sind nötiger denn je, um die vorhandene Vielgestaltigkeit zu durchdringen. Denn nur über Kommunikation können wir das Verhältnis zur Welt begreifen und die bestehenden gesellschaftlichen Zusammenhänge ordnen – wenn nötig auch neu.

siehe auch:
—Melanie Franke „Fun-de-siècle: Die Nuller“, von hundert 11/2007, www.vonhundert.de/index.php?id=84
—Andreas Koch, „Die Dekade der Nuller“, von hundert 7/2008,
www.vonhundert.de/index.php?id=126
—Dominik Sittig „Am Mauerpark. Ein Zwischenspiel“, von hundert 12/2011, www.vonhundert.de/index.php?id=374
—Barbara Buchmaier, Andreas Koch, Peter K. Koch „Von der
Appropriations-Kunst über die Bezugs-Kunst zur Netzwerk-Kunst“ von hundert 4/2012, www.vonhundert.de/index.php?id=410


Collage: Andreas Koch (Verwendung von Motiven von Ribbeck, Wieser, Dobliar, einem Porträt von Steiner und Cover „Das Buch der 1000 Wunder“ von Fürst-Moszkowski, dieses wiederum gecovert von Ribbeck, Wieser, Dobliar) (© )
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