Martin Honert

Hamburger Bahnhof

2012:Dec // Andreas Koch

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12-2012

















Im Keller des Lebens
/ Martin Honert im Hamburger Bahnhof

Eigentlich ist das Leben eine Mogelpackung. Fängt es an, erscheint es einem unendlich. Selbst in jüngeren Erwachsenenjahren ist die Zeit noch ein schwer fassbares Phänomen, alles scheint möglich. Erst später dann dämmert einem langsam, dass es so lange gar nicht ist, das Leben. Die eigene Endlichkeit schiebt sich ins Bewusstsein. Man ist ja nicht blöd und kann hochrechnen: die letzten zehn Jahre vergingen wie im Flug und jetzt ist schon bald wieder Weihnachten.
Martin Honert ist ein Künstler, der sich ausschließlich und exzessiv mit seiner Kindheit beschäftigt, die er in einer Vielzahl von dreidimensionalen Bildern heraufbeschwört, als wolle er sie festhalten und wieder in sie zurückkriechen. Wie ein Aufklapp-Bilderbuch präsentiert sich seine Ausstellung in der zentralen Halle des Hamburger Bahnhofs. Die titelgebenden Kinderkreuzzügler – teils gemalt, teils in Plastik geformt und bunt angemalt – kommen buchstäblich aus der Ausstellungswand herausgelaufen. Der etwas klein geratene Englischlehrer schaut streng und grau von der Seite zu. Ein Plastiklagerfeuer brennt, eine übergroße Straßenlaterne leuchtet, zwei Riesen stützen sich auf ihre Wanderstäbe. Es ist eine Märklin-Welt, die sich da vor einem aufbaut. Man blickt wie auf herausgelöste und vergrößerte Bauteile einer Modelleisenbahnlandschaft.

Genau dieser Blick, diese Gabe eines Kindes, sich in eine imaginierte Landschaft hineinzuträumen, in ein paar Sandhaufen die Welt zu entdecken, in einer Geschichte komplett unterzutauchen, in etwas Spielzeug alles mögliche Leben zu projizieren, diese uns Erwachsenen immer mehr verloren gehenden Fähigkeiten, sind das große Thema Honerts. Seine Kunst trifft auf einen erwachsenen Kunstbetrachter, der die Sehnsucht Honerts nachvollziehen kann, der aber, sei es aufgrund seines eigenen fortschreitenden Alters, oder aufgrund anderer kultureller Herkunft – räumlicher oder zeitlicher –, vielleicht aber wegen der extrem ausformulierten, klaren Bildsprache, merkwürdig unberührt bleibt. Aber das ist nicht schlimm.
Honert ist Fritz-Schwegler-Schüler, genau wie Thomas Demand, Thomas Schütte, Katharina Fritsch oder Judith Samen und das überdeutliche, wie freigestellt wirkende Kunstvokabular teilt er sich mit seinen ehemaligen Kommilitonen. Allen gemeinsam ist die Kunstsozialisation in den achtziger Jahren, als die Welt noch klarer erschien. In Museen sind die Arbeiten der Schwegler-Schüler immer wohltuende Bojen im seitdem ausmäandernden Kunstkosmos. Zwischen all den uneindeutigen, hermetischen, pseudo-romantisch-poetischen, neuexpressiven und referenzaufgeladenen Arbeiten der jüngeren Generationen schaffen deren Skulpturen und Fotoarbeiten doch zumindest eins – eine Beziehung zur Nichtkunstwelt, eine modellhafte Gegenüberstellung zu unserer Existenz.

Während Demand in die große Kiste des kollektiven Gedächtnisses greift und Schlüsselbilder unserer uns vor allem medial übermittelten Geschichte nachbaut, ist Martin Honerts Beschränkung auf seine eigene Kindheit sicher neurotischer. Aber deshalb gelingen ihm, wie zum Beispiel mit der Arbeit „Photo“ von 1993, in der er ein Familienphoto mit sich und exklusive der restlichen Familie als 1:1-Skulptur nachbaut, sehr eindrückliche, lange nachhallende Bilder auch über uns selbst und unsere verschütt gegangenen Gefühle vergangener Jahre. Das klingt jetzt pathetischer als die Skulpturen sind. Dazu sind sie zu spielerisch, versponnen und leicht, etwa die in groß nachgebauten Ritterkinderzeichnungen, mit der präzisen Übersetzung einer ungelenken Kinderhand samt allem überbordenden Kampfgeschehen, inklusive eines Kanonenkugelklopses, in transparentem Plastik schwebend, das auf der Zeichnung wohl der Pulverrauch war.
Nach einem Besuch der Ausstellung Honerts also graben auch wir wieder im Keller unserer Erinnerungen. Sie sind das Einzige, was uns wirklich bleibt. Die Träume und Projektionen des Kindes rauschten durch das unendlich kleine Fenster der Gegenwart und landeten dann dort tief unten zusammen mit dem Rest der erlebten Zeit. Martin Honert hilft uns dabei, aus der Mogelpackung etwas mehr rauszuholen.
   
Martin Honert „Kinderkreuzzug“, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Invalidenstraße 50–51, 10557 Berlin, 7. 10. 2012–7. 4. 2013
Martin Honert „Ritterschlacht“, 2003 (© Nina Mentzel)
Kinderzeichnung von Martin Honert, Ausschnitt © VG Bild-Kunst, Bonn 2007 (© )
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